November 27, 2024 11:44 PM
Redaktion
Dieser Artikel wird Sie sicherlich zu Gedanken provozieren. Aus diesem Grund nehmen wir ihn zum Anlass zu einem kleinen Wettbewerb. Schreiben Sie bis zum 7. 12. einen Aphorismus, zu dem Sie dieser Artikel inspiriert hat. Er soll nicht länger als fünf Sätze lang sein.
Die fünf besten Aphorismen veröffentlichen wir in unserer Rubrik "Darts & Donuts" und prämieren sie mit einem der folgenden Bücher zum Thema:
- Markus Kotzer (Hg.): Wenn Argumente scheitern. Aufklärung in Zeiten des Populismus (Paderborn 2018)
- Paul Stephan: Bedeutende Bärte. Eine Philosophie der Gesichtsbehaarung (Berlin 2020)
- Paul Stephan: Links-Nietzscheanismus. Eine Einführung, Bd. 1: Nietzsche selbst (Stuttgart 2022)
- Alfred Betschart (Hg.): Demokratie in der Krise. Die politische Philosophie des Existentialismus heute (Frankfurt a. M. 2017)
Sowie das besprochene Buch von Karsten Schubert.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen und wir können leider nicht garantieren, dass Sie ihr Wunschbuch erhalten, da wir von jedem nur ein Exemplar vorrätig haben.
Wir freuen uns auf Ihre Einsendungen!
nietzsche-im-kreuzfeuer-des-kulturkampfs
November 10, 2024 9:09 PM
Moritz
Liebe Natalie,
Ich freue mch, das dir und deiner Gemeinschaft des Glaubens mein "Gruß aus der Küche" meines Denkens, das sich jetzt endlich als einen radikal freien, christlichen, atheistischen, und doch religiösen, und gleichzeitig radikal autonomen, und doch unfreien, differenzierten, aber auch, fragmentierten, postmodernen, obszönen... und manchnmal, sehr selten, auch wahren Denkentwurfs, der sich gefunden hat, und es wert ist, eben so zu formuliert werden, begreift. Er hilft mir beim denken, sprechen, und leben seitdem sehr. Auch wenn es manchmal länger dauert, einen Satz zu formulieren, der richtig darauf verweist, dass er aus dem Leben, und eben nicht aus der Konserve, stammt. Schreib mir gerne eine kurze Mail, damit ich, zumindest in dieser technischen Hinsicht, den Adressaten des weiteren Gesprächs, nicht verfehle ;-)
ist-nietzsche-ein-pubertatsphilosoph
November 10, 2024 1:37 PM
Natalie Schulte
Der konkrete Andere – eine feine Antwort, bei der man sich nicht unbedingt Rückenwind von Nietzsches Philosophie erhoffen kann und vielleicht ja auch gar nicht will. Dennoch scheinen mir die Anderen und die Sehnsucht zu ihnen in seiner Philosophie nicht fern zu sein. Nietzsche lässt seinen Zarathustra zur Begründung seiner Rückkehr zu den Menschen dem alten Heiligen in seinem Walde erwidern: „Ich liebe die Menschen.“ Aber ob es im Zarathustra überhaupt nur einen einzigen konkreten Anderen gibt? Vermutlich nicht.
Der Andere ist stets gefährlich, mit seinem Lob und seinem Mitleid, mit seinem Spott und seinen Erwartungen. Als Liebender zu nah, als Sonne zu fern. Die Frage nach dem richtigen Distanzverhältnis geht selten gut aus.
Ganz sicherlich ist das Credo „Erlösung durch den konkreten Anderen“ zu suchen, ein wahrhaft gefährliches und daher auch tüchtig spannend. Ich bin mir sicher, da hätte der alte Mann, der bei dir als zweites auf dem Thron saß, dir auch einmal auffordernd – oder ironisch – zugezwinkert. Und was mich anbelangt, wer weiß, vielleicht kannst du dir die Antwort imaginieren.
Ich freu mich auf jeden Fall von dir zu hören und was gibt es schon spannenderes als eine philosophische Beichte, einen philosophischen Verrat?
ist-nietzsche-ein-pubertatsphilosoph
November 8, 2024 7:25 PM
Moritz Kleefeld
Mir begenete Nietzsche, bevor ich ihn in die Welt der Schlafzimmerlektüre einlassen konnte, als toller Mensch.
Bis dahin katholisch erzogen, trieb mich die Frage nach dem Glauben und der Nächstenliebe, die in der Kirche als Antwort in Ritualen zu mir sprach, um.
Genauergesagt ergaben sich aus den Antworten der Kirche Fragen, die mir nicht möglich waren zu formulieren.
Nietzsche war für mich ein Raüberkumpan, der mir half, Gott vom Thron zu stoßen, indem er mir als Antwort auf das Enigma "Gott ist tot" ein "Wir" anbot. "Und wir haben ihn getötet."
Und so schlug ich ein, und wir mordeten Gott gemeinsam.
Dieser Mordpakt mit Nietzsche, den ich damals als innerlich schloß, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.
Den Spott des alten Mannes im Kopf der Autorin gönne ich ihr und ihm ehrlich. Nichts anderes hat diese christliche Geste, diese eigene kleine Beichte zu Nietzsche, in seinen Augen verdient.
Den Wortlaut mag sich der Leser bei Bedarf selbst formulieren.
Mein eigenes Studium lässt zusammenfassen als ein Erkunden von Ernst Bloch, von dem ich mir Rat holte, wie mit der Situation umzugehen war.
Denn als ich da so mit Nietzsche stand, vor dem leeren Thron Gottes, setzte er sich von uns beiden zuerst darauf, und ich sah zum ersten mal jemand anders auf diesem Thron sitzen.
So, wie der alte Mann, der schon lange tot ist, der Autorin trotzdem immer noch im Kopf sitzt, und manchmal seinen Senf dazu gibt, so habe auch ich ihn als Kommentator bei mir getragen.
Heute würde ich sagen, ich habe ihn vom Throhn verbannt, zumindest die letzte Konsequenz, sich der Nächstenliebe zu entsagen. Ganz weg ist er nicht.
Ich habe mich nach dem Studium entschlossen, mit Nietzsche und den alten Räuberfreunden im Gepäck, als Bruder Tuck, dessen Theologische und Philosophische Ausbildung fraglich sind,meine Erlösung im konkreten anderen, der mir begegnet, zu suchen, und das zu tun, was ich bis dahin gelernt hatte:
Den Umgang mit dem leeren Thron, und denen die sich darauf zu lange selbst setzen, bis sie sich mit dem alten Mann verwechseln, der da, so sagt man, mal saß.
Der, den ich jetzt an seiner Stelle auf den Throhn gesetzt habe, gibt mir meine eigene, liebgewonnene Kommentarspur dazu ab - sogar bei der Lektüre Nietzsches.
Er hat mich gelehrt, wenn ich zu Nietzsche gehe, die Peitsche nicht zu vergessen.
Ich weiß heute nicht mehr genau zu erinnern, in welchen Seminaren ich der Autorin in meiner Freiburger Zeit begegnet bin, meine aber, dass wir das selbe Seminar zur "Dialektik der Aufklärung" besucht haben. An die Gespräche mit ihr erinnere ich mich jedenfalls gern zurück.
Die Wette von Pascal auf Gott, die Sie mir seinerzeit in einem gemeinsamen Lesekreis erklärt hat, ist mir dagegen sehr gut und oft als eines zahlreicher Schlüsselerlebnisse in Erinnerung, die mich mit Bloch über Nietzsche hinaus zu Žižek, Lacan und Hegel trieben.
Die Wirren der Konflikte im gemeinsamen Freundeskreis haben leider dazu geführt, dass wir uns vor mehr als zehn Jahren, den gegenseitigen Respekt uns versichernd, höflich distanziert haben.
Der öffentlichen, christlichen Beichte muss hier also vielleicht noch die persönliche, atheistische folgen - die meines Verrats an Nietzsche.
Diese bin ich dir, liebe Natalie, und ihm, der dann ja eh immer zuhört, jederzeit bereit, nichtöffentlich nachzureichen.
Zur Fachdebatte über Nietzsche habe ich jedenfalls, jenseits der umrissenen Denkbewegungen, nichts wichtiges beizutragen.
ist-nietzsche-ein-pubertatsphilosoph
October 24, 2024 6:56 PM
Iryna
Thank you a lot for the idea of such an interesting conversation. Revealing the context of Nietzsche's philosophical methodology in the Ukrainian socio-cultural context is an important and little-studied topic. It seems especially interesting to study how the intellectual and artistic elite managed to implement these ideas in their work during the Soviet era. Thank you very much again!
nietzsche-und-die-ukraine
October 23, 2024 1:40 PM
Helmut Walther (Nürnberg)
An Autor und Redaktion herzlichen Dank für diesen so informierenden wie excellent formulierenden Beitrag zum Verhältnis von Nietzsches „Übermenschen“ und dem Transhumanismus. Die Kritik des Autors am Fortschrittsoptimismus dieser Richtung, der sich keinesfalls mit der zweifelnd-verzweifelten Suche Nietzsches nach der „Überwindung des Nihilismus“ zusammendenken lässt, bringt es auf den Punkt: Hier soll uns „alter Wein in neuen Schläuchen“ angedreht werden; eine Gefahr, welcher sich allerdings auch Nietzsches „Übermensch“ in anderer Weise aussetzt, wenn er sich in die Obhut der „Vernunft des Leibes“ unter Zurückweisung der reflexiven Rationalität begeben will.
Vielleicht noch ein Literaturhinweis: Die Gesellschaft für kritische Philosophie (www.gkpn.de) hat bereits im Jahr 2015 mit der Herausgeberschaft von Stefan Lorenz Sorgner ein Schwerpunktheft zum „Transhumanismus“ herausgebracht, dessen Inhalt mit dem Link https://alt.gkpn.de/aufklaerung_und_kritik_m.htm#heft_54_3_2015 einsehbar ist.
seht-ich-lehre-euch-den-transhumanisten
October 21, 2024 9:57 PM
Helmut Heit
Liebe Estella Walter, herzlichen Dank für diesen sehr anregenden und klugen Text - und natürlich auch für die freundliche Verwendung meiner Arbeit darin, auch wenn ich bei der Gelegenheit an die Verbindung zwischen Nietzsche und Marx nicht gedacht habe. Denn sonst bin ich schon lange davon überzeugt, dass man mit einer Verbindung dieser beiden Denker des 19. Jahrhunderts vieles beisammen hat, um unsere bekloppte Gegenwart zu begreifen. Sie zeigen das überzeugend am Begriff der Entfremdung.
lieber-das-nichts-wollen-als-nicht-wollen
October 15, 2024 11:11 PM
Paul Stephan
Danke für Ihr Lob des Artikels. Ich teile Ihre Einschätzung weitestgehend und Sie stellen genau die richtigen Fragen, die wir uns auf diesem Blog noch wiederholt zu stellen haben: Wie umgehen mit dem späten Nietzsche (ab dem 2. Band des "Zarathustra", würde ich sagen)? Wie den Begriffen "Übermensch" und "Überwindung des Nihilismus" einen positiven Sinn im Sinne eines emanzipatorischen Humanismus und Individualismus geben? Ich denke, das ist durchaus möglich, aber nicht ohne eine Kritik des Spätwerks. - Ein Hinweis noch: Über den Transhumanismus wird es genau nächste Woche gehen!
ein-gottertisch-fur-gottliche-wurfel-und-wurfelspieler
October 15, 2024 8:15 PM
Helmut Walther (www.f-nietzsche.de)
Kompliment an die Autorin Natalie Schulze für diesen Artikel, der den Spuren des „Übermenschen“ gerade auch in unseren Zeiten nachgeht, obwohl von den utopischen Zukunftshoffnungen der „Transhumanisten“ darin gar nicht die Rede ist. Vielmehr deckt ihr Text mögliche Ausdeutungen der Forderungen Zarathustras auf, die eben auch bei dessen Autor zumindest vordergründig recht eindeutig angelegt sind, wie dies ja ebenfalls für dessen Ausführungen zum „Willen zur Macht“ gilt, die sich recht leicht im „Dritten Reich“ entsprechend ausbeuten ließen. Zu Recht werden diese einseitigen, so geistlosen wie am materialisitschen Nutzen orientierten Auswüchse kritisiert.
Woran aber liegt es, dass sich Nietzsches Aussagen zum „Übermenschen“ wie zum „Willen zur Macht“ so leicht missbrauchen lassen - dazu hören wir leider nichts, obwohl der tiefer liegende Grund doch gut erkennbar ist: Es ist die Abwendung von der reflexiven Vernunft hin zu einer „sinnlichen Vernunft des Leibes“, hin zu einem freigelassenen „dionysischen Spiel der Triebe“ zusammen mit einer Verurteilung aller zivilisatorischen Hervorbringungen der menschlichen Vernunft von der griechischen Philosophie seit Platon über das Christentum und die reflexiv-philosophischen Errungenschaften der Aufklärung bis heute. Bildlich gesprochen: Nietzsche zieht Achilles dem Odysseus bei weitem vor: stärkerr, schneller, höher – und heute vor allem „reicher“.
Offen bleibt denn auch im Text zuletzt, was Nietzsche selbst eigentlich mit dem „Übermenschen“ sagen wollte; nur der allerletzte kleine Absatz gibt einen Hauch von Ahnung davon, dass Nietzsche damit doch etwas anderes gemeint habe. Was aber meint konkret die „Überwindung des Nihilismus“?
ein-gottertisch-fur-gottliche-wurfel-und-wurfelspieler
October 10, 2024 7:18 PM
Olga Pavlyk
Vielen Dank für so ein sinnvolles und interessantes Interview! Besonders dankbar bin ich für Ihren besonderen Hinsicht mit dem ukrainischen Hintergrund (da habe ich wirklich viel Neues entdeckt und mir darüber Gedanken gemacht) und Ihre künftigen Pläne. Es wäre wirklich toll, wenn sie in Erfüllung gehen würden!
nietzsche-und-die-ukraine
October 9, 2024 6:11 AM
Oleksandr
It is important that the author comprehends the Ukrainian contexts of Nietzsche's resonances. It is valuable that not only academic, but also socio-cultural and aesthetic contexts of the problem and the connection with today's challenges are taken into account. Thanks for the interesting article.
nietzsche-und-die-ukraine
August 7, 2024 6:14 PM
Henry Holland
Estella: Das Essay ist ein echter Denkproviant! Auch ich sehe Nietzsches Wissenschaftskritik als zentral zu seiner Erbe. Deswegen freue ich mich über diesen Brückenschlag zwischen dem Genealogie der Moral und dem Marx der Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Was Sie sicherlich gedanklich betrachtet haben, eventuell aber für einige Ihre Lesende nicht bewusst ist: Marx' Entfremdungskritik nimmt auch in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten vor allem der Form einer Arbeitskritik an. Mir geht's nicht darum Ihr eher ontologischer Vorgang zur Frage der Entfremdung gegen Marx' vordergründig ökonomischer Umgang mit dem gleichen Thema auszuspielen, sondern zu erfragen: Wie ergänzen sich die zwei Vorgänge? Denn Marx kann auch sehr eindeutig werden: "Eine unmittelbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen." (Ökonomisch-philosophische Manuskripe, Kapitel XXIV, 517) Um zu unterstreichen, dass es ihm hier nicht um Abstraktionen handelt: "Wir gingen aus von einem nationalökonomischen Faktum, der Entfremdung des Arbeiters und seiner Produktion." Anders, anscheinend, als "die gängige Kritik" zum Thema Entfremdung, sehe ich noch die relevanteste Antwort auf Ihrer Frage-"Nur, was soll das sein, [von dem wir entfremdet sind]?"- bei Marx' Antwort von 1844: vom Produkt unserer (Lohn)arbeit, von unserer Lebenstätigkeit. Ich bin auch überzeugt, dass Ursprungsgedanken der Metaphysik äußert kritisch zu betrachten sind. Vielleicht würden Sie aber zustimmen, dass es bei Marx auf gar keinen Fall um einen "vor-entfremdeten Ursprung" geht, "zu dem es zurückzukehren gelte"? Vielmehr sehe ich Marx als einen Wegweiser in eine Zukunft nach der Entfremdung.
Mein Kommentar ist zu lang geraten! Damit wollte ich aber auch Ausdruck geben zu meinem Gefühl, wenn ich Werke von liberalen Nietzscheaner*innen lesen, welche der von Marx geprägten Sozialismus lapidar mit dem Faschismus gleichsetzen, als ob im Vergleich der beiden abscheulichen Bewegungen nicht viel drin wäre. In unserer gemeinsamen Geschichte seit 1844 war aber sehr viel da drin, auch Marx war da drin. Eventuell in einer Synthese mit Nietzsche, zeichnet er noch gehbare Wege aus unsere Entfremdung vor.
lieber-das-nichts-wollen-als-nicht-wollen
August 1, 2024 2:51 PM
Paul Stephan
Ja, man kann Glück haben, aber auch Pech. Kasino eben ... Ist das wirklich so erstrebenswert?
Wobei am Ende eben doch immer "die Bank" gewinnt ...
Oder anders gesagt: Es geht bei der Perspektive auf die schillernde Oberfläche des Kasinos aus dem Blick, wie die Profite eigentlich erwirtschaftet werden. Schon das frühmoderne Handelskapital verdankte seine enormen Profitraten ja kolonialer Ausbeutung (Sklaverei, Auspressung der natürlichen Ressourcen, Raub, Mord und Vernutzung der Bevölkerung ...). Der heutige digitale Kapitalismus ruht auf dem Rücken von Millionen, die in Horrorfabriken und irgendwelchen Lithium-Minen unter unwürdigen Bedingungen schuften müssen. Man denke auch an den immensen Energieverbrauch der digitalen Infrastruktur, der wieder zu Lasten des Klimas geht.
Was soll man diesen Leuten sagen? "Kauf Aktien". - Es gibt genug Beispiele für Leute, die diesem Rat folgten und ihre letzten Ersparnisse verloren.
nietzsche-bedeutet-nichts-er-lebt
July 27, 2024 1:29 PM
mma
"Google erster Koch verdiente, dank Aktien-Optionen, rund 26 Millionen US-Dollar." - Kapitalismus in Silicon Valley lässt über Risikokapitalgeber Leute ihre Ideen verwirklichen. Sie, Kalifornien, Mitarbeiter werden dadurch an dem Gesamterfolg beteiligt. Auch als Aktionär kann man enorm daran teilnehmen. Aber auch schon als Nutzer hat man davon Vorteile. Das staffelt sich nach dem Risiko, das man bereit ist, einzugehen. Die ersten zwei Seiten von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" weisen auf diese postmarxistische Konstellation hin, indem sie genauer zeigen, was Unternehmer eigentlich ausmacht. - Ausbeutung ist das jedenfalls nicht mehr. Dafür siehe Foxconn. Die wahre Zecke bleibt der Punk auf der Straße, solange er seine Unternehmerkapazitäten brach liegen lässt.
nietzsche-bedeutet-nichts-er-lebt
July 3, 2024 7:08 PM
Paul Stephan
Durch die kapitalistische Form, die diese Kreativität annimmt, wird sie doch immer gleich in ihr Gegenteil verkehrt. Die allermeisten dieser Reichen sind ja nicht die kreativen Programmierer selbst, sondern Leute, die es verstehen, aus dieser Kreativität die maximale Rendite abzuschöpfen und ihren eigentlichen Urhebern möglicht wenig davon abzugeben. Ausbeutung wie eh und je.
nietzsche-bedeutet-nichts-er-lebt
July 3, 2024 7:03 PM
Paul Stephan
Ich denke, man muss da zwischen dem Markt als Utopie unterscheiden und der "Marktwirtschaft" als Realität. Das bedeutet vor allem: Oligarchie, Manipulation und eben kultureller Nihilismus.
Marx selbst hat ja Freisetzung "kreativer Kräfte" durch den Kapitalismus immer wieder gelobt. Doch er sah eben auch die destruktiven Seiten dieser Freisetzung.
Nietzsche wiederum spricht sehr abfällig über die "Fliegen des Marktes" und bezeichnet das Geld als "Brecheisen der Macht". Ich glaube nicht, dass er den Kapitalismus so rosig sah wie du.
Kreativität müsste man doch auch anders freisetzen können als in diesem selbstzerstörerischen System!
nietzsche-als-kritiker-kapitalistischer-entfremdung
June 28, 2024 7:21 PM
mma
Insofern der "Kapitalismus" kreative Kräfte freisetzt, Erfolg bejaht, Menschen zu Projekten antreibt, ließe er sich doch getrost als eine Form der Arete verstehen. Er verführt zur Vortrefflichkeit. Nietzsche: War er vielleicht mehr Kapitalist als die Kapitalisten? - Unsympathisch ist mir die Perspektive, die überall dort, wo Vortreffliches sich versucht zu positionieren und durchzusetzen - Positivismus als eine Form des reflektierten Pragmatismus -, eine enigmatische "Entfremdung" am Werk sieht. Warum dieses Diffamieren? Marx als zweiter Luther? Sola labora? -Als jemand, der in einer Bank arbeitet, würde ich vielleicht umformulieren: "Der Kritiker der Marktwirtschaft ist ein Repräsentant der Unvernunft und der Realitätsferne gleichermaßen, wie einstmals nur der Priester es war..."
nietzsche-als-kritiker-kapitalistischer-entfremdung
June 28, 2024 7:09 PM
mma
Wie Athen, Rom, Florenz, Berlin, Wien könnte das Silicon Valley doch auch als ein Ort angesehen werden, an dem zu einer bestimmten Zeit sehr viele talentierte Menschen zusammenkommen und in dieser kreativen Dichte viel Großartiges erfinden. (Gumbrecht, der dort in der Nähe wohnt, sagt dazu immer wieder Lobenswertes.) Und warum nicht auch Erfolg haben und reich werden?!?
nietzsche-bedeutet-nichts-er-lebt
June 24, 2024 2:22 PM
Jenny Kellner
Danke, ein wunderbarer Artikel!
nietzsche-bedeutet-nichts-er-lebt
May 6, 2024 1:11 PM
Paul Stephan
Naja, die Repression funktionierte eben anders. In der Antike galt es ja zum Beispiel als "weibisch", beim Sex den passiven Partner einzunehmen, weshalb es überhaupt nicht anstößig war, homosexuelle Liebschaften zu haben, solange an der eigenen "Aktivität" kein Zweifel bestand. Im Mittelalter ging es eher darum, dass der Analverkehr ("Sodomie") moralisch und juristisch geächtet wurde. Es war alles noch keine Frage der Identität. Sogar im islamischen Raum gab es zum Beispiel eine verbreitete Kultur der Päderastie unter diesen Vorzeichen, die sich etwa in zahllosen Jünglingen gewidmeten Liebesgedichten äußerte.
Nietzsche äußert sich in seinen Schriften übrigens wiederholt bewundernd über die päderastische Kultur der alten Griechen. So heißt es in MA I, 259: "Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem, unserem Verständniss unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung". Und in M, 503 heißt es: "Alle grossen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, dass Mann neben Mann stand, und dass nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste, Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein". In GD, Streifzüge 47 heißt es dann: "In Athen waren zur Zeit Cicero’s […] die Männer und Jünglinge bei weitem den Frauen an Schönheit überlegen". - Das sind schon alles deutliche Hinweise in diese Richtung, auch wenn diese Stellen eher versteckt sind in seinem Werk und im Vergleich zu den vielen Äußerungen zum "Weib" nicht so ins Auge springen.
Ich denke auch, dass es da in der Biographie-Forschung großen Nachholbedarf gibt. Man weiß zu vielen Details von Nietzsches Leben erstaunlich wenig und vieles wird von Mythen und Gerüchten überlagert. Und an der Einordnung in den kulturellen Zeitkontext mangelt es auch oft, auch in der philosophischen Interpretation. Da sind wir uns auf jeden Fall einig, hoffentlich können wir auf diesem Blog immer wieder auf solche "verschwiegenen" Details der Biographie bzw. die Kritik derartiger Mythen zu sprechen kommen.
mit-nietzsche-und-marx-in-die-erbstreitrunde
May 6, 2024 12:21 PM
Henry Holland
Ich danke dir auch, Paul, für deinen gedankenvollen Kommentar. Es ist Jonas Čeika, nach vielen anderen Interpreten sich für das Gleiche interessiert haben, der auf Nietzsches Sexualität in seinem Buch eingeht, und eben deswegen möchte ich in der Rezension abweichende Standpunkte zum selben Thema akkurat darstellen. Charles Stone und Joachim Köhler, wessen Forschungsbeiträge ich zusammenfasse, haben kein Interesse daran, Nietzsche als homosexuell „abzustempeln.“ Es geht ihnen viel eher darum, das noch dominante, aber dennoch nicht überzeugende Narrativ von Nietzsche als einen nullachtfünfzehn heterosexuellen Mann, durch ihre aufschlussreiche Beweise in Frage zu stellen.
Ohne Frage sind unsere twenty-first-century Begriffe für Sexualität nur bedingt auf Nietzsche anwendbar. Auch deswegen habe ich es vermieden, Stones Intervention als ein Plädoyer für einen queeren bzw. schwulen Nietzsche zu charakterisieren: Zu seiner Lebzeiten, haben Männer, die einander sexuell liebten, diese Sprache nicht verwendet. Dass (sexuelle) Identitäten tatsächlich fluider waren im Mitteleuropa des späten 19. Jahrhundert als heute lehne ich wiederum ab. Nietzsche spürte keine Notwendigkeit, eine sexuelle Identität für sich im Klartext auszuformulieren, nicht weil die Identitäten seiner Zeit und Milieus so lässig fluid waren, sondern weil die durchdringende Homophobie seiner Umwelt ihm in dieser Hinsicht wenig Spielraum gab. Im Brief von Wagner an Nietzsche vom 6. April 1874 zum Beispiel, der auch in Safranskis Einführung zitiert wird, ist es schwer, den bedrohenden, homophobischen Ton zu überhören: „Unter Anderen fand ich, dass ich einen solchen männlichen Umgang, wie Sie ihn in Basel für die Abendstunden haben, in meinem Leben nicht hatte (…) Nun scheinen aber den jungen Herren Frauen zu fehlen …“ Safranskis Standpunkt in diesen Dingen erzählt uns viel und ist gleichzeitig leicht snobistisch: Er karikiert seine Gegenspieler und schaut auf sie runter, statt auf ihre Argumente einzugehen. Es geht hier nicht darum, durch Nietzsches Sexualität reduktiv einen Schlüssel zum Gesamtwerk zu finden. Stattdessen, da viele neue philosophischen- bzw. politischen Einführungen zu Nietzsche, wie Čeikas, noch stark in ihrer Argumentation von der Biographie ausgehen, geht es Beitragenden darum, mehr Ehrlichkeit und vielleicht mehr Aufklärung in diesem Gespräch einzubringen. Darüber hinaus, klaffen die primär biographische Behandlungen dieser Gegenstände noch weit auseinander. Sue Prideauxs „I am Dynamite!“ (2018), einer der meistgelesenen anglophonen Biographien Nietzsches der letzten Jahrzehnten, findet z.B. die Schreckgestalt vom Dichter Ernst Ortlepp, der in den Wäldern bei Nietzsches Schule herumgeisterte, nicht erwähnenswert. Safrankski dagegen findet es auf Grundlage der Forschung von H.J. Schmidt (1991; „Nietzsche Absconditus“) plausibel, dass Ortlepp Nietzsche als Schüler sexuell verführt oder sogar vergewaltigt hat. Aber auch hier will keiner, aus diesem einzelnen und nicht weiter verifizierbarem Ereignis, einen Deutungsschlüssel-für-alles schaffen.
Insgesamt aber sollen Nietzsche-Deutende in diesen Sachen von den geistigen Höhen runterkommen, und sich mehr mit Sex, Kulturgeschichte und Kulturpolitik befassen. Obwohl manche es noch abstreiten, dass Nietzsche mit der Arbeit von Karl Heinrich Ulrichs, der Vorkämpfer für die rechtliche Gleichstellung von homosexuellen Männern, bekannt war, bewegen sich mehrere veröffentlichte und auch (zu seinen Lebzeiten) unveröffentlichte Aussagen Nietzsches unbestreitbar im selben Fahrwasser wie Ulrichs‘ Kernargumente. So wenn er zum Beispiel in „Menschliches Allzumenschliches II: § WS — 5“ (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/WS-5) gegen die Reduzierung von Lust auf Prokreation, auf zwangsläufig heterosexueller Sex, austeilt. In einem Zeitalter, in dem Männer die sich sexuell liebten zunehmend strafrechtlich verfolgt waren – vor allem ab der Reichsgründung 1871 –, war diese Positionierung mutig und keineswegs nur theoretisch-intellektuell gemeint.
mit-nietzsche-und-marx-in-die-erbstreitrunde
April 30, 2024 10:53 AM
Paul Stephan
Vielen Dank für deine tollen Beitrag, Henry. Ich denke, die Vernetzung zwischen den unterschiedlichen "Nietzsche-Blasen" (anglophon, frankophon, germanophon etc.) müsste zum allgemeinen Vorteil viel mehr vorangetrieben werden, diese ganzen Diskussionen werden in der deutschsprachigen "Nietzsche-Community", soweit ich sehe, kaum beachtet - und umgekehrt. Du bist ein wahrer "guter Europäer" im Sinne Nietzsches!
Ein wichtiges Thema, dass du ansprichst, ist die mögliche Homosexualität Nietzsches. Über dieses Thema wird auch in der deutschsprachigen Forschung sehr geschwiegen, Köhlers höchst interessantes Buch kaum beachtet. Wobei es eine wichtige Nietzsche-Einführung von Safranski gibt, in der er darauf eingeht. Es ist natürlich nicht ganz einfach, Nietzsche derart "abzustempeln" angesichts seines erwiesenen Interesses an Frauen ...
Ich denke, man könnte in diesem Punkt von Foucault lernen: Wie fruchtbar ist es überhaupt, das Konzept "Homosexualität" auf jemanden wie Nietzsche anzuwenden? Er selbst wird sie sicher gar nicht auf sich angewandt haben. In dieser Hinsicht waren das 18. und 19. Jahrhundert wahrscheinlich freier sogar als die Gegenwart, weil die Identitäten fluider waren bzw. es noch gar nicht die Notwendigkeit gab, sich eine "sexuelle Identität" im heutigen Sinne zu geben. Rousseau berichtet in seinen Büchern so freizügig über seine Perversionen, weil er nicht fürchten musste, sofort als "xy" einsortiert zu werden. Höchstens als "Sünder" oder "Sonderling". Ich finde diese Debatte fast traurig. Wir stülpeln unser heutiges Verständnis auf die damaligen Menschen und merken nicht, wie beschränkt unsere eigene Denkweise ist. Vgl. etwa die vollkommen anachronistischen Diskussionen über die Sexualität Alexanders des Großen etc. pp.
Gerade in identitätspolitischen Kreisen wird das Problem oft - trotz Foucault-Lektüre - gar nicht gesehen, sondern genau diese Einengung offensiv betrieben, indem man Menschen der Vergangenheit in irgendwelche Schubladen steckt. Die "Befreiung" besteht dann nur noch darin, die Schubladen unendlich zu vervielfachen. Irgendwann "beichtete" mir ein Kollege seine "Vorliebe" dafür, vor dem Sex seine Partnerinnen emotional kennenzulernen zu wollen. Er hat dieser "Neigung" tatsächlich irgendeinen Namen gegeben. Meine Reaktion darauf - die ohne befriedigende Antwort blieb: Es ist ja schön und gut, über seine Bedürfnisse nachzudenken - aber warum daraus eine Identität machen?
mit-nietzsche-und-marx-in-die-erbstreitrunde