„Noch ist Polen nicht verloren“

Deutschlands Nachbarland als politische Utopie in Nietzsches Nachlass

„Noch ist Polen nicht verloren“

Deutschlands Nachbarland als politische Utopie in Nietzsches Nachlass

6.5.24
Paul Stephan
Der späte Nietzsche imaginiert sich immer wieder als Nachfahren polnischer Adliger. Es handelt sich dabei nicht nur um eine persönliche Marotte, sondern sagt etwas über Nietzsches philosophische Positionierung aus: Polen ist für ihn eine Art ‚Anti-Nation‘, ein Volk der „großen Einzelnen“ – und nicht zuletzt die polnische Adelsrepublik die politische Utopie eines radikaldemokratischen Gemeinwesens, das gerade in seinem Scheitern seiner Vorstellung eines „aristokratischen Radikalismus“ entspricht. Paul Stephan geht in diesem long read der tieferen Bedeutung dieses Themas bei Nietzsche nach und hinterfragt seine Verklärung der alten Rzeczpospolita: Aus politischer Sicht handelt es sich um kein so erstrebenswertes Modell, wie es Nietzsche suggeriert. Weiter führen in dieser Hinsicht Jean-Jacques Rousseaus Betrachtungen über die Regierung Polens von 1772.

Der späte Nietzsche imaginiert sich immer wieder als Nachfahren polnischer Adliger. Es handelt sich dabei nicht nur um eine persönliche Marotte, sondern sagt etwas über Nietzsches philosophische Positionierung aus: Polen ist für ihn eine Art ‚Anti-Nation‘, ein Volk der „großen Einzelnen“ – und nicht zuletzt die polnische Adelsrepublik die politische Utopie eines radikaldemokratischen Gemeinwesens, das gerade in seinem Scheitern seiner Vorstellung eines „aristokratischen Radikalismus“ entspricht. Paul Stephan geht in diesem long read der tieferen Bedeutung dieses Themas bei Nietzsche nach und hinterfragt seine Verklärung der alten Rzeczpospolita: Aus politischer Sicht handelt es sich um kein so erstrebenswertes Modell, wie es Nietzsche suggeriert. Weiter führen in dieser Hinsicht Jean-Jacques Rousseaus Betrachtungen über die Regierung Polens von 1772.

I. Der ‚Polen-Komplex‘

„Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang [reinen Bluts; PS], dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.“1 Abgesehen von dem – aus heutiger Sicht geradezu als ‚Trumpesk‘ zu bezeichnenden – Superlativ dieser Aussage, hatte Nietzsche durchaus Gründe, an seine ab 1880 in Briefen und im Nachlass immer wieder betonten polnische Abkunft zu glauben. Wie er jedenfalls mehrfach berichtet,2 wird er wiederholt von Exilpolen für einen der ihren gehalten und ließ sich seine polnische Abkunft durch ein Dokument von einem vermeintlichen Ahnenforscher bestätigen.3 Sogar seine Schwester teilt diese Familienlegende. Kernargument der beiden ist, dass ihr auf den ersten Hörer tatsächlich ein wenig slawisch klingende Familienname sich vom polnischen „Nietzky“ herleite. Im 18. Jahrhundert sei einer ihrer Vorfahren von August dem Starken in den Grafenstand erhoben worden, habe das Land jedoch aufgrund seines protestantischen Glaubens nach dessen Tod verlassen müssen. Max Oehler wies erst in den 30er Jahren – freilich nicht ohne das problematische Interesse, Nietzsche als ‚Reinblütler‘ im Sinne der NS-Ideologie auszuweisen – nach, dass es sich bei dieser gesamten Erzählung um eine reine Wunschphantasie handeln dürfte, die der Familie einen gewissen exotischen Glanz und nicht zuletzt einen Tropfen blauen Bluts verleihen sollte.4 Die Pastorenfamilie musste es zumal in ihrer Identität bestätigen, von einem Märtyrer des Protestantismus abzustammen. Vielleicht ist die Legende somit auch Hintergrund von Nietzsches berühmtem Satz aus dem 377. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft:

Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europa‘s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben.

Diesem Satz ist zumal zu entnehmen, was für Nietzsche ein weiterer Grund für die Obsession für seine polnische Abkunft gewesen sein dürfte: Im Laufe der 1870er Jahre entfremdete er sich subjektiv und durch die Aufgabe seiner preußischen Staatsbürgerschaft auch objektiv immer mehr vom von ihm verachteten Bismarckreich und verstand sich als umherschweifender Kosmopolit, als „guter Europäer“ eben, als ewiger Heimatloser. Sein Wunsch danach, ein Pole zu sein, entspricht diesem Bedürfnis nach einer immer stärkeren Distanzierung von Deutschland – verrät aber zugleich auch den Drang zu einer neuen Heimat, einer neuen identitären Bindung. Zwischen beiden Impulsen scheint auf den ersten Blick eine gewisse Widersprüchlichkeit zu bestehen – doch nur auf den ersten Blick. Bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich als durchaus miteinander kompatibel.

II. Das Nachlassfragment

Welcher Art ist diese neue Identität, die Nietzsche erst in Ecce homo öffentlich macht, die aber in privaten Äußerungen schon ab 1880 eine nicht unerhebliche Rolle spielt? Was bedeutet es für ihn, ein Pole zu sein? Aufschluss darüber gewährt ein 1882 verfasstes, in der Forschung nur selten beachtetes, Nachlassfragment, das sich in Gänze zu betrachten lohnt:

Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen, welche Niëtzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben. Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestätigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig längere Zeit an und sagte endlich „es ist noch die alte Rasse, aber das Herz hat sich Gott weiß wohin gewendet.“ Ein kleines Heft Mazurken, welches ich als Knabe componirte, trug die Aufschrift „Unsrer Altvordern eingedenk!“ – und ich war ihrer eingedenk, in mancherlei Urtheilen und Vorurtheilen. Die Polen galten mir als die begabtesten und ritterlichsten unter den slavischen Völkern; und die Begabung der Slaven schien mir höher als die der Deutschen, ja ich meinte wohl, die Deutschen seien erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute in die Reihe der begabten Nationen eingerückt. Es that mir wohl, an das Recht des polnischen Edelmanns zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschluß einer Versammlung umzuwerfen; und der Pole Copernikus schien mir von diesem Rechte gegen den Beschluß und den Augenschein aller andern Menschen eben nur den größten und würdigsten Gebrauch gemacht zu haben. Die politische Unbändigkeit und Schwäche der Polen, ebenso wie ihre Ausschweifung waren mir eher Zeugnisse für ihre Begabung als gegen dieselbe. An Chopin verehrte ich namentlich, daß er die Musik von den deutschen Einflüssen, von dem Hange zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, Täppischen, Wichtigthuerischen freigemacht habe: Schönheit und Adel des Geistes und namentlich vornehme Heiterkeit, Ausgelassenheit und Pracht der Seele, insgleichen die südländische Gluth und Schwere der Empfindung hatten vor ihm in der Musik noch keinen Ausdruck. Mit ihm verglichen, war mir selbst Beethoven ein halbbarbarisches Wesen, dessen große Seele schlecht erzogen wurde, so daß sie das Erhabene vom Abenteuerlichen, das Schlichte vom Geringen und Abgeschmackten nie recht zu unterscheiden gelernt hat. (Unglücklicherweise, wie ich jetzt hinzufügen will, hat Chopin einer gefährlichen Strömung des französischen Geistes zu nahe gewohnt, und es giebt nicht wenige Musik von ihm, welche bleich, sonnenarm, gedrückt und dabei reich gekleidet und elegant daherkommt – der kräftigere Slave hat die Narkotica einer überfeinerten Cultur nicht von sich abweisen können.)5

Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass dieses Fragment im Präteritum geschrieben ist. Dieser gesamte Themenkomplex spielt in Nietzsches Nachlass, seine Kindheits- und Jugendschriften mit eingeschlossen, vor 1880 überhaupt keine Rolle. Es scheint sich sogar so zu verhalten, dass Nietzsche erst dadurch, dass er für einen Polen gehalten worden ist, überhaupt auf den Gedanken kam, sich an diese Familienlegende zu erinnern.

1877 berichtet er jedenfalls in einem Brief an seine Freundin Malwida von Meysenbug noch davon, dass er sich mit zwei polnischen Damen bei einem Kuraufenthalt sehr gut verstanden habe, ohne auf sein eigenes Polentum auch nur mit einer Silbe einzugehen.6 Und 1878 notiert er in einem Nachlassfragment interessanterweise geradezu das Gegenteil von dem, was er fünf Jahre später niederschrieb:

Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus – adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen.7

Kurz gesagt: Es geht Nietzsche in diesem Fragment um die Fiktion einer vermeintlich seit seiner Kindheit existierenden kontinuierlichen Anschauungsweise, die über die krassen Brüche, die sein Denken immer wieder erfuhr, hinwegtäuschen soll. Während seiner Studentenzeit war er schließlich noch glühender preußischer Patriot, Verehrer Bismarcks und sympathisierte bis in die frühen 70er Jahre mit dem deutschen Nationalismus.

Warum wurde Nietzsche überhaupt für einen Polen gehalten? Angesichts der Häufigkeit, mit der Nietzsche von solchen Begegnungen berichtet, ist diese Erzählung nicht unglaubwürdig, so misstrauisch man gegenüber der von Nietzsche in seinen Briefen bisweilen betriebenen Selbststilisierung auch sein sollte. 1884 traf er sich in Nizza mit seiner Freundin Resa von Schirnhofer, die über diese Begegnung 1937 einen bemerkenswerten Bericht verfasste, der einen äußerst lebendigen Eindruck davon vermittelt, wie Nietzsche auf seine Zeitgenossen gewirkt hat. Darin heißt es:

Damals war mir das [eben jene vermutete polnische Abkunft Nietzsches; PS] neu und interessierte mich, da ich auf einem historischen Gemälde Jan Matjeko’s [sic] in Wien charakteristisch formverwandte Köpfe gesehen hatte von einer nicht bloss oberflächlichen im Schnurrbartwuchs bestehenden Ähnlichkeit, was ich auch zu ihm geäussert hatte, worüber er sehr erfreut schien. Denn er war sehr stolz auf seine polnische Charakterphysiognomie.8

Von Schirnhofer dürfte bei dieser Äußerung vor allem an Matejkos Gemälde Sobieski bei Wien gedacht haben (vgl. das Artikelbild), das angesichts des 200-jährigen Jahrestags des Siegs des vereinigten christlichen Heeres am 12. September 1683 gegen die osmanische Armee, die Wien belagert hatte, ebendort ausgestellt worden war. Die Türken erlitten damals eine krachende Niederlage, die den Niedergang des osmanischen Reiches besiegelte. Entscheidend für den christlichen Sieg war ein vom polnisch-litauischen König Johann III. Sobieski kommandierter Vorstoß seiner Elitekavallerie gewesen. Ein polnisches Verdienst, das anzuerkennen sich viele selbsternannte ‚Retter des Abendlandes‘ bis heute schwertun. 1883 war es jedenfalls eine veritable Provokation, dieses Gemälde angesichts der Nichtexistenz des polnischen Nationalstaats in Wien zu zeigen, die vom Nationalisten Matejko genau als eine solche intendiert war. Entgegen den damals üblichen Gepflogenheiten war das Gemälde kostenlos zu sehen und er ließ eine erläuternde Broschüre patriotischen Inhalts drucken.9

Die Barttracht des Königs und seiner Ritter ähnelt in der Tat zum Verwechseln dem Walrossbart Nietzsches. Und es handelt sich dabei um keinen Einzelfall: Dieser Barttyp hat auf polnischen Königsportraits eine lange Tradition.10 Von Schirnhofer spielt die Rolle des Barts in ihrem Bericht ein wenig herunter, doch es spricht einiges dafür, dass vor allem er es war, der die Polen dazu verleitete, Nietzsche für einen der ihren zu halten. Dies darf allerdings nicht zu dem Trugschluss verleiten, Nietzsche habe sich seinen Schnauzer aus diesem Grund wachsen lassen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass sich der Student Nietzsche seinen heute ikonischen Bart von dem wohl bekanntesten Träger dieses auch schon damals äußerst auffälligen Typs abgeschaut haben dürfte – dem späteren Reichskanzler Otto von Bismarck.11 Aus dem Preußen- war also ein Polenbart geworden.

Diese Wandlung ist ebenso wenig ein Widerspruch wie die erwähnte Gleichzeitigkeit von Nietzsches Selbstdefinition als Pole und als „guter Europäer“. Denn die Polen gelten Nietzsche ja gerade als Volk von Freigeistern, von „große[n] Einzelnen“12. Ein paradoxes ‚antikollektivistisches Kollektiv‘, das sich insbesondere durch seine bemerkenswerte Verfassung auszeichnet. Wenn man sich vor Augen führt, dass auch schon der junge Patriot Nietzsche Bismarck vor allem bewunderte, weil er ihn für einen „großen Einzelnen“, ein politisches Genie nach seinem Geschmack, hält (eine Wertung, die sich bemerkenswerterweise auch nach seinem Bruch mit dem Reich in seinen Schriften noch immer wieder vorfindet), dann wird klar, dass sein Bart vor allem eins zum Ausdruck bringen soll: seine eigene Zugehörigkeit zu jenem erlauchten Kreis „großer Einzelner“, die seiner Auffassung nach die Weltgeschichte lenken und lenken sollen. Wenn Nietzsches Schwester also anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs behaupten sollte: „Bismarck ist Nietzsche in Kürassierstiefeln, und Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht als Grundprinzip des Lebens ist Bismarck im Professorenrock“13, ist das durchaus nicht vollkommen unberechtigt. Doch anders als etwa im Fall von Heideggers peinlichem Schnurrbärtchen von 1933,14 wäre es verkehrt, aus der optischen Ähnlichkeit zwischen Bismarcks und Nietzsches Bart eine politische Affinität zwischen beiden zu folgern: Nietzsche verehrt Bismarck und seine Politik des „Blut und Eisens“, die er sogar noch in Jenseits von Gut und Böse ausdrücklich als südliches Antidot zum ‚Geist des Nordens‘ begrüßt,15 nicht, weil es eine nationalistische Politik ist, sondern aus ähnlichen Gründen, aus denen heraus er etwa Goethe, Napoleon oder eben Kopernikus und die Polen schlechthin bewundert: Weil sie alle seiner Vorstellung „großer Einzelner“ entsprechen, die sich über die Meinung des „Pöbels“16 hinwegsetzen und eine wahrhaft „große Politik“17 im Sinne des „Lebens“ (ebd.) betreiben.

III. Individualistische (Anti-)Politik

Das Nachlassfragment ist wie wohl kaum ein anderes dazu geeignet, um die Problematik von Nietzsches Auffassung von „großen Einzelnen“ zu verdeutlichen. Sie wirkt erst einmal wie das Bekenntnis zu einem geradezu anarchistischen Individualismus, der nur den Haken hat, auf den Adel beschränkt zu sein. Nietzsche geht sogar so weit, den Eigensinn des Individuums gegenüber der Stabilität des Gemeinwesens in Schutz zu nehmen: Dass mit einer Konsensdemokratie kein Staat zu machen ist, ist für ihn kein Argument gegen diese politische Form, im Gegenteil. Zugleich plädiert er jedoch für keinen völlig enthemmten Individualismus, wie er ihn etwa mit der deutschen Kleinbürgerlichkeit und der französischen Dekadenz assoziiert: Seine Vorliebe gilt eben nicht einfach nur Einzelnen schlechthin, sondern großen Einzelnen, deren Größe er etwa mit Ritterlichkeit, Schönheit der Seele und ästhetischem Geschmack assoziiert – die jedoch zugleich keine eigentliche Tugendhaftigkeit ist, da er ja auch den ausschweifenden und unbändigen Charakter der ‚polnischen Seele‘ feiert. Man sieht, dass seine Bestimmung von „Größe“ hier wie auch anderswo reichlich vage ist: Beethoven, den er sonst als eines der größten Genies verklärt,18 wird nun plötzlich abgewertet, worin genau die Ähnlichkeit zwischen Chopin, Kopernikus und polnischen Edelleuten bestehen soll, ist prima facie vollkommen unklar. Jedenfalls bedient er sich, und hier liegt der Hase im Pfeffer, primär ästhetischer Kriterien, um ein politisches Urteil zu fällen – moralische und im üblichen Sinne politische Kriterien werden ausgeblendet und sogar dezidiert abgewertet.

Offensichtlich changiert Nietzsche in diesem Fragment zwischen zwei Momenten, die auch sonst sein Denken wie auch seine politische Wirkungsgeschichte bestimmen: Einmal demjenigen eines radikalen Individualismus, der ihn für Anarchisten interessant macht – einmal demjenigen der ästhetischen Verklärung einer aristokratischen „Herren-Moral“, die auf seine faschistische Rezeption verweist. In dieser Passage neigt Nietzsche eher dem anarchistischen zu als dem faschistischen Pol zu – und doch folgt aus ihr kein Lob einer universalisierten Willkürfreiheit.

IV. Utopie und Wirklichkeit

Man kann das ‚Polen-Fragment‘ kaum hinreichend würdigen, wenn man nicht berücksichtigt, ob sie sich denn überhaupt auf irgendeine historische Realität bezieht oder ob es sich um eine typische Nietzsche’sche Halbwahrheit oder gar Fiktion handelt. In diesem Fall fällt der ‚Faktencheck‘ allerdings überraschenderweise zu Gunsten des Dichterphilosophen aus: In der Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die vom 16. Jahrhundert bis zur Zerschlagung Polens im späten 18. Jahrhundert währte, war die polnische Gesellschaft in der Tat von einem in der Geschichte wahrscheinlich einzigartigen Individualismus geprägt. Jedenfalls alle Angehörigen des Adels – etwa 15 % der Bevölkerung19 – begegneten sich auf Augenhöhe und konnten gleichberechtigt an einem politischen System partizipieren, das neben konsens- sogar rätedemokratische Elemente beinhaltete. Auf den Adelsversammlungen konnte tatsächlich jedes Mitglied ein Veto gegen alle Beschlüsse der Versammlungen einlegen – was nicht nur zur Folge hatte, dass dieser eine Beschluss zurückgenommen, sondern dass die komplette Versammlung aufgelöst werden musste und nicht mehr beschlussfähig war. Eine Regelung, die – wie man erwarten mag – von den meisten Historikern als einer der konstitutionellen Hauptgründe für den Untergang Polens angesehen wird.20 Schon gegen Mitte des 18. Jahrhunderts waren selbst republikanische Stimmen wie Jean-Jacques Rousseau, der 1772 auf eine entsprechende Bitte hin einen umfassenden Vorschlag zur Neuordnung des polnischen Staats verfasste, der Ansicht, dass jenes „liberum veto“ ein Unding sei, das schnellstmöglich beseitigt werden müsse.21 Es hatte nämlich nicht nur die Lahmlegung aller politischen Entscheidungen zur Folge: Sowohl der Hochadel als auch sogar ausländische Mächte bedienten sich seiner gezielt, um den polnischen Staat zu korrumpieren und ihren Einfluss zu vergrößern. Eine scheinbar demokratische Regelung war in Wahrheit ein Instrument in den Händen der Mächtigsten.

Die Zeit der „goldenen Freiheit“ war, um es zugespitzt zu sagen, eine Zeit der dunkelsten Unfreiheit für all diejenigen, die nicht dem Adel angehörten und an denen die Adligen ihre Willkürfreiheit ausüben durften. Während die Adelsversammlungen – Nietzsche spielt darauf wohl an – oft in wilde Saufgelage mit zünftigen Prügeleien ausarteten, lebte die große Mehrheit der Bevölkerung in bitterster Armut. Eine außerordentliche soziale Ungleichheit, eine Oligarchenherrschaft hinter radikaldemokratischer Fassade, die Rousseau in deutlichen Worten beklagt. Betrachtet man also die politische Realität des alten Polens, dann verblasst das romantische Bild, das Nietzsche von ihm zeichnet, schnell. Es ist eher ein Beispiel für eine besonders schlechte als eine besonders gelungene politische Ordnung nach allen dafür üblichen Kriterien. Einzig Nietzsches ästhetisierter Blick lässt sie als irgendwie akzeptabel erscheinen.

Rousseau ist der Ansicht, dass das Problem nicht das Vetorecht per se ist. Doch es funktioniert ihm zufolge nicht in einer Gesellschaft, die von sozialer Ungleichheit und antagonistischen Partikularinteressen geprägt ist und in der es folglich keinen starken Sinn des Zusammenhalts gibt. Er hält insbesondere die Entwicklung eines patriotischen Heroismus für erforderlich, um Polen vor dem Untergang zu bewahren: Jeder Einzelne soll bereit sein, sich für das Vaterland aufzuopfern. Dieser Gedanke weist eine oberflächliche Ähnlichkeit zu Nietzsches Betonung der Ritterlichkeit und Größe der alten Polen auf, doch bei Rousseau ist damit keinerlei Individualismus verbunden, im Gegenteil: Jeder Einzelne soll sich Rousseau zu Folge nicht primär als Individuum, sondern als Pole verstehen. Es ist ein moralischer Heroismus, während es bei Nietzsche ein amoralischer ist.

Rousseaus Kritik der polnischen Gesellschaft geht einerseits von pragmatischen politischen Kriterien aus – sein Ziel ist die Bewahrung des polnischen Staates –, andererseits von dem moralischen Endzweck aller Politik, den er schon 1762 im Gesellschaftsvertrag artikulierte: Eine Gesellschaft ohne Herren und Knechte, in der Allgemein- und Partikularinteresse zusammenfallen. Seine Überlegungen flossen in die polnische Verfassung von 1791 ein – die den umliegenden absolutistischen Monarchien zu radikal war, so dass sie umgehend Polen besetzten und unter sich aufteilten. (Mit der alten Verfassung der „goldenen Freiheit“ hatten sie schon eher leben können.) – Und sie waren auch eine wichtige Inspirationsquelle der Revolutionäre von 1789, die größtenteils glühende Verehrer des „Bürgers von Genf“ waren.

V. Fazit

Man mag anerkennen, dass Nietzsches Lob ritterlichen Eigensinns und aristokratischer Exzessivität ein legitimes Antidot darstellt zur Kleinbürgerlichkeit moderner Gesellschaften. Der späte Rousseau hingegen propagierte einen Nationalismus, der aus einer liberalen Perspektive hochproblematisch erscheint und der im 19. und 20. Jahrhundert eine unrühmliche Wirkungsgeschichte haben sollte.

Doch unterm Strich ist Rousseau recht zu geben: Die Konsensdemokratie ist ein Modell, dass in einer antagonistischen Gesellschaft keinen Sinn ergibt, das bis heute von manchen Liberalen gefeierte „goldene Zeitalter“ Polens war in der Tat eines der Korruption, der gesellschaftlichen Anarchie im schlechtesten Sinne und außerhalb von Nietzsches ausschweifender Phantasie auch nicht gerade der kulturellen Blüte. Kopernikus lebte nicht nur zeitlich vor der Entstehung der polnisch-litauischen Adelsrepublik, es ist auch vollkommen anachronistisch, ihn einer der später etablierten Nationen zuzurechnen. Er dürfte sich selbst wohl primär als Untertan seines Dienstherrn, des Fürstbischofs von Ermland, begriffen haben. Chopins wiederum lebte nach der Zerschlagung Polens, sein Vater war Franzose und Frankreich seine Hauptwirkungsstätte.

Das ‚alte Polen‘ ist ein romantischer Sehnsuchtsort, doch es ist keine erstrebenswerte politische Utopie. Auch in diesem auf den ersten Blick recht sympathisch wirkenden Nachlassfragment zeigt sich Nietzsche freundlich ausgedrückt nicht gerade von seiner hellsten Seite. Bemerkenswert ist allerdings, wie es ihm gelingt, zugleich die Seichtigkeit des modernen Individualismus zu kritisieren wie auch den modernen Kollektivismus zu hinterfragen. In dieser Fähigkeit zur Verschmelzung ganz unterschiedlicher, ja: widersprüchlicher, Perspektiven, liegt das ungeheure Potential und die Radikalität seines Denkens. Doch wenn es um ein im eigentlichen Sinne politisches Denken geht, ist man wohl doch besser beraten, sich an Rousseau zu halten.22

Quellen

Benne, Christian: Liberum veto. Wie demokratisch ist Nietzsches aristokratischer Radikalismus? In: Martin A. Ruehl & Corinna Schubert (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen. Berlin & Boston 2023, S. 161–180.

Ders: Sich sich selber erzählen. In: Ders. & Dieter Burdorf (Hg.): Rudolf Borchardt und Friedrich Nietzsche. Schreiben und Denken im Zeichen der Philologie. Berlin 2017, S. 95–111.

Dabrowski, Patrice M.: Commemorations and the Shaping of Modern Poland. Bloomington & Indianapolis 2004.

Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Eine Biographie. Bd. I. München & Wien 1978.

Oehler, Max: Zur Ahnentafel Nietzsches. Weimar 1939.

Rousseau, Jean-Jacques: Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981, S. 507–561.

Ders: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981, S. 269–392.

Schirnhofer, Resa von: Vom Menschen Nietzsche. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 22 (1968), S. 250–260.

Sommer, Andreas Urs: „Bismarck ist Nietzsche in Kürassierstiefeln, und Nietzsche … ist Bismarck im Professorenrock“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte VIII/2 (2014), S. 51 f.

Stephan, Paul: Bedeutende Bärte. Eine Philosophie der Gesichtsbehaarung. Berlin 2020.

Artikelbild

Jan Matejko: Sobieski bei Wien (1883). Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_am_Kahlenberg#/media/Datei:Sobieski_Sending_Message_of_Victory_to_the_Pope.jpg.

Fußnoten

1: Ecce homo, Warum ich so weise bin, 3.

2: Vgl. etwa den Bericht seiner Freundin Resa von Schirnhofer (Vom Menschen Nietzsche, S. 252). Nietzsche berichtet von dieser Anekdote in mindestens fünf Briefen in den 80er Jahren. An seinen wichtigen Briefpartner Georg Brandes schreibt er etwa am 10. 4. 1888 gleich zu Beginn eines kurzen Lebenslaufs: „Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza’s comme Polonais.“ Für eine vollständige Auflistung jener Briefe vgl. mein eigenes Buch Bedeutende Bärte,S. 101 f., wo ich dem hier beschriebenen Zusammenhang zwischen Nietzsches Bart und seinem ‚Polentum‘ bereits ausführlich nachgegangen bin (vgl. ebd., S. 102–105).

3: Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 27 f.

4: Vgl. Oehler, Zur Ahnentafel Nietzsches.

5: Nachgelassene Fragmente 1882, 12[2].

6: Vgl. Brief vom 4. 8.

7: Nachgelassene Fragmente 1878, 30[54].

8: Vom Menschen Nietzsche, S. 252. Im erwähnte nBrief an Brandes schreibt Nietzsche auch selbst: „Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej<k>o’s vorkomme.“

9: Vgl. Dabrowski, Commemorations, S. 59 f.

10: Man betrachte etwa Matejkos Porträt des Königs Stanisław Leszczyński oder die Auflistung alle Könige und Herzöge Polens auf Wikipedia. Im 20. Jahrhundert knüpfte der nationalistische polnische Diktator Józef Piłsudskian diese Tradition an – und sieht damit auf manchen Porträts Nietzsche geradezu zum Verwechseln ähnlich (vgl. etwa dieses Photo).

11: Vgl. auch dazu, wie zum Verhältnis Bismarck/Nietzsche allgemein, ausführlicher Stephan, Bedeutende Bärte, S. 95–99.

12: Nachgelassene Fragmente 1884, 29[23].

13: Zit. n. Sommer, „Bismarck ist Nietzsche …“, S. 52.

14: Vgl. das dort abgebildete Photo und auch Stephan, Bedeutende Bärte, S. 69 f.

15: Vgl. Aph. 254.

16: Nachgelassene Fragmente 1888, 14[182].

17: Nachgelassene Fragmente 1888, 25[1].

18: So heißt es in einem sehr typischen Nachlassfragment: „Beethoven, Goethe, Bismarck, Wagner – unsere vier letzten großen Männer“. Nietzsche preist hier„die monologische heimliche Göttlichkeit der Musik Beethovens, das Selbsterklingen der Einsamkeit,die Scham noch im Lautwerden…“ (ebd.) Kein Wort von Chopin.

19: Vgl. den entsprechen Eintrag auf Wikipedia.

20: Vgl. für eine erste Übersicht den entsprechenden Artikel auf der englischsprachigen Wikipedia.

21: Vgl. Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens.

22: Für eine etwas wohlwollendere, in manchen Details gegenläufige, Darstellung von Nietzsches Polen-Begeisterung vgl. die entsprechenden Forschungsbeiträge von Christian Benne (Sich sich selber erzählen und Liberum veto).