Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

5.5.25
Paul Stephan

Wie in unserer Artikelserie „Wanderungen mit Nietzsche“ bereits deutlich wurde, spielt die Metapher des Wanderns in Nietzsches Werk eine fundamentale Rolle. In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient und er damit ein zentrales Leitthema der kulturellen Moderne variiert, das sich u. a. auch den Schriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren wurde, wo er am 11. November 1855 auch verstarb, entnehmen lässt.

I. Das moderne Leben als Wanderschaft über dem Nebelmeer

Metaphern der Bewegung dienen seit jeher der Beschreibung von Grundmodi der Existenz. Im Sinne von Hans Blumenbergs Konzept der „absoluten Metapher“ verdichtet sich in ihnen das Lebensgefühl einer ganzen Kultur und anhand von ihnen lässt sich ablesen, was ihr Weltzugang ist. Insofern die Menschen ihr Leben überhaupt in einer Bewegungsmetapher beschreiben, wäre zu differenzieren zwischen dem Ziel der Bewegung und der Art, wie dieses Ziel erreicht wird. Man denke an die Irrfahrten des Odysseus oder den Kreuzweg Christi als sinnstiftende Erzmythen, an die mittelalterlichen Vorstellungen vom Leben als einer die Passion wiederholenden Pilgerfahrt oder als Seefahrt, die einmal durch alle Stürme und Gefahren hindurch doch in einem sicheren Hafen, dem Himmelreich, münden wird.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in der Moderne, wird es immer weniger plausibel, das Leben als eine Bewegung zu interpretieren, die mit irgendeinem Ziel verbunden ist. Jean-Jacques Rousseau etwa als Vorläufer des modernen Weltempfindens inszeniert sich in seinen Schriften als einsamer Wanderer und Spaziergänger, der „like a rolling stone“ von den Zufällen des Lebens hin- und hergeworfen wird, ohne ernsthaft darauf hoffen zu können, jemals an ein Ziel zu kommen – jedenfalls in dieser Welt. Eine Verschnaufpause erlebt er nur im isolierten Naturgenuss, fernab von der sich entwickelnden industriellen Hektik der Städte; insbesondere am Bieler See, wo er auf der Flucht aus Frankreich einige Wochen verweilt, und in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers davon berichtet, wie ihn dort, auf einem Boot ziellos auf dem Wasser treibend, ein kurzer Augenblick höchsten Glücks ereilt. Etwa 200 Jahre später wird Adorno in dem berühmten Aphorismus Sur l’Eau – „Auf dem Wasser“ – diese Metapher aufgreifen und zum utopischen Leitbild umdeuten: Der Glauben der klassischen Moderne an einen permanenten Fort–Schritt der Menschen hat sich als ewige Hetzjagd, als sinnloses „Vorlaufen in den Tod“ entpuppt, das der Emigrant, ganz im Geiste des „Bürgers von Genf“ und sehr anders als Heidegger, nicht mehr heroisch bejahen möchte, sondern ihm die Vision einer Menschheit entgegenstellt, die nicht mehr zwanghaft irgendetwas nachjagen müsste. Der letzte Traum des modernen Menschen: einfach mal zur Ruhe kommen.

Die Moderne schwankt so zwischen dem Leiden an der ewigen Rastlosigkeit und der gleichzeitigen Sehnsucht nach Stille und ruhigem Dahingleiten einerseits und verschiedenen Weisen der Bejahung dieses Schicksals andererseits; sei es als Fortschrittserzählung – die freilich kein rechtes „Ende der Geschichte“ mehr auszurufen vermag, sondern nur noch die Permanenz immer neuer Stufen –, sei es als nihilistischer Heroismus des beständigen Vorankommens (beide Versionen nähern sich offensichtlich aneinander an), sei es schließlich als ästhetisch-spielerische Bejahung des haltlosen Tändelns und Umherschweifens, etwa in den Figuren des Dandys und des Flaneurs, die die Künstler und Literaten des 19. Jahrhunderts faszinierten.

Der Metapher des Wanders, als Kulturtechnik überhaupt erst im 18. Jahrhundert, u. a. von Schriftstellern wie dem Bergfreund Rousseau erfunden, kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Man denke nur an Caspar David Friedrichs ikonisches Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (siehe Artikelbild; um 1818), das die Cover von zahllosen Darlegungen über Existenzphilosophie ziert. Der auf sich selbst zurückgeworfene Stadtbürger sucht in der Natur nach einer Ordnung, die ihm das Chaos seiner Existenz irgendwie verständlich macht – doch findet nur Nebelschwaden und die bizarren Felsformationen (vermutlich) der Sächsischen Schweiz. Ob sich hier doch der Hauch einer Transzendenz oder das Wirrwarr wabernder Dämonen zeigt, beide Deutungen des Gemäldes scheinen möglich, ist eine Frage, die das Gemälde selbst letztendlich dem Betrachter selbst überlässt. Das Bild dominiert, anders als Landschaftsgemälden früherer Dekaden, nun nicht mehr die Natur, sondern der Mensch, dem sie immer mehr zur reinen Projektionsfläche gerinnt.

Caspar David Friedrich: Die Lebensstufen (um 1835)

II. Wanderungen durch Jütland, Spaziergänge durch Kopenhagen

Nietzsches vielleicht wichtigster geistiger Weggefährte im 19. Jahrhundert, der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, hat in dem tagebuchartigen Roman „Schuldig?“ – Nicht Schuldig?“ mit Quidam den vielleicht ersten „Helden“, wenn man ihn überhaupt noch so nennen kann, der modernen Existenz geschaffen. Einen ewig zweifelnden „dämonischen“ Menschen, der daran zu Grunde geht, sich nicht sicher zu sein, ob er ein „Mädchen“ liebt oder nicht, der gleichzeitig meint, sie lieben zu müssen, aber nicht lieben zu können. Ist er schuldig – oder nicht? Ähnlich wie später K. in Kafkas Protokollen des Normalwahnsinn moderner Individualität vermag er es sich nicht zu beantworten und kreist so im „Adlerhorst“ seiner verlorenen Existenz. Er beschreibt den Blick ins Nichts, den Friedrichs Wanderer wagt, wie folgt:

[N]ach Etwas ausblicken, schärft das Auge, aber nach Nichts ausblicken, strengt es an. Und wenn das Auge lange nach Nichts ausblickt, so sieht es zu guter Letzt sich selbst, d. h. sein eignes Sehen; ebenso zwingt die Leere um mich herum meinen Gedanken wieder in mich selbst zurück.1

Ganz ähnlich wird Nietzsche später schreiben: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“2.

Doch lässt sich diese unstete Lebensform nicht auch genießen, anders als Quidam und K., die verzweifelt nach einem Ausweg suchen? Kierkegaard hat in seinem anderen großen Tagebuchroman, dem Tagebuch des Verführers, als einer der ersten die Phänomenologie eines solchen Dandytums verfasst. Sein Verführer ist davon besessen, immer wieder den Rausch der Verliebtheit zu erleben und inszeniert diese als ästhetisches Spektakel mit immer neuen „Mädchen“ als unfreiwilligen Statistinnen, die er mit manipulativen Methoden in seinen Bann zieht, bis sie ihm verfallen und langweilig werden – das Püppchen hat dann seinen Dienst getan und wird durch eine Nachfolgerin ersetzt.

Man mag sich darin wiedererkennen – oder auch nicht. Der Verführer mag sein Leben genießen, doch Zweifel sind angebracht, ob er in seiner Getriebenheit nicht dem religiösen Quidam in Wahrheit viel ähnlicher ist, als ihm lieb ist. Jener weiß im Gegensatz zu diesem nur nicht, dass er verzweifelt ist – in Kierkegaards Analyse sind sie es beide. In der Einleitung des Diariums vergleicht der fiktive Herausgeber der Schrift, der „Aesthetiker“ A, das unstete Dasein dieses, wenn auch subtiler agierenden, Prototyps der heutigen pick up-artists nicht von ungefähr mit demjenigen eines rastlosen Wanderers:

Gleich wie er andre irregeführt hat, so wird er, denk’ ich, damit enden, selber irrezugehen. Die andern hat er nicht in äußerlicher Hinsicht irregeführt, sondern in inwendiger betreffs ihrer selbst. Es liegt etwas Empörendes darin, wenn jemand einen Wanderer, der des Weges halben ratlos ist, auf verkehrte Pfade lenkt, und ihn dann als Verirrten sich selbst überläßt, und wie wenig bedeutet das doch im Vergleich damit, einen Menschen dahin zu bringen, daß er in sich selbst irregeht. Der irregehende Wandrer hat doch den Trost, daß die Gegend um ihn sich fort und fort verändert, und mit jeder Veränderung erzeugt sich eine Hoffnung, daß er einen Ausweg finden werde; wer in sich selbst irregeht, hat kein großes Gebiet, auf dem er sich bewegen kann, er merkt bald, daß es ein Gehen im Kreise ist, aus dem er nicht herauskommt. Ebenso, denk ich, wird es auch ihm ergehen nach einem Maßstabe, der noch weit furchtbarer ist. Ich kann mir nichts Gequälteres denken als einen intriganten Kopf, welcher den Faden verliert, und nun seinen ganzen Scharfsinn wider sich selbst kehrt, während das Gewissen erwacht und es gilt, sich aus diesem Irrsal loszureißen. Vergebens hat er viele Ausgänge bei seinem Fuchsbau, in dem Augenblick, da seine geängstete Seele bereits glaubt, sie sehe das Tageslicht einfallen, zeigt es sich, daß es ein neuer Eingang ist, und dergestelt sucht er gleich einem aufgescheuchten Wilde, von der Verzweiflung verfolgt, immerzu einen Ausgang und findet immerzu einen Eingang, durch welchen er in sich selbst zurückkehrt. Solch ein Mensch ist nicht immer das, was man etwa einen Verbrecher nennt, oft ist er selbst von seinen Intriguen getäuscht, dennoch trifft ihn eine furchtbarere Strafe als den Verbrecher; denn sogar, daß das Gewissen erwacht, ist, über ihn gesagt, ein zu ethischer Ausdruck; das Gewissen nimmt für ihn lediglich die Gestalt eines höheren Bewußtseins an, welches sich in Unruhe äußert, die ihn noch nicht einmal in tieferem Sinne anklagt, aber ihn wachhält, ihm keine Ruhe gönnt in seiner unfruchtbaren Rastlosigkeit.3

Wie dieser Verzweiflung im Herzen der eigenen Seele, wie dem modernen Nihilismus entkommen? Kierkegaards Lösung: Der „Sprung in den Glauben“; wieder zum Pilger werden, das Leben wieder als Kreuzweg in den Fußstapfen Christi und der Märtyrer betrachten lernen. Diese Bejahung des Lebens als Gewaltmarsch ist es, die Quidam einzig von seiner Desperation befreien könnte; er könnte es dann als göttliche Prüfung begreifen. Doch Kierkegaard betont immer wieder, dass das Subjekt nicht aus eigener Anstrengung in den Glauben gelangen, sondern dazu nur von Gott selbst berufen werden kann. – Eine einfache, allzueinfache Lösung. Man muss halt aufhören zu denken, dann wird’s Leben leicht. Ist das noch ernstzunehmende Philosophie oder schon stumpfester Wahnwitz, rhetorisch ungemein geschickt verpackt? Wohl noch nie hat einer so raffiniert, klug und wortgewandt, so: modern, für die Verblödung argumentiert.

Fortsetzung folgt ...

Quellen

Kierkegaard, Søren: „Schuldig?“ – Nicht Schuldig?“. Stadien auf des Lebens Weg, Bd. 2. Gesammelte Werke und Tagebücher. 15. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Gütersloh & München 1994.

Ders.: Das Tagebuch des Verführers. Entweder / Oder. Erster Teil, Bd. 2. Gesammelte Werke und Tagebücher. 1. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2004.

Quelle für alle verwendeten Bilder: Wikipedia

Fußnoten

1: S. 379.

2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 146.

3: S. 330 f.