Die Affen tanzen unerklärlich. Nietzsche und die zeitgenössische Tanzkultur
Reflexion, Bewegung, Misere
Die Affen tanzen unerklärlich. Nietzsche und die zeitgenössische Tanzkultur
Reflexion, Bewegung, Misere


Neben dem Wandern ist das Tanzen einer der prominentesten Soldaten in Nietzsches „bewegliche[m] Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“. Jonas Pohler geht anhand von Nietzsches Überlegungen zur Bewegungskunst der überragenden Bedeutung nach, die sie in unserer Gegenwart spielt. Ist die Wirkung des Tanzes primär eine sexuelle? Was hat Tanz mit Technik zu tun? Welche Symbolik vermag die tänzerische Geste zu transportieren?
Nur kein Aufhebens. Tanzen und intellektuelle Reflexion, sie scheinen sich auszuschließen. Niemand wird die Behauptung bestreiten, philosophisch-technische Gedanken seien das Letzte, was einen zum guten Tänzer macht – aber ist das so? „Die Deutschen sind zu verkopft“, postulierte ein Bekannter, mit dem ich über das Thema sprach. Nietzsche hätte dem wahrscheinlich zugestimmt. In einem außergewöhnlich schönen Aphorismus schrieb er über den Kunstgenuss der Deutschen:
Wenn der Deutsche einmal wirklich in Leidenschaft geräth (und nicht nur, wie gewöhnlich, in den guten Willen zur Leidenschaft!), so benimmt er sich dann in derselben, wie er eben muss, und denkt nicht weiter an sein Benehmen. Die Wahrheit aber ist, dass er sich dann sehr ungeschickt und hässlich und wie ohne Tact und Melodie benimmt, sodass die Zuschauer ihre Pein oder ihre Rührung dabei haben und nicht mehr: – es sei denn, dass er sich in das Erhabene und Entzückte hinaufhebt, [...] – hin nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur Anzeichen dafür, dass sie tanzen möchten: diese armen Bären, in denen versteckte Nymphen und Waldgötter ihr Wesen treiben – und mitunter noch höhere Gottheiten!1
Ist das der Grund, warum die schlechtere Hälfte der Menschheit sich so oft schwer tut und von Komplexen und Unwohlsein plagen lässt? – Das ist eine andere Geschichte...
I. Tanzen im Internet: Unüberschaubare Landschaften
Die Thematik scheint zeitgemäßer denn je. Das zeigt die Omnipräsenz tanzender Menschen in den sozialen Medien. Vordringlich aus den USA, aber auch durch sie affiziert, aus aller Welt übertragen. Man sieht: „Die Menschheit“ tanzt. Wer sich etwas tiefer mit der Materie beschäftigt, stößt auf Choreografien, Performances und Einblicke in Tanzstudios; stößt auf „Battles“ mit aufputschenden Zwischenrufen. Bewegung nimmt militärische Form an. – Unsinnig daneben: Twerken für das Seelenheil. Für viele kein schlechter Witz mehr.
Das Internet zelebriert seine K-Pop-Stars wie die Bangtan Boys (BTS), gegründet 2010, oder die 1996 geborene Jennie Kim von der ebenfalls südkoreanischen Band Black Pink. Von ihnen ist bekannt, dass diese der „Idole“-Industrie Unterworfenen ein intensives Tanztraining hinter sich bringen, das freilich ziemlich schamlos US-amerikanische Musik- und Tanzstilstrends kopiert. Wahrscheinlich arbeiten amerikanische Choreografen und Plattenfirmen, wenigstens um drei Ecken an den sogenannten „Acts“ mit. Tanzlehrer disziplinieren ihre Klienten nicht nur zur Perfektion, sondern auch zum freien Ausdruck. Ihr Erfolg spricht zweifellos für einen Nerv, den sie beim meist weiblichen Publikum unmittelbar emotional treffen. Der Anschein ist günstig, überall verstehbar und kaum sozialen oder soziostrukturellen Kontrollen unterworfen.
Ich kann nicht verhehlen, selbst von einigen Trends nicht unbeeindruckt gewesen zu sein. Etwa die Tanzperformance des 2002 geborenen Disneysternchens Jenna Ortega in der Netflix-Serie Wednesday (2022), die zu Lady Gagas zum Zeitpunkt schon Jahre zurückliegenden Song Bloody Mary (2011) und den Worten: „I tell them my religion’s you[.] […] We are not just art for Michelangelo to carve / he can’t rewrite the aggro off my furied heart“2, wie eine vorgebliche Autistin, die sie spielt, tanzt.
Musikalisch, wenngleich weniger tänzerisch, hat auch der Hype um und frühe Tod von XXXTentacion mit seiner traurigen Elektroballade Moonlight viele alles andere als kalt gelassen. Auch die fast gewalttätigen Tanzchoreografien von Jade Chynoweth, dem Viva Dance Tanzstudio aus Südkorea, sowie King Kayak & Royal G’s brachiale Performance zu Oil it der Afrobeatgröße Mr. Killa oder der sehr tanzbare Amapiano-Klassiker Adiwéle von Young Stunna, in dem „der Flex“, also die zur Schau gestellte Angeberei, und Tanz ineinander zu fallen scheinen, nötigten mir einigen Respekt ab.
Unvorstellbar, aber wahr: Der Tanz avanciert zu der Ausdrucks- und Kunstform unserer Jahrzehnte und ist vielleicht sogar mehr, Menetekel der Anthropologie eines globalisierten Kapitalismus. Seine anwachsende Bedeutung speist sich dabei aus verschiedenen Faktoren, wobei die undurchsichtigsten und am wenigsten bearbeiteten wahrscheinlich Kunst, Ästhetik und Philosophie sind.
Zweifellos ist eines seiner Erfolgsrezepte seine allgemeine Zugänglichkeit: Was einen Körper hat, kann tanzen und kommt selbst ohne Bildung oder professionelles Equipment aus. Das zweite nicht zu leugnende Element, sowohl für Social Media als auch für die Werbeindustrie, in der wir immer wieder tanzende Körper zu sehen bekommen (freilich mit Produkten, die nun gar nichts damit am Hut haben), liegt in der Tatsache oder dem Anschein, authentische Emotionen oder Affekte zu transmittieren – für die weniger feinsinnigen, den Sex bis hin zur Anmaßung.
Ist das so? Das ist weniger banal, als man vermuten könnte. Wer sexualisiert oder desexualisiert? Der Hüftschwung ist das Symbol für menschliche Sexualität, nur ein Stein könnte da unbewegt bleiben. – Kommt zum Beispiel der Begriff „Sex“ bei Nietzsche überhaupt vor? – Und doch kann ein Tänzchen ganz harmlos sein, wie ein Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches zeigt, in dem die Anschauung eines Kunstwerks einen unmittelbaren Genussüberschuss produziert. Der Text als Stimulans:
Bücher, welche tanzen lehren. – Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei, ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust durchaus tanzen müsste.2
Auch wenn immer wieder versucht wird, den Tanz zu entzahnen, ist die Lösung wahrscheinlich – wie so oft – eine ambivalente. Klar ist: Im Zweifel tanzt man im neoliberalen Pleistozän allein. – Life is what you make it!
II. Technik, Tanz und Popkultur
Dabei veränderte die elektronische Musik das Tanzverhalten fast global gravierend. Vor allem die technische Intensivierung der Bässe und die Erfindung der Rhythmusmaschine können als die gewichtigsten und substantiellsten Interventionen gewertet werden. Es sind technische Neuerungen, die reduzieren, rationieren und gleichmachen – bloßes Verhältnis zum nackten organischen Körper herstellen, weniger ein intellektuelles oder herzliches, wie Symphonieorchester oder Band.
Davon hätte Nietzsche wahrscheinlich mehr geahnt als gewusst. Die Formen der beschienen kalten Mengen, die wir aus der heutigen Clubkultur mit ihrem elektronischen Kult kennen, konnten ihm noch nicht bekannt sein. Die Tanzkonventionen seiner Zeit sind erst dabei sich zu emanzipieren. Gesellschaftstanz, Volkstanz und das Ballett dominieren die entsprechenden gesellschaftlichen Felder. Die Massenkultur und exotische Popgrößen wie Josephine Baker – obwohl das Varieté bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt – sind erst dabei, Embleme einer sich formierenden popkulturellen Massenbasis zu werden. Zum Varieté hat sich Nietzsche – soweit mir bekannt ist – nicht geäußert.
Er schreibt über Dionysien und Saturnalien, den Rausch und das Theater. Er ist auf der Suche nach dem Anthropologischen, dem Triebhaften, Instinkt- und Intensiven. Folgen wir der dionysischen Spur: Die ganze Erde ein Tanzlokal? Ein Gesellschaftstanz, am Morgen zur Arbeit, dann bewegungslos wie die Sterne am Himmel und abends sich ins Bett tanzen? Die Welt, das Vexierbild eines Tauben? Tanzlokal der Lebenden? Wie könnten Sterne tanzen? – Das allen bekannte und schon abgeschmackte Nietzschezitat von dem chaotischen Himmelskörper steht zentral in der Vorrede seines Zarathustra – genauer, seiner Rede vom „letzten Menschen“. Im Anschluss an diese tritt der berühmte verunglückende Seiltänzer auf. Die Sentenz erklärt das Chaos im Innern zur Bedingung der Erreichung eines höchsten Ideals. Der Zeitpunkt ist entscheidend: „Wehe! Es kommt eine Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe!“4
In den zu Lebzeiten veröffentlichten Werken der digitalisierten kritischen Ausgabe kommt die Stammsilbe „tanz*“ gerade einmal in 69 von 3287 Textabschnitten vor, und das nur selten in einem explizit analytischen Kontext. In Nietzsches philosophischer Reflexion am prominentesten in der Geburt der Tragödie:
Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung [...]. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.5
Die Tanz-Metapher ist bei Nietzsche weniger präsent, als mancher vermuten könnte, und fällt im Ganzen vermutlich mit dem Konzept des „Dionysischen“ zusammen, der Wendung zur reflexionslosen, irrationalen Bejahung des Lebens, der körperlichen Überwindung des Denkens:
Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!6
III. Symbol für was? Sprechen wozu?
Da von Symbolik die Rede ist, müssen wir für einen Moment semiologisch werden: Was bedeutet eine Geste, eine Bewegung? Die Zeichenkette eines ordinären Tanzes zu decodieren stellt sich ungeheuer schwierig dar, und ihre Elemente – wie kaum andere Codierungen – sind zugleich anthropologisch und kulturell bedingt. Selbst auf TikTok trägt jeder Trend eine gestische Zeichenkette, die, selbst bei einer Frame-by-Frame-Analyse, sehr unklaren Inhalt transportiert, wobei die Form einer sozialen Beziehung unter Menschen die hervorhebenswerteste Dimension zu sein scheint; etwa die Praktik der Nachahmung oder Einreihung. Das semiologische Problem ist dabei entscheidend mit den unmittelbaren Übergängen, die wir als Bewegung bezeichnen, verbunden, die, wie in einer Symphonie, den guten vom schlechten Tänzer scheiden. Es verhält sich dabei in etwa wie mit dem Pfeilparadoxon von Zenon von Elea, demzufolge eine Bewegung aus unendlich vielen Punkten des Stillstands bestünde und insofern fraglich sei, wie es sie überhaupt geben könne. Für unseren Fall wirft es die Problematik auf, ob die einzelne Geste das sinngebende Element des Tanzes ist oder ihre Veränderung, ohne die Tanz als Bewegung unmöglich wäre.
Nietzsche legte später in Menschliches, Allzumenschliches diese semiotische Dimension explizit offen:
Gebärde und Sprache. – Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können [...]. Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: […]. Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses [...]. – Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Symbolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. – […] [W]ährend zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. [...]7
Tanz ist also doppelt codiert, selbstreferentiell. Hinter dem Code steht ein Code der Konventionen eines entsprechenden medialen und gesellschaftlichen Feldes. Was die Seite der Reflexion betrifft, hat der Tanz zwei Dimensionen, den Freistil und die geübte Bewegung. Der große Tänzer verfügt wahrscheinlich über beides, entspricht aber letztlich dem Freistil. Dahinter die Idee des talentierten Genies, das allein seinem Gefühlsausdrucks halber die Form findet, ein direkter Transistor wird – Lyrik der Bewegung. Darüber hinaus, spekulativ und im Sinne Nietzsches, spricht der Tanz das Unsagbare in anderem, visuellen und subjektiven Code aus. Ein zweites bekanntes Zitat, das diese semiotische Dimension des Körpers zeigt, stammt ebenfalls aus dem ersten Buch des Zarathustra. Nietzsches Prophet verkündet, er „würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.“ Interessanterweise aus einem Abschnitt, der Vom Lesen und Schreiben handelt: „Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. […] Ich hasse die lesenden Müssiggänger. […] Noch ein Jahrhundert Leser und – der Geist selber wird stinken.“8
IV. Tänzer, warum kannst du nicht sprechen?
Wie Sie sehen: Hier gibt es viel mehr Fragen als Antworten. Vielleicht mag hier zuletzt noch auf Elfriede Jelinek hingewiesen werden, die mit ihrer Inszenierung Ein Sportstück (1998) die gesellschaftlichen Bewegungsorganisationen dem Faschismus annäherte. Da ist sicher etwas dran, denn wie jeder gute Versicherungsvertreter weiß: „Je weniger du weißt, desto besser verkauft es sich.“ Ist diese Interpretation haltbar? Im Zuge einer zunehmenden Militarisierung des Sozialen zeigen sich ihre Auswirkungen im Sport, dem Fitnessstudio, dem Tanz, der seine stumme Sprache spricht und nicht immer verstanden wird. Deleuzes’ Kontrollgesellschaft überwand keineswegs die Disziplinargesellschaft Foucaults,9 sondern verbindet sich mit ihr: Wer von Kontrollgesellschaft spricht, muss fragen, wer denn den Schirmherr des Tänzers abgeben soll? Wer ihn diszipliniert, ist eindeutig. Der Tänzer will die eigene Verschließung, den Drill, die Autorität des Tanzlehrers. Aber wer kontrolliert? – Der Weg führt zurück: Es ist wieder der Blick, die Reflexion. Weil der Blick in Social Media anonym ist, aber seine Urteile maschinell gesteuert durch Likes, Shares, Referenzen durch Bewunderer und Hater abgibt, nimmt er die Form eines vieläugigen Phantasmas an, das man als „Gemeinwillen“ bezeichnen könnte.
Da dieser Wille am wenigsten real ist und nur als kollektiver und unsystematischer, als vertraute Einpflanzung existiert – als eine vermeintlich notwendige Verallgemeinerung dessen, was Tanz ist, ausdrücken soll und kann, vor allem, wie er auszusehen hat – stellt er sich als ein Schutzmechanismus gegen die Angst (der Angst vor dem Kontrollverlust), der die ideellen kleineren oder größeren Gemeinschaften in ihrem dadurch vermittelten real-körperlichen, heißt, tänzerischem Selbstgefühl schützen soll, dar.
Kurz, das Argusauge wacht über den Tänzer, aber dadurch, dass er selbst sein Augapfel wird. (Normalfall der Dressur und Disziplinierung.) Da fällt das Loslassen nicht mehr schwer, ist die Reflexion erst suspendiert.
Unfassbar romantisch und unschuldig dagegen die heiteren Tanzlieder Nietzsches, die den meisten Rezipienten wahrscheinlich nicht im Gedächtnis geblieben sind, gehörten sie doch nicht zu den stärksten der modernen Lyrik. So ist Zarathustras Tanzlied keineswegs wirklich eines – und Das anderes Tanzlied10 am Ende des dritten Buches ohnehin ein zu vernachlässigender lyrischer Erguss –, sondern eine kleine Reflexion über das Leben, „ein Tanz- und Spottlied auf den schweren Geist“:
In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! […] [S]pöttisch lachtest du, als ich dich unergründlich nannte. „So geht die Rede aller Fische, sprachst du; was sie nicht ergründen, ist unergründlich. […]“ […] Als aber der Tanz zu Ende und die Mädchen fortgegangen waren, wurde er traurig.11
Vielleicht ist diese Idealisierung des Tanzes am Ende erinnerungswürdig und wertvoll für unser Bewusstsein, weil sie zeigt, dass er auch anders sein kann.
Jonas Pohler wurde 1995 in Hannover geboren. Er studierte Germanistik in Leipzig und schloss das Studium mit einem Master zum Thema „Theorie des Expressionismus und bei Franz Werfel“ ab. Er arbeitet jetzt in Leipzig als Sprachlehrer und engagiert sich in der Integrationsarbeit.
Fußnoten
1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 105.
2: „Ich werde ihnen erzählen, dass Du meine Religion bist. […] Wir sind nicht nur Kunst – für Michelangelo herauszumeißeln [/] – er kann den Ärger aus meinem wütenden Herz nicht umschreiben.“
3: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 206.
4: Also sprach Zarathustra, Vorrede 5.
5: Die Geburt der Tragödie, Abs. 1.
6: Die Geburt der Tragödie, Abs. 2.
7: Menschliches Allzumenschliches I, Aph. 216.
8: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.
9: Anm. d. Red.: In dem Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften vertrat Gilles Deleuze 1990 die These, dass das, was Foucault als „Disziplinargesellschaften“ bezeichnet hatte – also Gesellschaften wie die moderne des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, in der Macht vor allem durch individuelle Disziplinierungsmethoden ausgeübt wird (Drill, Training, Ausbildung …) – in seiner Gegenwart durch den Typus der „Kontrollgesellschaft“ ersetzt worden sei, in der es weniger um individuell verinnerlichte Disziplin gehe, sondern die technisch gestützte Überwachung der Bevölkerung, um Grenzübertritte zu ahnden. Dies bringe scheinbar größere Spielräume der individuellen Freiheit mit sich, sei jedoch in Wahrheit nicht weniger repressiv.