Ist Nietzsche ein Pubertätsphilosoph?

3.5.24
Natalie Schulte
In ihrem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ geht unsere Stammautorin Natalie Schulte der Frage nach, ob man den Denker als „Pubertätsphilosophen“ bezeichnen kann und berichtet über ihre eigene Beziehung zu ihm.

In ihrem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ geht unsere Stammautorin Natalie Schulte der Frage nach, ob man den Denker als „Pubertätsphilosophen“ bezeichnen kann und berichtet über ihre eigene Beziehung zu ihm.

Ja, genau, ich leugne es nicht länger, weigere mich nicht, nein, ich gebe es zu, ich gehöre zu denjenigen, die Nietzsches Zarathustra mit 15 Jahren mit Taschenlampe im Bett gelesen haben und sich dem Ideal des Übermenschen, nun, sagen wir mal, recht verbunden fühlten. Gehörte zu den kleinen frühreifen Atheistchen, die jedem noch so aufgeklärten Religionslehrer richtig auf den Senkel gehen, gehörte zu denjenigen, die sich gemeint gefühlt haben, wenn Nietzsche von dem ominösen „wir“ geschrieben hat. Und dann kommt noch hinzu, ich bin niemals davon losgekommen. Ich bin hängen geblieben, bei Nietzsche oder vielleicht auf Nietzsche, habe Abschlussarbeiten über ihn geschrieben und meine Dissertation. Anzumerken ist, zwischendurch gab es auch andere, Kant beispielsweise oder Husserl, aber davon soll dieser Artikel nicht handeln, sondern nur von dem einen, von dem ich nicht losgekommen bin, von dem ich wahrscheinlich nicht wieder loskommen werde, denn seiner einprägsamen Zitate sei Dank sitzt ein kleiner Nietzsche in meinem Kopf und gibt gelegentlich – zum Glück nur gelegentlich! – seinen Senf hinzu.  

Aber warum, so können wir zunächst unbedarft fragen, sollte Nietzsche überhaupt ein Pubertätsphilosoph sein und was impliziert dieser Vorwurf? Nietzsche hoffte lange Zeit auf eine angemessene Reaktion auf seine Philosophie, zumindest auf eine etwas größere Leserschaft, die ihm aber verwehrt blieb. In einem Paket an Mutter und Schwester sendete er unverkaufte Exemplare des Zarathustra als „Bücher-Ballen“ und schrieb lakonisch dazu: „[S]tellt ihn hübsch in eine Ecke und laßt ihn schimmeln“1. In seinen Büchern hadert er mit den Lesern, wünscht sich die richtigen, die Auserwählten und imaginiert sich Millionen von Lesern in Ecce Homo, um dann doch zu fragen: „Hat man mich verstanden?“2. Es gibt gegen Ende etwas intellektuelle Korrespondenz, die über das persönliche Umfeld hinausreicht, beispielsweise mit Georg Brandes, der Nietzsches Philosophie den Beinamen des „aristokratischen Radikalismus“ verpasst, der Nietzsche wohl gefällt,3  und der in der späteren Diskussion um Nietzsches fragwürdigen Ruhm für ihn eintritt. Dennoch, Nietzsche bekommt von seiner Würdigung nichts mehr mit, denn die Welle setzt ein, als er bereits der geistigen Umnachtung anheimgefallen ist. Dann allerdings ist die Woge gewaltig, unter Literaten und unter Künstlern. Gottfried Benn urteilt stellvertretend für eine – seine – ganze Generation: „Er [Nietzsche] ist [...] der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche“4. Schließlich muss auch die akademische Philosophie von ihm Notiz nehmen, aber selbstreflektierend fragt sie: Sollte sie das überhaupt? Ist Nietzsche nicht nur ein „Modephilosoph“ (Heinrich Rickert), ein dekadenter, zerstörerischer Aphorismenschreiber, der anstatt zu argumentieren die Leser und Leserinnen mit einprägsamen Bildern überwältigt? Ist Nietzsche nicht vielmehr unter die Künstler und Dichter, wie Alois Riehl zu zeigen versucht,5 zu rechnen, und nur ein wenig, etwas nachhinkend sozusagen, unter die Denker?

Einige wie Ludwig Stein und Ferdinand Tönnies wünschen Nietzsches Einfluss zurückzudrängen, ihnen bangt vor den moralischen und politischen Implikationen, die sie durch Nietzsches Philosophie heraufbeschworen sehen. Ein Amoralismus breche sich in ihr Bahn, eine intellektuelle Zerstörungslust ohne Gleichen. Blind sei, wer nicht erkenne, dass diese Philosophie aufs Schärfste zurückgewiesen werden müsse.

Unter all den harten Vorwürfen wie moralische Verkommenheit, Geisteskrankheit, mangelnde Argumentationsstärke und kaum vorhandene Originalität findet sich auch derjenige von Nietzsches Anziehungskraft auf junge, emotionale und geistig noch nicht stark entwickelte Charaktere, also kurz gesagt – Jugendliche. Diese seien aufgrund ihres heftigen Wunsches nach eigener Genialität, wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit und unreifer Emotionalität besonders geeignet, von einer solchen Philosophie verführt zu werden. Obwohl der Vorwurf geistiger Verführung der Jugend gegenüber einem Philosophen fast so alt ist wie die Philosophie selbst, können wir uns tatsächlich fragen, ob es nicht etwas gibt, das Nietzsche gerade für Jugendliche anziehend macht und es unter Umständen rechtfertigen würde, dass die Herren und Damen Kollegen auch heute noch mit leichter Belustigung auf ihre werten Nietzscheforschenden blicken?

Wer etwas Nietzsche gelesen hat, wird nicht leugnen können, dass dieser in der Sprache der Eindringlichkeit spricht, dass er fordert und warnt, ihm auf seinen Gedankenwegen zu folgen, dass er Persönlichkeitsentwicklungen wie die der freien Geister beschreibt, die wie ein Abenteuer anmuten. Und abenteuerlich ist auch sein Vokabular, es geht auf Ab- und Seitenwege, in Dickichte, das Denken schifft auf hohem Meer, sucht nach neuen Ufern und unentdeckten Ländern, fliegt von Gipfeln in allertiefste Abgründe, ist auf der Jagd und muss befürchten, gejagt zu werden. Dieses Denken ist feuriges Dasein und fordert vom Adepten nichts weniger als das eigene Leben zu ändern, zumindest aber auf den Prüfstand zu stellen, denn „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?“6 muss sich der Mutige fragen. Dabei bleiben die Metaphern unbestimmt, jeder muss selbst interpretierend eingreifen und deuten, was beispielsweise mit dem Appell zum Häuserbau am Vesuv7 gemeint sein könnte. Es gibt in Nietzsches Philosophie etwas Rastloses, etwas, das bloß nicht stillstehen will, eine Sehnsucht nach der Fremde und den eigenen Entdeckungen, die so groß ist, dass die Liebe zur bisherigen geistigen Heimat in Verachtung umschlagen kann: „Lieber sterben als hier leben“8. Es ist ein Aufbruch ins Ungewisse, das nur schillernd hin und wieder Hinweise darauf gibt oder zu geben scheint, was es ist: Ist es die „grosse Politik“9 oder doch ein Leben als Künstler? Geht es darum, die hiesige Kulturlandschaft zu revolutionieren oder um bloße Selbstgestaltung? Darum, das Glück im Moment oder in momentaner Ewigkeit zu finden oder nicht doch um das eigene Werk?

Und ist all das etwa nicht die perfekte Philosophie für Jugendliche? All das Drängen und Sehnen? Der Wunsch, auserwählt zu sein, eine „eigentliche“ Aufgabe zu haben, und immer die beredte Verachtung für die Behaglichkeit des sich Einrichtens in heimeliger Gemeinschaft, sprich die alltägliche Erwachsenenwelt, wo man sich abgefunden hat, pragmatisch ist und möglicherweise eine realistische, wir können aber auch sagen: ideallose, Selbsteinschätzung gewonnen hat. Und all das wird einem nicht in langer, trockener Abhandlung präsentiert, sondern in kleinen, sprachlich brillanten Häppchen. Man kann das Buch an beliebiger Stelle aufschlagen und sich einen eleganten Spruch einverleiben, da baut doch nichts aufeinander auf, da zielt es nirgendwo in Richtung eines Fazits. Und es fehlt auch die strenge Begriffsarbeit, welche die philosophischen Bücher so öde gestalten, keine zig Definitionen, keine faden Syllogismen. Fachtermini Fehlanzeige und die wenigen unverständlichen, weil beispielsweise lateinischen, Passagen kann man getrost überspringen. Es sind – auch auf die Gefahr hin, einige Nietzsche-Experten zu brüskieren, die behaupten, dass man ihn nicht verstehen könnte, ohne weitreichende Kenntnisse griechischer oder schopenhauerischer oder weiß der Geier welcher Philosophie – Bücher, die wirklich jeder lesen kann und jeder deuten darf. Sie setzen auch kein philosophisches Vorwissen voraus, aber geben ab und zu ein kleines Aperçu zu einem vorgängigen prominenten Denker zum Besten, sodass dem jungen Leser auch gleich die richtigen Vorurteile für sein weiteres Studium mit auf den Weg gegeben werden.

Vielleicht, so können wir gnädigerweise eingestehen, ist es ja ganz schön, wenn jemand durch Nietzsche seinen Weg zur steinigen Philosophie findet, aber was, wenn er dabei bleibt? Sollte man nicht irgendwann den Weg zu einem ernsthaften Philosophieren finden und den pathosgeladenen Ballast hinter sich lassen, sich nüchterner und gelassener mit den Themen auseinandersetzen und gar einen produktiven Beitrag leisten in einer humanitären Gesellschaft, auf die Nietzsche – entschuldigen Sie bitte – gespuckt hätte?

So leicht ist es mit der Bewunderung für Nietzsche allerdings nicht und war es auch schon als Jugendliche nicht. Es gab zu viele Thesen, die nicht nur leicht und spöttisch waren, es gab auch Passagen von triefender Verachtung für die Schwachen, die Mitleidigen, es gab die bösartigen Kommentare über Frauen und die Beschwörung von Führern, wie die Erde sie noch nicht gesehen hat10. „Bist du ein Nietzsche-Fan?“, hat man mich gefragt, als ich Jenseits von Gut und Böse las. Nein, denn es ist unmöglich, ein Nietzsche-Fan zu sein. Es ist zum einen unmöglich, weil es so viele gegensätzliche Thesen gibt, dass kritiklose Zustimmung einen nur in unauflösbare Widersprüche verheddert, die schwerlich zu ignorieren sind. Es ist zum anderen unmöglich, weil Nietzsche sich größte Mühe gegeben hat, nicht sympathisch gefunden zu werden, auch wenn er selbst anderes behauptet. Und es ist ihm gelungen. Nur wer kein Unbehagen bei der maßlosen Selbsterhöhung von Ecce Homo empfindet, keinen Widerwillen beim Sprechen über die „Missrathnen“11, keine Abneigung gegen den Schwulst eines von Tauben und Löwen geliebkosten Zarathustra12 kann in den Rang eines Nietzsche-Fans erhoben werden. Und das muss auch unter Nietzscheanern eine seltene Gattung sein. Ja, man wird angezogen von etwas, das dem eigenen Geschmack zusagt, das ein „Mehr von Leben“  verlangt – und dasjenige, von dem man abgestoßen wird, das gibt Rätsel auf. Welche Aussage von Nietzsche ist die wahre? Diejenige, die ich befürworte oder die, die ich ablehne? Was hat er „eigentlich“ gemeint? Man glaubt, Nietzsche sei der Philosoph der Leidenschaft? Weit gefehlt ... Wie sehr warnt er in Menschliches Allzumenschliches vor der Romantik, im Zarathustra vor der lächerlich-selbstbetrügerischen Projektionskraft der Dichter und Philosophen, wie häufig versucht er zu enttarnen, wie unsere Wünsche und Leidenschaften unser Denken deformieren und – krank machen. Man vergesse nicht: Voltaire, nicht Rousseau ist Menschliches Allzumenschliches gewidmet.  

Hinter jede Aussage über das, was Nietzsche eigentlich meinte, ist zunächst ein Fragezeichen zu setzen. Und mit der Frage beginnt das eigene Philosophieren. Was spricht dafür, dass Nietzsche es so meint und was dagegen? Was wünschst du dir selbst, wenn du Nietzsche so interpretierst? Wie würdest du dafür und wie dagegen halten?

Nietzsche wird nicht klarer mit der Zeit, nicht durchsichtiger. Er wird im Gegenteil immer vielfältiger, immer changierender, ambig. Was ist von einem Pastorensohn zu halten, der im Antichrist mitten in einer Tirade gegen das Schwache, das „Missrathene“, Christliche schreibt, dass jeder, der „Theologen-Blut im Leibe hat [...] von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich“13 stehe? Ist das eine Selbstwiderlegung, ist das Blut geistig zu verstehen, ist das verrückt? Oder spielt da jemand mit dem Leser? Ironisiert sich da jemand, der sich zuweilen als „Hanswurst“14  beschreibt?

Wer ist Nietzsche? Was ist seine Philosophie?

Er lässt einen nicht in Ruhe, er führt in ein Labyrinth, in dem es weniger um das Ergebnis eines Denkens geht als um die vielfältigen Bewegungsrichtungen und schließlich auch um die Sackgassen, die Fehlschläge, die Winkel.  

Man kommt dabei nicht umhin festzustellen, dass das ein oder andere verloren geht, an das man gern geglaubt hätte. Es kann passieren, dass zum Lachen reizt, was andere rührend oder erhebend finden, es kann auch sein, dass die Skepsis gelegentlich gegen sich selbst gerichtet wird bei den wärmenden Gefühlen der Anteilnahme und des Mitleids. Man kommt aus der Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie nicht unbeschadet hinaus, aber möglicherweise mit mehr Perspektiven, einem weiteren Horizont und einer Fragwürdigkeit, die das Dasein spannender schillern lässt als jede Antwort, die zufriedengestellt hätte.  

Quellen

Benn, Gottfried: Doppelleben. In: Autobiographische und Vermischte Schriften Bd. 4. Wiesbaden 1977.

Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker. Schutterwald 2000.

Fußnoten

1: Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 16. 4. 1885.

2: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 7.

3: Vgl. Brief an Georg Brandes vom 2. 12. 1887.

4: Benn, Doppelleben, S. 154.

5: Vgl. seine Monographie Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker von 1897.

6: Ecce homo, Vorwort, 3.

7: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 283.

8: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.

9: Vgl. etwa Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.

10: Vgl. Jenseits von Gut und Böse, 10.

11: Der Antichrist, 2.

12: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Zeichen.

13: Der Antichrist, 9.

14: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.