Also sprach die Maschine

Nietzsche imitieren mit KI

Also sprach die Maschine

Nietzsche imitieren mit KI

30.9.25
Tobias Brücker
Die stetige Verfeinerung von Large-Language-Models, kurz LLMs, erlaubt zunehmend treffende Stilimitationen von Texten. Das gilt auch für die Schreibstile von Philosoph:innen. So lässt sich unlängst mit Sokrates oder Schopenhauer chatten – meist mit durchzogener Qualität und begrenzter inhaltlicher Tiefe.1 Unser Gastautor Tobias Brücker hat in den vergangenen Monaten versucht, mittels verschiedener KI-Methoden spannende Nietzsche-Texte zu generieren. Er wird im Folgenden einige dieser generierten, „neuen Nietzsche-Texte“ präsentieren, ihre Entstehung beschreiben und ein kurzes Fazit ziehen.

Die stetige Verfeinerung von Large-Language-Models, kurz LLMs, erlaubt zunehmend treffende Stilimitationen von Texten. Das gilt auch für die Schreibstile von Philosoph:innen. So lässt sich unlängst mit Sokrates oder Schopenhauer chatten – meist mit durchzogener Qualität und begrenzter inhaltlicher Tiefe.1 Unser Gastautor Tobias Brücker hat in den vergangenen Monaten versucht, mittels verschiedener KI-Methoden spannende Nietzsche-Texte zu generieren. Er wird im Folgenden einige dieser „neuen Nietzsche-Texte“ präsentieren, ihre Entstehung beschreiben und ein kurzes Fazit ziehen.

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I. Schreiben mit LLMs

Im Rahmen meines privaten Schreibprojekts beabsichtige ich, mit verschiedenen KI-Sprachmodellen (LLMs) gezielt philosophische Texte zu generieren, die sich stilistisch und inhaltlich an Friedrich Nietzsche orientieren. Dabei geht es mir nicht bloss um philosophisch klingende Texte mit einigen Nietzsche-Buzzwords, wie das aktuell mit simplen Prompts bei ChatGPT geschieht. Mein Ziel ist es, differenzierte Texte zu erhalten, die sich literarisch, inhaltlich und kontextuell an bestimmten Werkphasen oder Textsorten (z. B. Sprüche, Aphorismen oder Briefe) orientieren. Hierzu trainiere ich KI-Modelle spezifisch mit Nietzsche-Texten, um stilistische und rhetorische Eigenheiten präziser zu erfassen.

Die folgenden Texte wurden mit dem Modell ChatGPT-4o mittels „Instruction Tuning“ generiert. Dies bedeutet, dass ich mit ausgewählten Beispielen und vielen Prompts mehr und mehr zum gewünschten Resultat gekommen bin. Zur Generierung einzelner und kurzer Textbeispiele reicht dies oft schon aus, während für ein systematisches Generieren ein Modell mit grösseren, aufbereiteten Datenmengen durch „Finetuning“ trainiert wird.2 Das technische Aufsetzen von lokal trainierten Modellen ist für Laien nach wie vor mit zeitraubenden Unwägbarkeiten verbunden und abhängig von leistungsstarker Hardware. Generell empfiehlt es sich, möglichst überschaubare Versuche zu unternehmen, um die Ergebnisse nachvollziehen und entsprechend kontrolliert optimieren zu können.3

II. Nietzsche-Aphorismen über Sorrent und Sizilien

Eine naheliegende Art der Neugier beim Imitieren besteht darin, sich zu fragen, was jemand über etwas gedacht oder gesagt haben könnte. Ich habe oft mit Landschafts-Aphorismen gearbeitet, weil diese offener formuliert werden können und nicht zwingend einer zugespitzten These folgen müssen. So versuchte ich, einen Aphorismus zur italienischen Stadt Sorrent zu generieren. Ich habe dazu drei zeitlich nah beieinander liegende Bücher nach geeigneten Textstellen zu Landschaften und Wandern durchsucht: den ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches (14. April 1878), Vermischte Meinungen und Sprüche (12. März 1879) und Der Wanderer und sein Schatten (18. Dezember 1879). Die Ergebnisse waren anfangs holprig. Ich vermute deshalb, weil es sich bei Sorrent um eine konkrete Stadt handelt und damit die Beschreibung auf diese Konkretion passen musste. Auch die Betitelungen waren aphoristisch wenig ergiebig. Zudem kam hier die Gesprächigkeit von ChatGPT in den Weg, weshalb ich einige Male kürzend eingegriffen habe, um zu folgendem Resultat zu gelangen:

Surrentum ex umbra. – Der Süden im Rückzug, ein Winkel, wo selbst das Licht eine Pause macht: kühl, schattig, und doch still fordernd. Die Felsen beinah schwerelos, lehnen sich an – müde vielleicht, oder weise. Alles scheint hier halb gesagt. Der Wind flüstert von Vergangenem und stille Grotten träumen von Sirenen, die längst verstummt sind. Hier, wo jeder Gedanken betört wird, von Limonen und Orangen, aromatischen Düften. Hier wo nur die Farben klar sind – das Denken fabuliert.  

Dieses Resultat musste optimiert werden. Mir gefiel zwar der grundsätzliche Mix an Themen gut – das südliche Sorrent, die schattenspendenden Bäume, die Felsen… Der Gegensatz von klaren sinnlichen Farben und betörtem geistigem Denken verlieh dem Text sogar ansatzweise eine aphoristische Pointe. Allerdings war die Orientierung am Aphorismus «Et in Arcadia ego» aus dem Wanderer und sein Schatten (Link) zu stark: Zu oft wird auf das Muster «Hier, wo…» zurückgegriffen. Zudem schien mir die Metapher der sich anlehnenden Felsen für Sorrent nicht schlüssig. So gelangte ich über vorgeschlagene Kürzungen und Verdichtungen sowie über die Suche nach einem Titel zu folgendem Ergebnis:

Fugit lux, Surrentum apparet. Der Süden im Rückzug vor sich selbst. Hier, wo selbst das Licht innehält – kühl, schattig, und doch fordernd. Die Felsen halbhoch, geradlinig und beinah schwerelos: nicht stürzend, nicht trotzig – sondern alt, müde und klug geworden. Alles ist hier halblaut, halb gesagt. Der Wind flüstert vom Vergangenen. Die Grotten träumen vom Echo der Sirenen. Und dazwischen: Durchdringende Düfte nach Zitrone, Salz, Sonne.

Die Stilimitation gefiel mir hier gut, wobei die inhaltliche Bedeutsamkeit v. a. im Schlusssatz magerer wurde – zumal ein einzelner Aphorismus im Vergleich zu einer Aphorismen-Reihe in sich schlüssig sein muss. Die beiden Beispiele sollen deshalb zunächst bloss verdeutlichen, was ein LLM durch Imitation leisten kann und wie dies mit Prompts, Zielvorstellungen und geeigneten Materialien befördert werden kann.

In einer weiteren Versuchsreihe forderte ich ChatGPT auf, einen Aphorismus über Sizilien zu generieren. Einen solchen hat Nietzsche weder in Messina noch sonst wo geschrieben – und doch schien es mir zuweilen fast wie eine Lücke, dass ein solcher in Nietzsches Werken nicht vorliegt. So ist über mehrere Überarbeitungsstufen folgender Aphorismus generiert worden. Für das „Instruction Training“ habe ich hier zudem Beispiele anderer Ortsbeschreibungen Nietzsches, Briefstellen aus Messina sowie ein paar Auszüge aus historischen Reiseführern aus Nietzsches Bibliothek verwendet:

Sizilien. – Auf Siziliens Boden ringen zwei Mächte um die Seele des Wanderers: dort der Ätna, Sinnbild des dionysischen Feuers, der ewig schaffenden und zerstörenden Leidenschaft – hier die Tempel, Künder apollinischer Klarheit, in Stein gemeisselter Schönheit und Harmonie. Nur wer den Mut hat, sich im Feuer zu läutern, vermag auch die Höhen reinen Erkennens zu erklimmen und so, im Einklang mit dem Göttlichen, wahrhaft Mensch zu sein. Mancher verbrennt sich bei diesem Wagnis, verglüht im Übermass des Gefühls – doch wer wollte ihm seine Bejahung ausreden, die vom Dasein ihr Recht lieh?

Es wird hier ersichtlich, dass GPT-4o sehr gut mit Begriffspaaren arbeiten kann: apollinische Mächte, Tempel, Erkennen vs. dionysisches Feuer, Vulkan, Gefühl. Allerdings werden hier die Werkphasen vermischt, da der Nietzsche von 1878/79 längst nicht mehr so stark mit Dionysischem und Apollinischem argumentiert. Da in meinen Instruktionsbeispielen keine Zitate des frühen Nietzsche dabei waren, ist klar, dass ChatGPT einige Elemente aus Nietzsches Philosophie hinzugedichtet hat. Dies zeigt, dass LLMs tendenziell einen generischen bzw. Werkphasen vermischenden Autorenstil erzeugen, den sie gemäss ihrer Trainingsdaten errechnen. Dies schwächt das Ergebnis aus Sicht einer plausiblen werkkohärenten Imitation. Schwierig war auch stets der Schlusssatz, in welchem eine neue Pointe liegen sollte. Dies gelang erst nach einigen Anläufen einigermassen gut.

Screenshot aus einem Chat mit dem Nietzsche-Bot von character.ai (wo freies Halluzinieren wenig Grundlage für ernsthafte Auseinandersetzungen bietet).

III. Zwei generierte Nietzsche-Sprüche aus der mittleren Phase

Ich erhielt durchgehend bessere Resultate, wenn ich mich auf kurze Formen und auf einen Stil festlegte: seien es Briefe, Aphorismen oder Sprüche. Mit einer Auswahl an Sprüchen aus Vermischte Meinungen und Sprüche (VM) liess ich GPT-4o dann einen neuen Spruch generieren. Meistens gleich zwei oder drei, damit ich einen für die weitere Verwendung auswählen konnte. Folgende zwei Sprüche gefielen mir:

Der Mensch ist Natur, die sich schämt – und Kultur, die sich entschuldigt.
Zwischen Trieb und Tugend flackert der Mensch.

Die Titel der Sprüche waren einmal mehr schwierig mit dem gleichen Prompt zu generieren. Mit einigen Nachfragen und Beispieltexten gelang es meiner Meinung nach dann aber gut, solche nachzuliefern oder nachzubessern. So wurde in folgendem Beispiel der erste Titel „Windbruch“ durch „Einzeln“ ersetzt, was konzis und passend wirkt:

Einzeln. – Manches fällt nicht, weil es schwach ist, sondern weil es frei steht.

Dieser Spruch regt zum Denken an, ergibt Sinn und kann mehrmals ergiebig gelesen werden. Vor allem das mehrdeutige „frei stehen“ (ungeschützt stehen, allein sein, frei sein etc.) lädt zu unterschiedlichen Interpretationen ein. Der Spruch fügt sich mit dem Verweisspiel von Vereinzelung („Einzeln“) und einer Freiheit („frei stehen“), die ihren Preis hat (z. B. freie Geister in Menschliches, Allzumenschliches), zudem passgenau in den Kontext des mittleren Nietzsches.

Ein weiteres Verfahren bestand darin, Originalstellen aus VM vom LLM zu einem neuen Spruch kombinieren zu lassen. Hier sind aufgrund des originalen Materials und der Vieldeutigkeit der Original-Sprüche erstaunlich gute Resultate generierbar. Sehr gelungen fand ich diesen:

Stille Pflicht. – Wer im Schatten des Grossen arbeitet, kennt den Glanz nicht, aber das Gewicht.

IV. Fazit und Ausblick

Mein Fazit lautet: LLMs können mit geeignetem Beispielmaterial und Instruktionen Nietzsches Stil in einzelnen kurzen Texten treffend imitieren. Bei steigender Komplexität und Textmenge wird es rasch schwieriger, sinnvolle Texte zu generieren – beispielsweise eine Reihe von 10 sich aufeinander beziehenden Aphorismen. Der Zusammenhang von Werkphasen, Stilen und zeitgenössischen Kontexten zu Nietzsches Werk erhöht die Plausibilität signifikant und macht die Resultate interessanter. Gerade die Kohärenz von Werkphasen ist aufgrund der bereits trainierten, generischen Nietzsche-Stile der vorgefertigten LLMs aber schwer herzustellen. Dies spricht für eigene Finetunings von LLMs. Hier waren meinen technischen Kompetenzen und zeitlichen Möglichkeiten bisher enge Grenzen gesetzt: Die von mir durch Finetuning trainierten Nietzsche-Generatoren erwiesen sich bisher als dürftig im Vergleich zum „Instruction-Tuning“ mit führenden Modellen wie ChatGPT oder Claude. Diese zeitaufwändigen Finetunings haben mir allerdings geholfen, immer besser zu verstehen, was ein LLM genau macht und wie ich es durch Prompts anleiten kann. Zudem lernt man philosophische Werke von einer anderen Seite her kennen, wenn man sie durch ein LLM verarbeiten lässt – dieser Lerneffekt ist nicht zu unterschätzen, v. a. für Personen, welche sich bisher ausschliesslich mit qualitativen und interpretativen Verfahren auseinandergesetzt haben. Da Finetuning zunehmend einfacher und zugänglicher wird, erwarte ich hier mittelfristig noch viel Potenzial.

Mich interessiert in diesem Stadium der technischen Entwicklung von LLMs einerseits die Auslotung der Möglichkeiten, andererseits die Haltung der (menschlichen) Lesenden, welche stets durch die Brille ihrer Autorvorstellungen lesen und interpretieren. Ich gehe deshalb bewusst noch nicht auf Chancen und Risiken für die wissenschaftliche Nietzsche-Forschung ein. Festhalten lässt sich für den Moment bloss: LLMs eröffnen zahlreiche Möglichkeiten, mit philosophischen Texten zu experimentieren. Solche Experimente mögen einigen als sinnlos vorkommen, weil es sich nicht um «originale» Zitate handelt oder weil sie errechnete Texte philosophisch nicht für relevant halten. An diesen Reaktionen wird sichtbar, wie unsere Vorstellungen von Autorschaft, Originalität oder menschlicher Herkunft die philosophische Autorschaftsvorstellung formieren. Diese Formationen bewegen sich im Fluss der Zeit. Ich würde mit Blick auf die pseudo-aristotelischen Schriften, die Pseudepigraphie oder die anonym publizierten Texte der Aufklärung nicht ausschliessen, dass sich der enge Blick auf philosophische Autorschaft und historisch-kritisch edierte «Gesamtwerke» ändern wird.  

Tobias Brücker ist promovierter Kulturwissenschaftler und Leiter der HR-Personalentwicklung an der Zürcher Hochschule der Künste. Er hat zu Nietzsches Arbeitsweise geforscht und 2019 die Monografie Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“ publiziert. Er interessiert sich für alle Facetten von Diäten, Autorschaft und Kreativitätstechniken in der Philosophie und in den Künsten.

Zum Artikelbild

„Nietzsche–Salomé“ (KI-generiertes Bild, Tobias Brücker, 2024): Erstellt mit Midjourney auf Basis folgender historischer Fotografien: Friedrich Nietzsche (ca. 1875, Fotografie von Friedrich Hermann Hartmann, gemeinfrei) und Lou Andreas-Salomé (ca. 1897, Atelier Elvira München, gemeinfrei).  

Fussnoten

1: So etwa auf character.ai | AI Chat, Reimagined–Your Words. Your World.

2: Die aufwändigen Arbeiten bei der Erstellung und dem Finetuning eines Nietzsche-Bots mit verschiedenen Volltexten unterschiedlicher Werkphasen wird hier dokumentiert: Building an Advanced Nietzsche AI Database | by Wayward Verities | Medium. Der daraus resultierende „Nietzsche Reference Bot“ ermöglicht es, mit den Volltexten Nietzsches über Chat zu interagieren und referenzierte Antworten zu erhalten, siehe hier: https://chat.openai.com/g/g-F62wnKW8A-nietzsche-reference-bot.

3: Wertvolle Einblicke in ein «Instruction Tuning» finden sich in diesem Erfahrungsbericht: I used AI to Generate Nietzschean Aphorisms | Towards AI