Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

20.5.25
Paul Stephan
In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

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III. Von Jütland ins Engadin

Es verwundert nicht, dass sich ähnliche Schilderungen ebenso bei Nietzsche als „Seismograph“ (Ernst Jünger) der Irrungen und Wirrungen der modernen Seele finden und er dabei immer wieder auf die Metapher des Wanderns rekurriert. Auch wenn er ihn nie gelesen hat, beschrieb der staatenlose Pfarrerssohn den modernen Nihilismus in ähnlich drastischer Weise wie der gescheiterte dänische Pfarramtskandidat. Nur mit dem Ausweg ist es für den selbsterklärten „Antichrist“ weniger einfach bestellt.

Den ersten prominenten Auftritt hat das „Wandern“, das als Metapher bei Nietzsche zuvor nur vereinzelt auftritt, in der zweiten Zugabe zu Menschliches, Allzumenschliches, Der Wanderer und sein Schatten, veröffentlicht 1880. Nietzsche beschreibt dieses Werk nachträglich als den Ausdruck einer fundamentalen Krisis – „Dies war mein Minimum: ‚Der Wanderer und sein Schatten‘ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…“1 –, die jedoch zugleich seine „Genesung“, seine „Rückkehr zu mir2 eingeläutet habe. „Wanderschaft“ wird für ihn zur Metapher einer zunächst rein negativen Befreiung vom Gewohnten:

„Lieber sterben als hier leben“ – so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies „hier“, dies „zu Hause“ ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr „Pflicht“ hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth – ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: – dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen[.]3

Es ist also kein einfacher Triumph über das Althergebrachte, sondern mit der Wanderschaft begibt man sich zugleich in die Zone der Gefahr und der Unbestimmtheit. Es droht ein Selbstverlust, der vielleicht noch furchtbarer ist als die alte Gefangenschaft; eine fundamentale Orientierungslosigkeit, der Nietzsche später den Namen „Nihilismus“ geben sollte. Diese Gefahr – seinen „Schatten“ – wird Nietzsche immer wieder als seine eigene Gefahr beschreiben, den Abgrund, mit dem er sich ständig konfrontiert und der ihn immer wieder zu verschlingen droht. Die Wanderung wird manchmal eher positiv als Abenteuerfahrt,4 aber zugleich immer wieder auch als Wagnis beschrieben, als „höchst gefährliche[] Gletscher- und Eismeer-Wanderung“5, die den Wanderer ins Nichts zu führen droht; auch eine Art Kreuzweg, doch ohne Erlösung am Ende.

Nietzsche teilt mit Rousseau die Vorliebe für die Schweizer Alpen, doch es geht hier um eine ganz andere Art der Wanderschaft, auch eine ganz andere Art von Naturerfahrung. Auch wenn man sich den Menschen Nietzsche nicht gerade als Bergsteiger vorstellen darf – er war eher ein Spaziergänger, der die Gipfel vom Tal aus bestaunte –, stößt der Denker zu ihnen vor auf die Gefahr hin zu erfrieren. Kein beschauliches Ausruhen von der Unbill der Zivilisation, sondern gerade die Zuspitzung ihrer Ruhelosigkeit und Entfremdung ist es, die Nietzsche unternimmt:

Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will Nichts mehr „beweisen“; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie „beschreibt“… Dies Alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch, darüber täusche man sich nicht! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick, – ein Auge, das hinausschaut, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? um nicht zurückzuschauen?…) Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen „Wozu?“, „Umsonst!“, „Nada!“ – hier gedeiht und wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoi’sches „Mitleid“. Was aber jene andre Art von Historikern betrifft, eine vielleicht noch „modernere“ Art, eine genüssliche, wollüstige, mit dem Leben ebenso sehr als mit dem asketischen Ideal liebäugelnde Art, welche das Wort „Artist“ als Handschuh gebraucht und heute das Lob der Contemplation ganz und gar für sich in Pacht genommen hat: oh welchen Durst erregen diese süssen Geistreichen selbst noch nach Asketen und Winterlandschaften! Nein! dies „beschauliche“ Volk mag sich der Teufel holen! Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern!6

Um den hohen Preis dieses Heroismus weiß Nietzsche sehr wohl. So heißt es in einem seiner vielleicht berühmtesten Gedichte, Der Freigeist:

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:  
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem‚ der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr‚
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor‚
Was du verlorst‚ macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich‚
Zur Winter-Wanderschaft verflucht‚
Dem Rauche gleich‚
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg’‚ Vogel‚ schnarr’
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck’‚ du Narr‚
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n‚
Weh dem‚ der keine Heimat hat!7

So jedenfalls der erste Abschnitt des Poems. Doch Nietzsche fügt dem unmittelbar danach geradezu trotzig hinzu:

Daß Gott erbarm’!
Der meint‚ ich sehnte mich zurück
In’s deutsche Warm‚
In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!
Mein Freund‚ was hier
Mich hemmt und hält ist dein Verstand‚
Mitleid mit dir!
Mitleid mit deutschem Quer-Verstand! (Ebd.)

Es muss also immer weitergehen. Als einen solchen ewigen Wanderer malt sich Nietzsche auch seinen persönlichen Übermensch Zarathustra aus. Die erste Rede des dritten Buches ist mit Der Wanderer überschrieben und dort spricht der Prophet „zu seinem Herzen“ also: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger […], ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen“8. Wanderung als ein Prozess der permanenten Überwindung immer neuer Gipfel, der letztendlich in der völligen Selbstüberwindung münden muss:

Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und Hintergrund: so musst du schon über dich selber steigen, – hinan, hinauf, bis du auch deine Sterne noch unter dir hast!
Ja! Hinab auf mich selber sehn und noch auf meine Sterne: das erst hiesse mir mein Gipfel, das blieb mir noch zurück als mein letzter Gipfel! (Ebd.)

Aber bedeutet das nicht, auch noch das Ideal des Wanderns selbst zu hinterfragen? Hebt sich die Wanderschaft auf ihrem höchsten „Gipfel“ dann selbst auf und gerät in eine Sackgasse? Der Mythos der „ewigen Wiederkunft“ soll’s am Ende des dritten Buches wohl richten, insofern sich hier der ewige Schweifende als ewig Schweifender selbst bejaht.

Doch auch danach bleiben noch Zweifel, ob diese Selbstbejahung wirklich bruchlos gelingen; anders ausgedrückt: der moderne Mensch sich mit seinem Schicksal wirklich aneignend identifizieren kann. Im vierten Buch stößt Zarathustra entsprechend wiederum auf seinen Schatten. Und der beklagt sein Los in ganz ähnlichen Worten wie Nietzsche in seinem unveröffentlichten Gedicht:

Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht ewig, und auch nicht Jude bin.
Wie? Muss ich immerdar unterwegs sein? Von jedem Winde gewirbelt, unstät, fortgetrieben? Oh Erde, du wardst mir zu rund!
Auf jeder Oberfläche sass ich schon, gleich müdem Staube schlief ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben: Alles nimmt von mir, Nichts giebt, ich werde dünn, – fast gleiche ich einem Schatten.
Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am längsten nach, und, verbarg ich mich schon vor dir, so war ich doch dein bester Schatten: wo du nur gesessen hast, sass ich auch.
Mit dir bin ich in fernsten, kältesten Welten umgegangen, einem Gespenste gleich, das freiwillig über Winterdächer und Schnee läuft.
Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgend Etwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte.
Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach, – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.
Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen. Wenn der Teufel sich häutet, fällt da nicht auch sein Name ab? Der ist nämlich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht – Haut.
„Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als rother Krebs da!
Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham und aller Glaube an die Guten! Ach, wohin ist jene verlogne Unschuld, die ich einst besass, die Unschuld der Guten und ihrer edlen Lügen!
Zu oft, wahrlich, folgte ich der Wahrheit dicht auf dem Fusse: da trat sie mir vor den Kopf. Manchmal meinte ich zu lügen, und siehe! da erst traf ich – die Wahrheit.
Zu Viel klärte sich mir auf: nun geht es mich Nichts mehr an. Nichts lebt mehr, das ich liebe, – wie sollte ich noch mich selber lieben?
„Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben“: so will ich’s, so will’s auch der Heiligste. Aber, wehe! wie habe ich noch – Lust?
Habe ich – noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem mein Segel läuft?
Einen guten Wind? Ach, nur wer weiss, wohin er fährt, weiss auch, welcher Wind gut und sein Fahrwind ist.
Was blieb mir noch zurück? Ein Herz müde und frech; ein unstäter Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochnes Rückgrat.
Diess Suchen nach meinem Heim: oh Zarathustra, weisst du wohl, diess Suchen war meine Heimsuchung, es frisst mich auf.
„Wo ist – mein Heim?“ Darnach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendswo, oh ewiges – Umsonst!9

Was hat Zarathustra dieser Klage zu entgegnen? Gerät die permanente Wanderung aus sich selbst heraus zum permanenten Stillstehen, einfach, weil in ihr jede Bewegung bedeutungslos, gleich–gültig wird? Seine Antwort fällt überraschend defensiv aus:

Du bist mein Schatten! sagte er endlich, mit Traurigkeit.
Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein schlimmerer Abend kommt!
Solchen Unstäten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängniss selig. Sahst du je, wie eingefangne Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie geniessen ihre neue Sicherheit.
Hüte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht nunmehr Jegliches, das eng und fest ist.
Du hast das Ziel verloren: wehe, wie wirst du diesen Verlust verscherzen und verschmerzen? Damit – hast du auch den Weg verloren!
Du armer Schweifender, Schwärmender, du müder Schmetterling! willst du diesen Abend eine Rast und Heimstätte haben? So gehe hinauf zu meiner Höhle!
Dorthin führt der Weg zu meiner Höhle. Und jetzo will ich schnell wieder von dir davonlaufen. Schon liegt es wie ein Schatten auf mir.
Ich will allein laufen, dass es wieder hell um mich werde. Dazu muss ich noch lange lustig auf den Beinen sein. Des Abends aber wird bei mir – getanzt! (Ebd.)

Kann Zarathustra dem „Schatten“ überhaupt etwas erwidern?

Caspar David Friedrich: Frau am Meer (etwa 1818)

IV. Wandern als Tanzen

Kierkegaard wäre aus Nietzsches Sicht wohl einer jener abgefallenen Freigeister, die mutig aufbrachen, um die Höhen der Befreiung am Ende doch nicht auszuhalten und sich von einem „harte[n], strenge[n] Wahn“ einfangen lassen. Die Ziellosigkeit beschreibt er ebenso als Gefahr wie die Wahl eines beliebigen Zieles, weil man sie nicht mehr erträgt.

Kierkegaards Antwort wäre wohl: „Recht verstanden ist es ja nicht so, dass ich das Ziel – den Glauben – gewählt habe, sondern der Glaube hat mich gewählt und aus der Wüste, in die du geraten bist, herausgeführt hat. Gehe in dich, dann wirst du den Ruf auch in deinem Inneren vernehmen.“ Die Metaphorik des „Lebens“10 legt nahe, dass sich Nietzsche den Ausweg aus dem Nihilismus ähnlich vorstellt: Sich einem „etwas“ zu öffnen, das außerhalb der eigenen Subjektivität liegt und einem eine neue Orientierung gibt; dies hat bei ihm nur nichts mit der Hingabe an „Gott“ zu tun, sondern es geht ihm um die Öffnung gegenüber der Vielfalt des Lebens selbst, die zu immer neuen Zielsetzungen inspiriert. Man muss sich das, um im Bild zu bleiben, wohl so vorstellen, dass es darum ginge, sich die Marschroute immer wieder neu von der Umgebung selbst diktieren zu lassen. Es ist nur eine Frage der Perspektive: Man hat sich nicht verlaufen, man ist im Gegenteil schon immer angekommen.

Doch landet damit Nietzsche nicht selbst wieder bei einer Art von Glauben, vielleicht sogar beim abendländischen Gott, den er, nun seltsamerweise in abwertender Weise, als ewigen Wanderer beschreibt: „Inzwischen gieng er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er sass seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der grosse Cosmopolit“11. Ist das nicht Nietzsches eigener Traum, ist sein Gott nicht eigentlich der „Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt“ (ebd.)?

Die Zweideutigkeit von Emphase der Wanderung und Zweifel gehört wohl ebenso zur Existenz des Wanderers wie sein Stab und sein Schuhwerk. Wir können Nietzsches Schriften beide Dimensionen entnehmen und fühlen uns wohl unweigerlich mal zu der einen, mal zu der anderen hingezogen – weil es die Zweideutigkeit unserer eigenen Existenz ist. Wir sollten es vermeiden, eine der beiden abspalten zu wollen – denn was wären wir ohne unsere Schatten?

Der Tanz, zu dem auch Zarathustra seinen Schatten auffordert, bezeichnet eine Existenz, die genau jene Ambivalenz „[z]wischen Heiligen und Huren, [z]wischen Gott und Welt“12 auf sich zu nehmen vermag. Interessanterweise bedient sich auch Kierkegaard dieser Metapher dann und wann, um eine solche gelungene Existenz in der Schwebe, auf „glatte[m] Eis“13 zu bezeichnen. Doch es ist eben, und auch hier sind sich beide Denker einig, ein Seiltanz, einer, der auch die Gefahr des Sturzes impliziert: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“14. – Auf unterschiedliche Art und Weise verlieren beide Denker auf ihrer je eigenen Wanderung die Balance.

Metaphern der Bewegung, so ist jedenfalls zu resümieren, dienen seit jeher der Beschreibung von Grundmodi der Existenz. Im Sinne von Hans Blumenbergs Konzept der „absoluten Metapher“ verdichtet sich in ihnen das Lebensgefühl einer ganzen Kultur und anhand von ihnen lässt sich ablesen, was ihr Weltzugang ist.

Quellen

Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst. In: Der Begriff Angst / Vorworte. Gesammelte Werke und Tagebücher. 11. & 12. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2003, S. 1–169.

Ders.: Furcht und Zittern. Gesammelte Werke und Tagebücher. 4. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2004.

Artikelbild: Caspar David Friedrich: Das Eismeer (1823/24)

Quelle für alle verwendeten Bilder: Wikipedia

Fußnoten

1: Ecce homo, Warum ich so weise bin, 1.

2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches, 4.

3: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.

4: Vgl. etwa Morgenröthe, Aph. 314.

5: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 21.

6: Zur Genealogie der Moral, III, 26.

7: Nachgelassene Fragmente 1884, Nr. 28[64].

8: Also sprach Zarathustra, Der Wanderer.

9: Also sprach Zarathustra, Der Schatten.

10: Vgl. etwa Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied und Das andere Tanzlied.

11: Der Antichrist, 17.

12: Die fröhliche Wissenschaft, An den Mistral.

13: Die fröhliche Wissenschaft, Für Tänzer.

14: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4. Zur (Seil-)Tanzmetapher bei Kierkegaard vgl. etwa Der Begriff Angst, S. 54 und Furcht und Zittern, S. 35.