Werner Herzog (geb. 1942), von Linus Wörffel als „Mythomane“ bezeichnet, und Klaus Kinski (1926–1991) zählen zu den führenden Gestalten des deutschen Nachkriegskinos. Der Filmemacher und der Schauspieler drehten in den 70er und 80er Jahren fünf Spielfilme, die zu den Klassikern der Geschichte des Mediums zählen. Es sind Hymnen an einen tragischen Heroismus, in denen sich unschwer der Geist Nietzsches erkennen lässt. Aus „Baut eure Städte an den Vesuv!“ wird „Baut Opernhäuser im Regenwald!“.
Fremde erscheinen vielen unheimlich. Prompt befürchten sie, dass diese Fremden ihnen schaden. Viele passabel Verdienende halten Bürgergeldempfänger für faul und gönnen diesen daher die staatliche Unterstützung nicht. Vielen Gebildeten erscheinen Ungebildete grob und einfältig, mit denen sie daher möglichst nichts zu tun haben wollen, denen sie nicht trauen. Religiöse Menschen fürchten sich oft vor Atheisten, die ihrerseits Berührungsängste vor der Religion haben. Was man nicht kennt, erscheint häufig als gefährlich und das wertet man vorschnell ab. Solcherart Vorurteile führen zur Ablehnung, die sich häufig so verfestigt, dass Gegenargumente gar nicht mehr gehört werden. Das ist Ressentiment, das es schon lange gibt, das aber heute in vielen politischen und sozialen Debatten Konsens fast unmöglich macht. Das kann in Hass und Verachtung ausarten und daran anschließend in Gewalt ob zwischen Arm und Reich, Rechts und Links, Machos und Feministinnen, Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern, Vegetariern und Fleischessern. Wenn sich eine Seite durchsetzt, zwingt sie den anderen ihre Werte auf, wird das Ressentiment sogar schöpferisch. Allemal verhindert es, dass man sich darum bemüht, den anderen zu verstehen. Für Nietzsche treibt das Ressentiment seit langem den Streit über das moralisch Gebotene.
„Ressentiment“ ist einer der Schlüsselbegriffe von Nietzsches Spätwerk. Der Philosoph meint damit einen verinnerlichten und verfestigten Affekt der Rache, der zur Herausbildung eines insgesamt verneinenden Weltzugangs führt. Insbesondere in Zur Genealogie der Moral versucht Nietzsche zu zeigen, dass die gesamte europäische Kultur seit dem Aufstieg des Christentums auf diesem Affekt fuße. Judentum und Christentum propagierten in ihrem Hass auf die Aristokraten eine Ethik der Schwachen – in diesem Akt werde das Ressentiment kreativ. Nietzsche will nun mit einer neuen kreativen Ethik zu einer neuerlichen Umwertung der Werte beitragen, um zu einer lebensbejahenden aristokratischen Ethik der „Starken“ zurückzufinden. Hans-Martin Schönherr-Mann führt in diesem Artikel in Nietzsches Überlegungen zum Ressentiment ein und arbeitet heraus, was den gegenseitigen Ressentiment-Vorwurf bis heute so populär macht.
In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.
Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.
In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“
Vom 7. bis 11. Oktober 2024 fand in Weimar die von der Klassik Stiftung Weimar organisierte Veranstaltung Nietzsches Zukünfte. Global Conference on the Futures of Nietzsche statt. Unser Stammautor Paul Stephan war am ersten Tag vor Ort und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der akademischen Diskussionen um Nietzsche. Seine Frage: Wie ist es um die Zukunft der akademischen Nietzsche-Forschung bestellt, wenn man sie aus der Perspektive von Nietzsches eigenem radikalen Verständnis von Zukunft heraus betrachtet?
Nietzsches Übermensch ist tot. Kaum einer kann noch etwas mit dieser obskuren Idee anfangen. Möchte man meinen. Und doch begegnen einem im aktuellen Startup-Milieu zahlreiche Versatzstücke aus Zarathustras Verheißung. Was hat es damit auf sich? – Natalie Schulte widmet sich anlässlich von Nietzsches 180. Geburtstag diesem eigenartigen Fortleben einer der bekanntesten Konzepte des Philosophen. Ein Plädoyer dafür, sich Nietzsches Idee trotz ihrer vergangenen und gegenwärtigen Missdeutungen doch noch einmal genauer anzusehen.
Hinweis der Redaktion: Längere englische Zitate haben wir in den Fußnoten selbst ins Deutsche übersetzt.
Seit 1994 befindet sich in jenem Haus in Naumburg, in welchem Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 mit seiner Mutter mehrere Jahre lang lebte, ein Leben und Werk gewidmetes Museum. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums seines Bestehens wurde die Dauerausstellung des Nietzsche-Hauses vollständig umgestaltet, kuratiert vom Berliner Philosophen Daniel Tyradellis. Unser Stammautor Lukas Meisner war vor Ort und hat sie sich angesehen.
In ihrem Beitrag zur Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ geht unsere Stammautorin Natalie Schulte der Frage nach, ob man den Denker als „Pubertätsphilosophen“ bezeichnen kann und berichtet über ihre eigene Beziehung zu ihm.