August 5, 2025 1:31 PM
Paul Stephan
Vielen Dank auch für Ihr Kommentar. Ich hätte meinem Artikel vielleicht noch mehr Belege beifügen können, doch es handelt sich ja um keinen Fachaufsatz und dass die polnische Adelsrepublik den Untergang Polens direkt bewirkt aufgrund der von mir beschriebenen konstitutionellen Schieflage kann man in allen einschlägigen Publikationen zu ihrer Geschichte nachlesen.
Nur deshalb wurde ja die Verfassung von 1791 verabschiedet. Diese war in der Tat wegweisend und setzte u. a., wie von mir beschrieben, die Vorschläge Rousseaus um. Aber lesen Sie nur einmal die Schrift von Rousseau über die polnische Verfassung. Dort wird die Korruption und Anarchie der Adelsrepublik drastisch geschildert und eine Beseitigung des "liberum veto" vehement eingefordert (neben vielen weiteren Maßnahmen). Und Rousseau vertritt hier keine Sondermeinung, sondern den Konsens unter den Intellektuellen des 18. Jahrhunderts.
Was meinen Sie denn, warum die Adelsrepublik unterging, wenn sie so eine großartige Verfassung hatte? Dafür gab es natürlich externe Faktoren - wie die schwierige Mittellage Polens -, aber eben auch intrinsische.
Wobei das "liberum veto" an sich nicht das Problem ist, wie auch Rousseau betont. Eigentlich ist es ja eine gute Idee. Es entspricht auch meinem Ideal einer vollendeten Demokratie. Aber es funktioniert nicht in einer antagonistischen Gesellschaft und wenn dieses Recht systematisch missbraucht wird, um den Staat von innen heraus zu zerstören wie es in Polen geschah. Das ist auch der Kernpunkt von Rousseaus großartiger Schrift: Um Polen zu retten hätte es aus seiner Sicht nicht nur einer politischen, sondern einer umfassenden gesellschaftlichen und kulturellen Neuordnung bedürft.
Aber klar, man kann gegen meine Argumentation natürlich einwenden, dass sie sehr "realpolitisch" ist. Nietzsche geht es ja gar nicht um politische Stabilität, der bewundert die polnische Verfassung eher aus seinem Ästhetizismus heraus.
Ich halte die Adelsrepublik für ein spannendes und lehrreiches politisches Experiment, für das Polen auf jeden Fall ein Ehrenplatz in der Geschichte der Verfassungen gebührt. Aber lehrreich leider im negativen Sinne (wenn man an den Rousseau'schen politischen Realismus anknüpft).
noch-ist-polen-nicht-verloren
August 4, 2025 8:07 PM
Nina Maria
Die Angaben zur polnischen Adelrepublik als korrupte Anarchie sind objektiv verkehrt und wirken erzwungen. Polen war damals in der gesamten europäischen Aristokratie stark verankert, zahlreiche Königshaus, allen voran die Franzosen, hatten oft polnische Ehefrauen. Darüber hinaus wurde in Polen am 3. Mai 1791 vom Sejm die erste geschriebene Verfassung Europas verabschiedet und sah die klassische Gewaltenteilung in Judikative, Exekutive und Legislative vor. Sie entstand unabhängig von der etwas späteren Verfassung in Frankreich aus demselben Jahr. In Hinblick auf die geschichtlich wiederkehrende Notwendigkeit der Verteidigung der schieren Existenz Polens und seiner Menschen, als geopolitische Brücke Russlands und Preußens und die gleichzeitige Beständigkeit sowie das europäische Zugewandtsein der Polen ist Nietzsches Faszination durchaus nachvollziehbar.
noch-ist-polen-nicht-verloren
July 9, 2025 1:55 PM
Paul Stephan
Diese Trump-Kritik ist mE mit keinem besonders hohen Risiko verbunden. Eher im Gegenteil beruht der unglaubliche Erfolg von Swift doch genau darauf. Diese Positionierung finde ich auch erstmal sympathisch, aber es bleibt halt alles sehr oberflächlich, den Worten von Estella kann ich da kaum etwas hinzufügen.
Und genau: Diese (Re-)Politisierung der Mainstream-Popkultur ist schon bemerkenswert. Wir leben eben generell in politisierten Zeiten. Aber im Vergleich zu den 60er/70er Jahren nimmt sie sich ja schon sehr zurück. Ihre Songtexte sind fast nie politisch, sondern behandeln individuelle Lebenskrisen und Beziehungsprobleme.
Zum Fankult:
Stimmt, vielleicht treibt uns da ein von Nietzsche geerbtes Vorurteil. Wenn Leute sich verschulden, um zu den Bayreuther Festspielen zu fahren, würden wir das vielleicht anders darstellen. Wobei ich den bürgerlichen Geniekult auch kritisieren würde. Mir ist so etwas generell suspekt und würde doch stark zwischen Bewunderung und Fankult unterscheiden wollen.
taylor-swift
July 9, 2025 11:52 AM
mma
Taylor Swift hat sich politisch gegen Trump und Co positioniert in einem politisch-kulturell angespannten Klima. Superstar Michael Jordan tat das 1990 nicht. Seine Antwort: "Republicans buy shoes, too."
Hochkultur funktioniert doch über Bewunderung: Übende Imitation der Großartigkeit und mögliche geniale Variation. Warum ist moderne Fankult als suspekte Führerfaszination zu deuten?
taylor-swift
July 9, 2025 11:38 AM
mma
"Doch ihre intrinsische Motivation, der Kern ihres Geschäftsmodells, basierte auf der Bewirtschaftung von Ressentiments." Sehr gut.
splendid-isolation-stiff-upper-lip
June 27, 2025 8:42 PM
Margit Jordan
Ein kühner vielschichtiger Artikel, der Nietzsche mit KI und deren Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten ausleuchtet; jedoch auch die Gefahren in der Ausgeliefertheit an die KI und ihre Hybris aufzeigt. Eine weltweite Supermacht beginnt sich in dieser neuen Technik zu formieren mit Scheinwahrheiten, die einer klaren Kritik zu unterziehen sind.
mit-nietzsche-die-kunstliche-intelligenz-befragen
June 27, 2025 8:35 PM
Paul Stephan
Ein toller Artikel! Ich denke, Techno ist noch kein reines Phänomen der Vergangenheit, aber klar, die "fetten Jahre sind vorbei". Neben dem Corona-Cut würde ich als wesentlichen Faktor die gestiegenen Preise für alle genannten kulturellen Aktivitäten ausmachen. Klar, es gibt immer noch Raves und private Hausparties, die nicht viel kosten, aber Konzerte, Kneipenbesuche und Besuche in regulären Clubs dürften für heutige junge Leute ja kaum mehr bezahlbar sein, wenn dann auch noch die Mieten und allgemeinen Lebenshaltungskosten permanent steigen. Das hat sich schon gravierend geändert, wenn ich das mit meiner eigenen Jugend und Studienzeit vergleiche.
nietzsche-und-techno
May 29, 2025 6:28 PM
Redaktion
Kleiner Nachtrag: Die Zensur geht so weit, dass wir den Hinweis auf diesen Artikel auf dem YouTube-Kanal der HARP zunächst nicht hochladen konnten, weil zwei der Bilder im Dateinamen den Ausdruck "Die Jungfrau züchtigt" enthielten. (Wobei es absurderweise mit dem Dateinamen "Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen_ André Breton, Paul Éluard und dem Maler" keine Probleme gab.)
mit-nietzsche-die-kunstliche-intelligenz-befragen
March 22, 2025 6:11 PM
Theodor Schild
Sehr inspirierender Beitrag, Kompliment!
mit-nietzsche-im-gepack-durch-sudostasien-ii
March 22, 2025 7:55 AM
Tana
Endlich die ersehnte Fortsetzung, die Lust auf mehr macht. Asien gewinnt definitiv an Attraktivität, auch und insbesondere durch Nitzsches Augen und die der Autorin. Gut gelungen. Erneut.
mit-nietzsche-im-gepack-durch-sudostasien-ii
March 16, 2025 1:57 PM
Rolf
Was für ein Kommunismus, der so wenig bürokratisch erscheint und der einen Dialog mit den Ahnen erlaubt! Und in welcher bürokratischen Welt leben wir, in der die Flächen für Tische und Stühle auf den Gehwegen abgemessen und genehmigt werden müssen, was Wochen dauern kann.
mit-nietzsche-im-gepack-durch-sudostasien-i
March 7, 2025 12:57 PM
Claus
Bei den Göttern! Natalie Schulte nimmt uns mit in eine Welt, in der Menschen einfach über die Straße gehen – und es überleben. Eine Welt, in der niemand seinen Nachbarn anzuzecken scheint, wenn dieser – eigentlich Klempner – heute Abend den Koch gibt. Wo soll das alles bloß noch hinführen? Freue mich auf die Fortsetzung dieses außergewöhnlichen Reiseberichts.
mit-nietzsche-im-gepack-durch-sudostasien-i
March 6, 2025 11:00 AM
Tana
Ein toller Bericht. Gerne mehr davon. Ich bin gespannt. 🤩
mit-nietzsche-im-gepack-durch-sudostasien-i
February 17, 2025 10:14 AM
Redaktion
Eine ausführliche Einzelbesprechung des "neuen Buches" von Foucault, verfasst von Paul Stephan, finden Sie auch hier:
https://widerspruch.com/2025/01/27/foucault-der-diskurs-der-philosophie/
diskurs-macht-wahn
February 10, 2025 12:15 PM
Redaktion
Mittlerweile erschien ebenso eine von Paul Stephan verfasste ausführliche Solobesprechung des Buches von Karsten Schubert im "Widerspruch": https://widerspruch.com/2025/02/03/schubert-lob-der-identitaetspolitik/
nietzsche-im-kreuzfeuer-des-kulturkampfs
February 10, 2025 12:11 PM
Paul Stephan
Vielen Dank für Ihr Kommentar.
Sie haben Recht, ich bin mir dieser Bemerkung möglicherweise über mein Ziel hinausgeschossen. Was ich sagen will, ist vor allem, das die von Nietzsche selbst angeführten Beispiele Kopernikus und Chopin nicht funktionieren, um zu belegen, dass die Zeit der Adelrepublik eine der "kulturellen Blüte" gewesen ist.
Das Problem ist aus meiner Sicht eigentlich, dass Nietzsche eben nur ästhetische Kriterien zur Beurteilung politischer Systeme anführt. Dann wird's natürlich eine Frage des Geschmacks und was man selbst als Kennzeichen einer "hohen Kultur" ansieht. Wenn man Nietzsches Gesamtwerk überblickt, zeigt sich auch sehr schnell, dass er da selbst immer wieder schwankt.
Was Sie zur polnischen Kultur dieser Zeit und zu Chopin bemerken, sind wichtige Richtigstellungen zu meiner Darstellung!
Doch was Chopin angeht, bleibt eben die Frage, ob man jemanden wirklich als Beispiel für die "Größe der polnischen Kultur" anführen darf, der einen französischen Vater hatte und in Frankreich lebte, selbst wenn er sich subjektiv mit Polen identifizierte. Aber das zeigt vor allem die Beschränktheit des nationalistischen Kulturdiskurses an. Gerade die größten kulturellen Schaffenden zeichnen sich doch dadurch aus, dass es Wandler zwischen den Kulturen, Kosmopoliten und vor allem Individuen sind. Und das ist an vielen Stellen auch Nietzsches eigenes Verständnis. Man denke nur an Nietzsche selbst, der aus Preußen kam, in Sachsen studierte, dann staatenlos war und das Deutsche Reich mied.
Dass es in der Zeit der Adelsrepublik wichtige und bemerkenswerte kulturelle Entwicklungen gab, möchte ich überhaupt nicht leugnen. Die Frage wäre eben, ob es sich um eine *außerordentliche* kulturelle Blüte handelte, wie es Nietzsche an dieser Stelle behauptet, da bin ich mir nicht sicher ...
noch-ist-polen-nicht-verloren
February 6, 2025 5:22 PM
Henio herbu Rodo
Also, daß die Polnisch-Litauische Adelsrepublik nicht eine Zeit der kulturellen Blüte war ist absolut falsch und ich vermute, daß diese Aussage dazu dient, Nietzsches "phantasie" noch unbegründeter scheinen zu lassen. Es passt sozusagen zum Fazit. Kennen Sie aber nur Chopin und Copernicus?
Die Polnisch-Litauische Adelsrepublik kannte große Dichter wie Jan Kochanowski, Ignacy Krasicki (Hören sie das Lied Święta Miłości), Franciszek Karpińksi (Bóg się rodzi), Staatsmänner wie Jan Zamoyski und viele andere.
Außerdem entstand damals die einzigartige Polnische Kultur des Sarmatentums, mit der einzigen Nationalen Tracht (Kontusz), Musik (Polonaise, Mazur usw.) Natürlich war es eine Krieger und Dichterkultur und es war eine wahrhaftig große Blüte.
Chopin seinen Polentum abzusprechen ist auch lächerlich, er ist hauptsächlich für seine Polen gewidmete Werke bekannt, also die Polonaisen, die schon vor ihm rein Polnisch waren, die Revolutionäre Etüde die vom 1830er Aufstand handelt und seine Heimat war immer hauptsächlich Polen. So sehr, daß er wollte, daß sein Herz in Warschau bestattet wird.
Außer dem Oberen hat mich dieser Artikel sehr gefreut, und ist sehr schön geschrieben.
Mit liebsten Grüßen.
- Ein Sarmatischer Nietzscheaner.
noch-ist-polen-nicht-verloren
January 14, 2025 10:28 AM
Redaktion
Den Aphorismenwettbewerb (s. u.) gewannen zwei Einsender, wir gratulieren und bedanken uns recht herzlich!
Hier ihre Aphorismen:
„Die Waffe gegen dich zum Werkzeug machen, und wenn’s nur ein Aphorismus wird.“
(Elmar Schenkel)
„Die Apokalyptik der Identität als Projekt. – Furcht und Zittern im Rückzug auf das Partikulare – zirkeln zwischen Sinn und Zwang. Bedingt die Verdrängung der Allgemeinheit die Autoaggression; die Reduktion der Zukunft, die Rückkehr des Tabus – oder umgekehrt? Zur ‚Republik des Universums‘ sprach also der Philosoph des Mythos: ‚fear knows only how to forbid, not how to direct‘.“
(Sascha Freyberg)
nietzsche-im-kreuzfeuer-des-kulturkampfs
December 19, 2024 5:57 PM
Redaktion
Eine ausführliche Solobesprechung des Buches von Rochedy aus der Feder von Paul Stephan erschien an anderer Stelle: https://widerspruch.com/2024/11/22/rochedy-nietzsche/
nietzsche-im-kreuzfeuer-des-kulturkampfs
November 27, 2024 11:44 PM
Redaktion
Dieser Artikel wird Sie sicherlich zu Gedanken provozieren. Aus diesem Grund nehmen wir ihn zum Anlass zu einem kleinen Wettbewerb. Schreiben Sie bis zum 7. 12. einen Aphorismus, zu dem Sie dieser Artikel inspiriert hat. Er soll nicht länger als fünf Sätze lang sein.
Die fünf besten Aphorismen veröffentlichen wir in unserer Rubrik "Darts & Donuts" und prämieren sie mit einem der folgenden Bücher zum Thema:
- Markus Kotzer (Hg.): Wenn Argumente scheitern. Aufklärung in Zeiten des Populismus (Paderborn 2018)
- Paul Stephan: Bedeutende Bärte. Eine Philosophie der Gesichtsbehaarung (Berlin 2020)
- Paul Stephan: Links-Nietzscheanismus. Eine Einführung, Bd. 1: Nietzsche selbst (Stuttgart 2022)
- Alfred Betschart (Hg.): Demokratie in der Krise. Die politische Philosophie des Existentialismus heute (Frankfurt a. M. 2017)
Sowie das besprochene Buch von Karsten Schubert.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen und wir können leider nicht garantieren, dass Sie ihr Wunschbuch erhalten, da wir von jedem nur ein Exemplar vorrätig haben.
Wir freuen uns auf Ihre Einsendungen!
nietzsche-im-kreuzfeuer-des-kulturkampfs
November 10, 2024 9:09 PM
Moritz
Liebe Natalie,
Ich freue mch, das dir und deiner Gemeinschaft des Glaubens mein "Gruß aus der Küche" meines Denkens, das sich jetzt endlich als einen radikal freien, christlichen, atheistischen, und doch religiösen, und gleichzeitig radikal autonomen, und doch unfreien, differenzierten, aber auch, fragmentierten, postmodernen, obszönen... und manchnmal, sehr selten, auch wahren Denkentwurfs, der sich gefunden hat, und es wert ist, eben so zu formuliert werden, begreift. Er hilft mir beim denken, sprechen, und leben seitdem sehr. Auch wenn es manchmal länger dauert, einen Satz zu formulieren, der richtig darauf verweist, dass er aus dem Leben, und eben nicht aus der Konserve, stammt. Schreib mir gerne eine kurze Mail, damit ich, zumindest in dieser technischen Hinsicht, den Adressaten des weiteren Gesprächs, nicht verfehle ;-)
ist-nietzsche-ein-pubertatsphilosoph
November 10, 2024 1:37 PM
Natalie Schulte
Der konkrete Andere – eine feine Antwort, bei der man sich nicht unbedingt Rückenwind von Nietzsches Philosophie erhoffen kann und vielleicht ja auch gar nicht will. Dennoch scheinen mir die Anderen und die Sehnsucht zu ihnen in seiner Philosophie nicht fern zu sein. Nietzsche lässt seinen Zarathustra zur Begründung seiner Rückkehr zu den Menschen dem alten Heiligen in seinem Walde erwidern: „Ich liebe die Menschen.“ Aber ob es im Zarathustra überhaupt nur einen einzigen konkreten Anderen gibt? Vermutlich nicht.
Der Andere ist stets gefährlich, mit seinem Lob und seinem Mitleid, mit seinem Spott und seinen Erwartungen. Als Liebender zu nah, als Sonne zu fern. Die Frage nach dem richtigen Distanzverhältnis geht selten gut aus.
Ganz sicherlich ist das Credo „Erlösung durch den konkreten Anderen“ zu suchen, ein wahrhaft gefährliches und daher auch tüchtig spannend. Ich bin mir sicher, da hätte der alte Mann, der bei dir als zweites auf dem Thron saß, dir auch einmal auffordernd – oder ironisch – zugezwinkert. Und was mich anbelangt, wer weiß, vielleicht kannst du dir die Antwort imaginieren.
Ich freu mich auf jeden Fall von dir zu hören und was gibt es schon spannenderes als eine philosophische Beichte, einen philosophischen Verrat?
ist-nietzsche-ein-pubertatsphilosoph
November 8, 2024 7:25 PM
Moritz Kleefeld
Mir begenete Nietzsche, bevor ich ihn in die Welt der Schlafzimmerlektüre einlassen konnte, als toller Mensch.
Bis dahin katholisch erzogen, trieb mich die Frage nach dem Glauben und der Nächstenliebe, die in der Kirche als Antwort in Ritualen zu mir sprach, um.
Genauergesagt ergaben sich aus den Antworten der Kirche Fragen, die mir nicht möglich waren zu formulieren.
Nietzsche war für mich ein Raüberkumpan, der mir half, Gott vom Thron zu stoßen, indem er mir als Antwort auf das Enigma "Gott ist tot" ein "Wir" anbot. "Und wir haben ihn getötet."
Und so schlug ich ein, und wir mordeten Gott gemeinsam.
Dieser Mordpakt mit Nietzsche, den ich damals als innerlich schloß, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.
Den Spott des alten Mannes im Kopf der Autorin gönne ich ihr und ihm ehrlich. Nichts anderes hat diese christliche Geste, diese eigene kleine Beichte zu Nietzsche, in seinen Augen verdient.
Den Wortlaut mag sich der Leser bei Bedarf selbst formulieren.
Mein eigenes Studium lässt zusammenfassen als ein Erkunden von Ernst Bloch, von dem ich mir Rat holte, wie mit der Situation umzugehen war.
Denn als ich da so mit Nietzsche stand, vor dem leeren Thron Gottes, setzte er sich von uns beiden zuerst darauf, und ich sah zum ersten mal jemand anders auf diesem Thron sitzen.
So, wie der alte Mann, der schon lange tot ist, der Autorin trotzdem immer noch im Kopf sitzt, und manchmal seinen Senf dazu gibt, so habe auch ich ihn als Kommentator bei mir getragen.
Heute würde ich sagen, ich habe ihn vom Throhn verbannt, zumindest die letzte Konsequenz, sich der Nächstenliebe zu entsagen. Ganz weg ist er nicht.
Ich habe mich nach dem Studium entschlossen, mit Nietzsche und den alten Räuberfreunden im Gepäck, als Bruder Tuck, dessen Theologische und Philosophische Ausbildung fraglich sind,meine Erlösung im konkreten anderen, der mir begegnet, zu suchen, und das zu tun, was ich bis dahin gelernt hatte:
Den Umgang mit dem leeren Thron, und denen die sich darauf zu lange selbst setzen, bis sie sich mit dem alten Mann verwechseln, der da, so sagt man, mal saß.
Der, den ich jetzt an seiner Stelle auf den Throhn gesetzt habe, gibt mir meine eigene, liebgewonnene Kommentarspur dazu ab - sogar bei der Lektüre Nietzsches.
Er hat mich gelehrt, wenn ich zu Nietzsche gehe, die Peitsche nicht zu vergessen.
Ich weiß heute nicht mehr genau zu erinnern, in welchen Seminaren ich der Autorin in meiner Freiburger Zeit begegnet bin, meine aber, dass wir das selbe Seminar zur "Dialektik der Aufklärung" besucht haben. An die Gespräche mit ihr erinnere ich mich jedenfalls gern zurück.
Die Wette von Pascal auf Gott, die Sie mir seinerzeit in einem gemeinsamen Lesekreis erklärt hat, ist mir dagegen sehr gut und oft als eines zahlreicher Schlüsselerlebnisse in Erinnerung, die mich mit Bloch über Nietzsche hinaus zu Žižek, Lacan und Hegel trieben.
Die Wirren der Konflikte im gemeinsamen Freundeskreis haben leider dazu geführt, dass wir uns vor mehr als zehn Jahren, den gegenseitigen Respekt uns versichernd, höflich distanziert haben.
Der öffentlichen, christlichen Beichte muss hier also vielleicht noch die persönliche, atheistische folgen - die meines Verrats an Nietzsche.
Diese bin ich dir, liebe Natalie, und ihm, der dann ja eh immer zuhört, jederzeit bereit, nichtöffentlich nachzureichen.
Zur Fachdebatte über Nietzsche habe ich jedenfalls, jenseits der umrissenen Denkbewegungen, nichts wichtiges beizutragen.
ist-nietzsche-ein-pubertatsphilosoph
October 24, 2024 6:56 PM
Iryna
Thank you a lot for the idea of such an interesting conversation. Revealing the context of Nietzsche's philosophical methodology in the Ukrainian socio-cultural context is an important and little-studied topic. It seems especially interesting to study how the intellectual and artistic elite managed to implement these ideas in their work during the Soviet era. Thank you very much again!
nietzsche-und-die-ukraine
October 23, 2024 1:40 PM
Helmut Walther (Nürnberg)
An Autor und Redaktion herzlichen Dank für diesen so informierenden wie excellent formulierenden Beitrag zum Verhältnis von Nietzsches „Übermenschen“ und dem Transhumanismus. Die Kritik des Autors am Fortschrittsoptimismus dieser Richtung, der sich keinesfalls mit der zweifelnd-verzweifelten Suche Nietzsches nach der „Überwindung des Nihilismus“ zusammendenken lässt, bringt es auf den Punkt: Hier soll uns „alter Wein in neuen Schläuchen“ angedreht werden; eine Gefahr, welcher sich allerdings auch Nietzsches „Übermensch“ in anderer Weise aussetzt, wenn er sich in die Obhut der „Vernunft des Leibes“ unter Zurückweisung der reflexiven Rationalität begeben will.
Vielleicht noch ein Literaturhinweis: Die Gesellschaft für kritische Philosophie (www.gkpn.de) hat bereits im Jahr 2015 mit der Herausgeberschaft von Stefan Lorenz Sorgner ein Schwerpunktheft zum „Transhumanismus“ herausgebracht, dessen Inhalt mit dem Link https://alt.gkpn.de/aufklaerung_und_kritik_m.htm#heft_54_3_2015 einsehbar ist.
seht-ich-lehre-euch-den-transhumanisten
October 21, 2024 9:57 PM
Helmut Heit
Liebe Estella Walter, herzlichen Dank für diesen sehr anregenden und klugen Text - und natürlich auch für die freundliche Verwendung meiner Arbeit darin, auch wenn ich bei der Gelegenheit an die Verbindung zwischen Nietzsche und Marx nicht gedacht habe. Denn sonst bin ich schon lange davon überzeugt, dass man mit einer Verbindung dieser beiden Denker des 19. Jahrhunderts vieles beisammen hat, um unsere bekloppte Gegenwart zu begreifen. Sie zeigen das überzeugend am Begriff der Entfremdung.
lieber-das-nichts-wollen-als-nicht-wollen
October 15, 2024 11:11 PM
Paul Stephan
Danke für Ihr Lob des Artikels. Ich teile Ihre Einschätzung weitestgehend und Sie stellen genau die richtigen Fragen, die wir uns auf diesem Blog noch wiederholt zu stellen haben: Wie umgehen mit dem späten Nietzsche (ab dem 2. Band des "Zarathustra", würde ich sagen)? Wie den Begriffen "Übermensch" und "Überwindung des Nihilismus" einen positiven Sinn im Sinne eines emanzipatorischen Humanismus und Individualismus geben? Ich denke, das ist durchaus möglich, aber nicht ohne eine Kritik des Spätwerks. - Ein Hinweis noch: Über den Transhumanismus wird es genau nächste Woche gehen!
ein-gottertisch-fur-gottliche-wurfel-und-wurfelspieler
October 15, 2024 8:15 PM
Helmut Walther (www.f-nietzsche.de)
Kompliment an die Autorin Natalie Schulze für diesen Artikel, der den Spuren des „Übermenschen“ gerade auch in unseren Zeiten nachgeht, obwohl von den utopischen Zukunftshoffnungen der „Transhumanisten“ darin gar nicht die Rede ist. Vielmehr deckt ihr Text mögliche Ausdeutungen der Forderungen Zarathustras auf, die eben auch bei dessen Autor zumindest vordergründig recht eindeutig angelegt sind, wie dies ja ebenfalls für dessen Ausführungen zum „Willen zur Macht“ gilt, die sich recht leicht im „Dritten Reich“ entsprechend ausbeuten ließen. Zu Recht werden diese einseitigen, so geistlosen wie am materialisitschen Nutzen orientierten Auswüchse kritisiert.
Woran aber liegt es, dass sich Nietzsches Aussagen zum „Übermenschen“ wie zum „Willen zur Macht“ so leicht missbrauchen lassen - dazu hören wir leider nichts, obwohl der tiefer liegende Grund doch gut erkennbar ist: Es ist die Abwendung von der reflexiven Vernunft hin zu einer „sinnlichen Vernunft des Leibes“, hin zu einem freigelassenen „dionysischen Spiel der Triebe“ zusammen mit einer Verurteilung aller zivilisatorischen Hervorbringungen der menschlichen Vernunft von der griechischen Philosophie seit Platon über das Christentum und die reflexiv-philosophischen Errungenschaften der Aufklärung bis heute. Bildlich gesprochen: Nietzsche zieht Achilles dem Odysseus bei weitem vor: stärkerr, schneller, höher – und heute vor allem „reicher“.
Offen bleibt denn auch im Text zuletzt, was Nietzsche selbst eigentlich mit dem „Übermenschen“ sagen wollte; nur der allerletzte kleine Absatz gibt einen Hauch von Ahnung davon, dass Nietzsche damit doch etwas anderes gemeint habe. Was aber meint konkret die „Überwindung des Nihilismus“?
ein-gottertisch-fur-gottliche-wurfel-und-wurfelspieler
October 10, 2024 7:18 PM
Olga Pavlyk
Vielen Dank für so ein sinnvolles und interessantes Interview! Besonders dankbar bin ich für Ihren besonderen Hinsicht mit dem ukrainischen Hintergrund (da habe ich wirklich viel Neues entdeckt und mir darüber Gedanken gemacht) und Ihre künftigen Pläne. Es wäre wirklich toll, wenn sie in Erfüllung gehen würden!
nietzsche-und-die-ukraine
October 9, 2024 6:11 AM
Oleksandr
It is important that the author comprehends the Ukrainian contexts of Nietzsche's resonances. It is valuable that not only academic, but also socio-cultural and aesthetic contexts of the problem and the connection with today's challenges are taken into account. Thanks for the interesting article.
nietzsche-und-die-ukraine