Taylor Swift – Überfrau oder letzter Mensch?

Eine nietzscheanische Kritik des erfolgreichsten Popstars unserer Zeit

Taylor Swift – Überfrau oder letzter Mensch?

Eine nietzscheanische Kritik des erfolgreichsten Popstars unserer Zeit

27.6.25
Henry Holland, Paul Stephan & Estella Walter
Taylor Swift ist einer der wichtigsten „Götzen“ unserer Zeit. Grund genug für unsere Stammautoren Henry Holland, Paul Stephan und Estella Walter zum nietzscheanischen „Hammer“ zu greifen und dem Hype ein wenig auf den Zahn zu fühlen: Verdient Swift den bis in die Philosophie hineinreichenden Kult um sie? Wird sie maßlos überschätzt? Und was erklärt die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Spektakel und Leben? Das komplette ungekürzte Gespräch können Sie auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie betrachten (Link).

Taylor Swift ist einer der wichtigsten „Götzen“ unserer Zeit. Grund genug für unsere Stammautoren Henry Holland, Paul Stephan und Estella Walter zum nietzscheanischen „Hammer“ zu greifen und dem Hype ein wenig auf den Zahn zu fühlen: Verdient Swift den bis in die Philosophie hineinreichenden Kult um sie? Wird sie maßlos überschätzt? Und was erklärt die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Spektakel und Leben?

Das komplette ungekürzte Gespräch können Sie auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie betrachten (Link).

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„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“
(Götzen-Dämmerung)
Abbildung 1: T-Shirt zur Eras-Tour; Preis: 23,99 € (Quelle)

I. Ungleichzeitigkeiten

Paul Stephan: Ich möchte unseren Austausch zu Nietzsche und Taylor Swift mit einer Art kleinen, selbstgeschriebenen Aphorismus einleiten, der da lautet: „Man ist genau dann alt, wenn man popkulturelle Massenphänomene erst mit mehreren Jahren Verzögerung mitbekommt.“ Ich selbst habe von ihr, wie ich gestehen muss, erst mit vielleicht gut zehn Jahren Verzögerung überhaupt erst was mitbekommen im Zuge des massiven Trubels um ihre Eras-Tour. Wie steht's bei euch?

ES: Als sie angefangen hat, bekannt zu werden, da war ich noch relativ jung und ich kannte sie, aber es ist schon auch an mir vorbeigegangen. Ich habe nie groß ihre Songs gehört und habe sie eher so als Randfigur wahrgenommen. Sie war zu dem Zeitpunkt

auch noch nicht so diese Größe, die sie jetzt ist. Ich glaube, sie hat dann  ein Revival erlebt, das war vielleicht 2019 oder 2020, da habe ich von ihr mitbekommen, aber da war ich schon zu alt dafür. Das heißt, zu keinem Zeitpunkt war sie für mich wirklich eine sonderlich relevante Figur und umso spannender ist es deshalb auch zu sehen, dass sie mittlerweile so ein großes Phänomen geworden ist.

HH: Mein Bezug zu ihr ist auch eher von außen, aber es gibt einen gewissen familiären Hintergrund: Irgendwann habe ich mich mit meiner Schwester darüber unterhalten, was meine zwei Nichten so machen und mögen. Das war vielleicht 2019 oder 2020. Da hat meine Schwester erzählt, dass die beiden sehr große Taylor-Swift-Fans sind und ich habe tatsächlich gefragt: „Wer ist das denn?“ Da war meine Schwester ziemlich sauer auf mich, dass ich das nicht wusste. Sie klärte mich auf Swifts große Bedeutung auf, und pries auch ihren Feminismus. Dieses Fantum erreichte seinen Höhepunkt vielleicht während der Eras-Tour. Da haben meine Schwester und ihre Töchter es irgendwie geschafft Karten zu bekommen, um Swift in Edinburgh zu sehen, wo meine Familie und ich auch zufällig zu diesem Zeitpunkt waren. Wir haben Swift nicht gesehen, aber die Stadt war rappelvoll von den Swifties. Denn man muss wissen, dass Swift nicht nur, wie üblich, ein Konzert in einer Stadt spielt, sondern immer gleich drei oder sogar noch mehr hintereinander, und da waren wirklich sehr viele Swifties unterwegs, oft mit ihren Cowboy-Hüten, das ist eines ihrer Markenzeichen. Und ganz der populären Vorstellung entsprechend, waren diese zu etwa 80 bis 90 % Frauen, größtenteils unter 30, – es gibt einfach wenige Männer, die auf Taylor Swift abfahren und das ist vielleicht ein Teil dieses Phänomens.

Abbildung 2: Taylor-Swift-Kerze; Preis: $16,95 (Quelle)

II. Wer ist Taylor Swift?

PS: Vielleicht sollten wir für den Fall, dass einige unserer Leser auch nicht so popkulturaffin sind, den Hintergrund ein wenig erläutern. Du hast ja schon den Begriff „Swiftie“ eingeführt, mit dem sich die Fans von Swift selbst bezeichnen. Sie selbst ist eine US-amerikanische Pop-Sängerin, die ursprünglich aus dem Country-Bereich kommt, sich von diesen Ursprüngen aber weitgehend gelöst hat und mittlerweile einfach nur noch Pop macht.

HH: Ihr allererstes Album, Taylor Swift, erschien 2006. Ihr Durchbruch zum Megastar erfolgte ungefähr im Jahr 2018.

PS: Sie ist jetzt Mitte 30 und hat eben ihre Karriere auch sehr früh gestartet. Schon als Kind ist sie darauf getrimmt worden durch Tanzunterricht oder die Teilnahme an entsprechenden Wettbewerben. Und das hat zum Erfolg geführt: Mittlerweile konkurriert sie mit Größen wie Madonna um den Rang der erfolgreichsten Popsängerin aller Zeiten und ist auch geschäftlich sehr erfolgreich. Sie ist Milliardärin und gibt Konzerte auf der ganzen Welt, eine hat unglaublich riesige Fanbase – eben die Swifties –, hat auch schon diverse Filme gemacht und vieles mehr.

ES: Bei welchen Filmen hat sie denn mitgespielt?

PS: Wir sprachen ja schon von dieser Eras-Tour, die für sehr viel Furore gesorgt. Bei mir ist es etwa so gewesen, dass im Radio in dieser Zeit gefühlt von nichts anderem gesprochen worden ist. Das war im Sommer 2024, da war sie in Mitteleuropa, da ist sie eben sehr breit diskutiert worden. Die Tour war insgesamt die wirtschaftlich erfolgreichste Tour aller Zeiten – und sie hat sogar einen Kinofilm von ihrem Konzert gemacht, der auch sehr erfolgreich war. Es gibt aber zum Beispiel auch ein dokumentarisches Biopic über ihr Leben – Miss Americana (2020) – und sie hat noch an mehreren anderen Filmen mitgewirkt.

HH: Ja, es gibt mehrere Filme und Dokumentationen, bei denen sie auch oft selbst Regie geführt hat. Es geht ihr schon sehr um die Kontrolle. Wie beispielsweise auch Elon Musk wird ihr oft vorgeworfen, dass sie besessen darauf ist, das Narrativ über sie bis ins minutiöse Detail hinein zu lenken und zu bestimmen. Und was hervorsticht, ist auch das schiere Ausmaß an Produktivität. Es gibt um sie herum eine riesige Produktionsmaschine, die immer mehr Kulturwaren herstellen will und das hat eine gewaltige Selbstdynamik. Die Eras-Tour etwa hat zwei Jahre lang gedauert und einen Umsatz von etwa 2 Milliarden Dollar erzielt. Zum Vergleich: Der wesentlich ältere Paul McCartney hat vor Kurzem erst ein Gesamtvermögen von einer Milliarde Dollar erreicht. Es ist eben ein gigantischer Apparat, der, einmal ins Rollen gebracht, immer weiter läuft.

ES: Sie hat schon einfach etwas Universales, so eine Omnipräsenz, was sich eben auch ganz stark durch diese Vermarktung ergeben hat – wenn dieser Begriff nicht fast schon eine Untertreibung darstellt. Sie ist eine Marke, sie hat es geschafft, aus sich als Figur und alles, wofür sie steht, eine Marke zu machen, was sich in unterschiedlichen kulturellen Sektoren zeigt. Ihre Musik, ihre Filme – das hat schon etwas von einem selbstreferenziellen System.

PS: Ja, eine Art Parallelwelt. Es gibt ja eben diese Swiftie-Kultur, wo sie als „die Queen“ bezeichnet wird, teilweise als eine Art Göttin verehrt wird. Das nimmt durchaus religiöse Züge an. Es gibt junge Menschen, die sich verschulden, um zu all ihren Konzerten zu fahren – und die Tickets dafür sind nicht gerade günstig, da muss man schon mit mindestens 300 € einsteigen.1 Es gibt Menschen, die dann wirklich auch zu allen drei Konzerten gehen, wenn sie in einer Stadt spielt. Also es gibt schon einen Hype, der wirklich eine ganz neue Qualität in der Popkultur bezeichnet. Verrückte Fans hat es schon immer gegeben, aber dass es so massenhaft ist und auch so tief geht, dass sie die Menschen wirklich so stark verehren und vergöttern, das ist schon etwas Neues. Und es betrifft eben auch alle Sphären: Es gibt Politiker, die sich entweder stark von ihr abgrenzen oder sie in den Himmel loben – und das macht sogar vor der Philosophie nicht Halt. Also ich habe vor diesem Gespräch eigentlich nur sehr kurz und oberflächlich recherchiert und bin schon auf eine ganze Flut von philosophischen Publikationen zu ihr gestoßen von wechselhafter Qualität.2 Was mich frappierte: Auch dort geht der Zug klar ins Apologetische. Also es ist wirklich sehr schwer, kritische philosophische Analysen zu ihr zu finden, der Grundtenor ist, dass ihre Texte so tief seien, sie wird sogar schon selbst als Philosophin bezeichnet.3 Man sieht: Der Hype ist wirklich allumfassend – vielleicht können wir da ja ein wenig von unseren Kollegen abweichen und etwas andere Akzente setzen.

Abbildung 3: Verändertes Ortsschild von Gelsenkirchen anlässlich ihres dortigen Auftritts während der Eras-Tour; Preis: 243,75 € (Quelle)

III. Den Hype verstehen

ES: Was ich spannend finde, ist die Art und Weise, wie dieser Hype entstanden ist bzw. auf welcher Logik er basiert. Denn sie wird ja sehr hochgehoben, zu einer Art „Göttin“ erklärt – und zugleich macht sich die Bewunderung für sie gerade an ihrer „Authentizität“ fest. Sie sei eine echte Person, für alle nachvollziehbar und sie kämpfe menschliche Kämpfe. Man denke nur an den sehr spannenden Konflikt um die Urheberrechte an ihren Alben, der um 2019 begann – wobei man eben nicht außer Acht lassen kann, dass sie ja auch schon zu diesem Zeitpunkt schon sehr vermögend war und sehr wenig mit den alltäglichen Kämpfen der breiten Masse zu tun hat. Also ich finde es interessant zu sehen, wie dieses Bild der zugänglichen, „authentischen“ Figur sie wieder auf ein neues Level gehoben hat, auf dem sie eigentlich gar nicht mehr zugänglich sein kann, denn es können ja nicht alle auf so einem religiösen Level vergöttert werden, dafür braucht man ja schon ein Alleinstellungsmerkmal – was dann aber wiederum Authentizität ist. Das ist eine Paradoxie – die mich nicht einmal überrascht, sondern vor allem fasziniert.  

PS: Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, wer unsere Zeit verstehen, also sie in Gedanken fassen, will, wie Hegel den Auftrag der Philosophie formuliert hat,4 der muss eigentlich Taylor Swift verstehen.

ES: Man kann an so einem spezifischen Beispiel wie Swift wirklich die Gegenwart des historischen Prozesses der Gesellschaft erkennen. In all ihrer Widersprüchlichkeit, wenn man bei Hegel bleiben möchte.

HH: Was meinst du damit genau?

ES: Zum Beispiel eben, dass einer der Gründe, warum sie vergöttert wird, genau ihre „Bodenständigkeit“ ist. Historisch gesehen waren Götter und Göttinnen ja gerade nicht bodenständig; vielleicht fehlbar, aber trotzdem erhaben, die waren heldenhaft, nicht irdisch, nicht menschlich. Bei Taylor Swift ist das ja genau anders herum: Der Grund, warum sie diesen Status schon fast von einem „Übermenschen“ hat, liegt darin, dass man sagt „Ach, sie ist aber echt“, da hat man es mit einem „echten Menschen“ zu tun, sie ist irgendwie „real“, „authentisch“, „nachvollziehbar“, „auf dem Boden geblieben“. Das ist doch ein Widerspruch. Ganz abgesehen davon, ist sie als Milliardärin ja nicht mit der gleichen Realität konfrontiert ist wie Milliarden Menschen auf der Welt; sie ist kein „normaler Mensch“ – das wäre ein zweiter Widerspruch. Und das könnte man immer weiterführen. Wir können etwa auch auf die musikalische Qualität eingehen, ich denke, da ist ein weiterer Widerspruch.

PS: Für mich ist der Grundwiderspruch oder auch das Rätsel, das sie mir aufgibt, der krasse Widerspruch zwischen dem, was sie ist – der objektiv beurteilbaren Qualität ihrer Werke und ihrer Performance – und dem, was sie scheint – also wie krass sie von ihren Fans und der allgemeinen Öffentlichkeit gehypt wird. Also ich will nicht sagen, dass sie nichts kann, sie kann auf jeden Fall viel besser singen als die meisten von uns und vieles mehr. Aber trotzdem ist es ja so, wenn man sich zum Beispiel die musikalische Struktur ihrer Songs anschaut und die wirklich mal versucht, musiktheoretisch zu verstehen, schnell feststellt, dass es sogar nach Popmaßstäben eine sehr eintönige und sehr simple Harmonik ist, die diesen Songs zu Grunde liegt. Für gut drei Viertel ihrer Songs verwendet sie genau dieselben ausgelutschten und trivialen Akkordschemata und man kann ihre Songs wirklich übereinanderlegen und synchron abspielen, ohne dass es groß auffällt.5 Und auch, wenn es um die Text geht, deren „besondere Tiefe“ ja von vielen gelobt wird, würde ich sagen, dass sie selbst nach Popmaßstäben eigentlich nicht sehr tief und kreativ sind. Sie verwendet doch eigentlich nur ganz wenige Metaphern oder irgendeine Form von Verrätselung – ihr Prinzip ist im Gegenteil, einfach das zu sagen, was sie sagen will, also ihre Botschaft nicht groß rhetorisch auszuformen. Und die wenigen Metaphern, die sie gebraucht, sind auch noch sehr ausgelutscht. Oder übersehe ich da etwas?

HH: Also ich achte vor allem auf die Texte, denn musikalisch sind ihre Songs wirklich ziemlich langweilig. Oft weiß man auch nicht, ob da ein Drumcomputer im Hintergrund läuft oder ein Schlagzeuger spielt. Drumcomputer können auch brillante Musik kreieren, natürlich, nur bei ihr passiert so etwas nicht. Mit den Texten, vor allem in ihren neueren Alben, versucht sie durchaus Elemente von „Poesie“ und „Originalität“ einzubauen, aber dazu fällt mir nur der philosophische Begriff der „floating signifiers“, der freischwebenden Bedeutungsträger ohne Bedeutung ein.6 Ich denke etwa an das Lied The Tortured Poets Department von ihrem neusten Album, das denselben Namen trägt. Da gibt es einen Abschnitt, wo sie sagt:

I laughed in your face and said: „You’re not Dylan Thomas, I’m not Patti Smith, This ain’t the Chelsea Hotel, we’rе modern idiots.“7

Warum kommen der gefeierte und dennoch hermetische walisische Autor Dylan Thomas (1914–1953) und die US-amerikanische Punkmusikerin und Autorin Patti Smith (geb. 1946) in dem Song überhaupt vor? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Taylor Swift für diese Dinge wirklich interessiert, diese leeren Signifikanten dienen einfach nur dazu, irgendetwas „Intellektuelles“, „Bohème-haftes“ darzustellen.

PS: Ich glaube, dass sie aus dem Grund auch einfach sehr postmodern ist. Schon Mitte der 80er beschrieb etwa der Kulturtheoretiker Frederic Jameson als ein Grundcharakteristikum der Postmoderne dieses permanente Zitieren ohne tieferen Sinn, er spricht von „Pastiche“.8 Gerade, wenn man sich ihre Musikvideos anschaut – die, wie man anerkennen muss, sehr aufwändig gemacht sind –, sind sie voll von Anspielungen, wenn sie etwa Lady Gaga imitiert. Das sind alles Formen von Pastiche, keine Satire etwa. Man weiß gar nicht genau, was sie damit eigentlich meint – aber genau diese Anspielungen werden oft als Beleg für ihre „Tiefgründigkeit“ angeführt. Also ich würde es durchaus so polemisch sagen wollen: Dieser ganze philosophische und auch allgemein geisteswissenschaftliche Diskurs über Taylor Swift ist doch wirklich der vollkommenen Kapitulation des kritischen Geistes gegenüber dem Bestehenden – als ob die Qualität von Kunstwerken irgendetwas mit irgendwelchen Anspielungen zu tun hat; als ob etwa die Gedichte von Shakespeare einfach aus dem Grund großartig wären, dass sie eine Collage von irgendwelchen Referenzen wären.

ES: Ich würde gerne noch einmal auf den Aspekt der Musikalität zurückkommen. Was ich kritisch betrachten würde, wäre nicht, dass eine Künstlerin einen musikalisch betrachtet einfachen Song schreibt. Es gibt viele Songs, die nur die drei bis vier Hautakkorde benutzen, die sehr gelungen sind, die man genießen kann. Ich denke, das würde niemand bestreiten. Das Problem bei Swift – und auch bei anderen – ist, dass es nur das ist, es geht nicht darüber hinaus. Man hat ein Produkt, das aus vier Akkorden besteht und darauf baut die gesamte musikalische Karriere auf. Musik ist doch eine ganz eigene Kunstform, eine Form der ästhetischen Verarbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse, die etwas auszudrücken versucht, was in Verbindungmit der Umwelt steht. Dahinter steckt eine Technik, Fähigkeiten, dass man experimentiert, dass man eine gewisse Komplexität reinbringt. Musik ist  viel mehr als ein Song, der dann immer wieder neu recycelt wird. Wenn man darauf ein ganzes Werk aufbaut, dann zerbröselt das in den Händen und macht es unglaubwürdig, dass dadurch so viel Erfolg entstehen kann. Dass es natürlich kommerzieller Erfolg ist, das kann man wieder gut analysieren, also die Frage, warum, wenn es in der musikalischen Komplexität relativ primitiv und repetitiv ist, warum es trotzdem so einen großen Erfolg hat: Was ist der Aspekt daran, der so gigantische Massen generieren kann, die sich teilweise verschulden, um auf ein Konzert zu gehen? Da würde ich gerne lieber drauf schauen, nicht per se auf die Einfachheit eines Songs, weil darum geht es ja nicht. Und dasselbe gilt für die Texte. Es bleibt da eine Warenform, die sich vor allem durch Quantität auszeichnet und nicht durch ihre qualitative Substanz.

Abbildung 4: Anhänger „Fuck the Patriarchy”, einem beliebten Zitat aus dem Song All too well; Preis: 12,90 € (Quelle)

IV. Ein „Mundstück“9 des Kulturkampfs

HH: Vielleicht ist es so, dass mindestens der eine Widerspruch unter den mehreren, die du identifiziert hast, Estella, sich auflösen lässt: Für die Fans, es handelt sich vor allem um den Erfolg oder um das Können der Inszenierung. Sie wird als bodenständig angesehen, aber man kann gar nicht von einer echten Bodenständigkeit sprechen. Ich kenne ihre Biographie nicht gut, aber sie soll in einem relativ wohlhabenden Elternhaus auf dem Land aufgewachsen sein. Es gibt da zum Beispiel ein frühes Video von 2006 (Link), da war sie 16, wo sie in dem bekannten „Whisky a Go Go“-Club in Hollywood auftritt, und da spielt sie ein paar Country-Songs auf der Gitarre, mit einem Fiddle und so weiter in der Backing-Band: Nichts erstaunliches, und trotzdem hört sich das alles viel echter, ja authentischer an, als was danach kam. Das sieht alles noch ein bisschen „echt“ aus. Estella, du hast vorhin davon gesprochen, dass sie Produkt der Kulturindustrie sei – aber vielleicht ist genauer davon zu sprechen, dass sie ein Produkt ist, dass sich selbst produziert. Sie verfügt über ihre eigenen Produktionsmittel – was die wenigsten von uns tun, man könnte sie dafür beneiden.

PS: Ich denke, ihr habt schon mit der „Bodenständigkeit“ oder wahrgenommenen „Authentizität“ einen sehr wichtigen Aspekt angebracht, der auch oft genannt wird, wenn man sich den Diskurs um sie anschaut und was auch ihre Fans sagen. Weil es auch den Mythos gibt – der sicherlich auch kein völliger Mythos ist –, dass sie ihre Songs eben selbst schreibt und so weiter. Aber da ist eben auch wieder so, dass Leute, die sich auskennen,10 sagen, dass, wenn sie ihre Songs einfach nur auf Basis ihrer Akkord- und Melodieideen veröffentlichen würde, das kein Mensch gut finden würde; sie werden schon noch von professionellen Produzenten gut gemacht, die dann doch durch irgendwelche originellen rhythmischen Ideen oder durch die Instrumentation den Song dann doch irgendwie „retten“. Aber ich meine, der wesentlichere Aspekt ist eigentlich schon die politische Orientierung, für die sie steht oder zumindest zu stehen scheint, also dass sie sich eben in diesem aktuell ja vor allem in den USA schwelenden Kulturkampf so klar für eine bestimmte Form von Wokeness ausspricht. Das ist spannenderweise in ihren Song gar nicht so präsent, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aber dafür umso mehr in ihrer Inszenierung auf social media und dergleichen. Sie wird gerade von vielen jungen Frauen als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen, vielleicht sogar: die wichtigste Vorkämpferin, des heutigen Feminismus wahrgenommen, eine Art Anti-Trump oder Anti-Musk. Das scheint mir auch für ihre Fans sehr wichtig zu sein, dass sie mit ihrem Fantum ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Ideologie und damit zusammenhängend auch zu einem bestimmten Lebensstil, also zu einem woken Lebensstil, Ausdruck verleihen, zu dem dann wiederum das Swiftie-Sein schon fast dazugehört.

ES: Wenn ich mir Taylor Swift im allgemeineren Kulturkampf anschaue, verkörpert sie stark diese eine Seite, die du auch gerade schon genannt hast, also dieses liberale, woke – was ich an dieser Stelle nicht als polemisches Schlagwort meine, sondern als analytischen Begriff.  Auf der anderen Seite hat man das, was man so als „reaktionäre konservative Rechte“ bezeichnet also Andrew Tate, Ben Shapiro, Jordan Peterson, Elon Musk etc. Da gibt es eine klare kulturelle Spaltung und ich meine, sie vertritt stark das, was ich als „liberalen Feminismus“ bezeichnen würde. Den kritisiere ich prinzipiell als ein bourgeoises Produkt. Er vertritt ein Gleichheitsverständnis, in dem es darum geht, dass Frauen, salopp gesagt, jetzt auch CEOs werden sollen und dann gleichermaßen unterdrücken dürfen wie Männer – das ist das Narrativ. Das ist die Aneignung des Feminismus für den Klassenkampf von oben. Dass man damit keine tatsächliche Emanzipation aus dem oder eine Überwindung des patriarchalen Systems schafft, ergibt sich relativ selbstverständlich. Deshalb verstehe ich nicht, wie man sie derart als Ikone des Feminismus betrachten kann – nicht mal so sehr aus Taylor Swifts Perspektive, die können wir ja nicht wirklich kennen, außer vielleicht von den paar Interviews, die auf einer relativ oberflächlichen Ebene bleiben. Dass sie Sexismus erfährt, will ich gar nicht negieren, aber es geht nicht an die Basis vom strukturellen Ungleichheitssystem. Ich kann jedenfalls selten nachvollziehen, wie ihre Fans bzw. nicht einmal ihre Fans, aber alle, die sich irgendwie damit auseinandersetzen, allen Ernstes behaupten können, sie sei die Vorreiterin eines emanzipatorischen Feminismus. Und das bringt uns wieder auf die Ebene der materiellen Bedingungen zurück. Sie ist eben Milliardären und gehört nicht zu den Milliarden von Arbeiterinnen. Beide feministische Kämpfe können nicht gleichgesetzt werden. Damit nimmt man der ganzen Bewegung ihre Substanz und reduziert sie auf Fragen der Anerkennung, aber dabei kann man ja nicht stehenbleiben. Vielleicht erfährt sie auch oder hat Gewalt erfahren, das darf man nicht beiseiteschieben. Aber wenn sie dann zur feministischen Ikone erhoben wird, aber so viele andere Figuren nicht, deren Opfer viel größer sind, deren Kämpfe so viel mehr an der materiellen Basis ansetzen, kann ich das nicht nachvollziehen, das finde ich unverdient. Man sollte doch den Fokus vielmehr auf die sozialen Kämpfe richten, die mitten im alltäglichen Leben, auf der Straße stattfinden.

PS: Im Vorgespräch hast du dafür einen sehr treffenden Begriff gebraucht, du hast nämlich von girlboss feminism gesprochen. Einen Begriff, den ich vorher nicht kannte, der aber doch sehr gut in einem Wort zusammenfasst, für welche Form des Feminismus sie eigentlich steht.

ES: Sie hat ja, wir sprachen schon darüber, ein sehr erfolgreiches Businessmodell geschaffen, also in einer kapitalistischen Logik könnte man natürlich sagen, hat sie eine gewisse Form von Gleichstellung erreicht – aber jenseits davon stellt sich natürlich die Frage: Möchte man bei so einem Feminismusverständnis stehenbleiben? Und auch darüber hinaus: Was leistet sie denn inhaltlich für eine feministische Arbeit? In ihren Texten geht es ja häufig um ihre Ex-Freunde oder darum, dass sie selbst das Problem ist. Das ist eine Romantisierung von gescheiterten Beziehungen. Wo ist da die feministische Botschaft? Wenn man Songs produziert, die darauf hinweisen, wie unabhängig man von Männern ist, aber genau diese Songs eigentlich nur von Männern sprechen, dann ist das doch in sich nicht schlüssig. Nichts gegen Trennungsalben, aber die Art und Weise, wie Swift es macht, läuft eigentlich nicht darauf hinaus, dass es zu einer Emanzipation von genau diesen Beziehungsstrukturen führt, die patriarchal sind.

Abbildung 5: Taylor-Swift-Häkelset; Preis: 16,99 € (Quelle)

V. Leid und Liebe

HH: Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass unter den vielen guten Links, die uns Paul im Voraus geschickt hat, einer ist, der deine Worte gewissermaßen widerspiegelt und der eben nicht so apologetisch ist. Ich meine den Artikel von Mary Harrington aus UnHerd (Link). Die Überschrift lautet, ins Deutsche übersetzt: „Die dunkle Wahrheit über Taylor Swift. Zu viele junge Frauen sehnen sich nach Auslöschung“. Das ist eine interessante These. Und es sind ja gerade Swifts tragische love songs, meistens über die Ex-Freunde, die am besten laufen. Harrington spricht da von einem „Kamikaze-Mystizismus“, es geht psychologisch betrachtet fast in Richtung Selbstverletzung. Das ist ziemlich schräg und war mir zuvor so nicht bewusst, dass es tatsächlich darum kreisen könnte. Was sagt das aus, wenn so viele junge Frauen Lust auf Lieder haben, in denen es, weniger romantisch ausgedrückt, um schlechte Beziehungen geht, um Beziehungen, die schlecht enden? Worum geht es dabei – auch in Bezug auf diesen Feminismus, der eventuell keiner ist?

ES: Ja, es ist ein Feminismus, der eigentlich nichts fordert und daher eben ohne Substanz ist. Es gab da in den 2010er Jahren auch das Phänomen der Tumblr girls.11 Das hing damals mit Lana Del Rey zusammen, die in dieser Hinsicht gewisse Ähnlichkeiten zu Swift hat. Da wurde jedenfalls dieses Bild vom tragischen, traurigen „girl“ romantisiert und glorifiziert. Es diente als Gegenentwurf zum beliebten American girl, nach dem Motto: „So bin ich nicht, ich kämpfe mit dem Leben und leide am Weltschmerz“. Das ging dann auch wirklich oft mit Selbstverletzung einher und die wurde dann auch sehr stark verharmlost und wurde fast schon zum Trend, es wurde cool, dass man sich selbst verletzt – und das alles auch basierend auf einem Narrativ von Tragik: „Niemand versteht mich so richtig.“ Bis zu einem gewissen Grad knüpft Swift daran an. Sie hat etwas leicht Nihilistisches, wenn sie zur drama queen wird und sagt „It’s me, hi, I’m the problem“12 oder „You look like my next mistake“13. Sie weiß schon: Diese Person ist nicht gut für sie und trotzdem lässt sie sich darauf ein. Da steckt wenig feministische Integrität für mich drin, dann kann man eigentlich nicht Feminismus für sie beanspruchen, wenn man diese Mechanismen erkennt und zugleich sagt: „Ja, das will ich trotzdem.“

PS: Ja, dieses Thema oder die Grundstimmung, von der wir jetzt sprachen, ist nach meinem subjektiven Eindruck wirklich in drei Vierteln ihrer Songs mindestens eigentlich der Hauptaspekt. Also gescheiterte Beziehungen mit „boyfriends“. Also es gibt da auch auf der inhaltlichen Ebene eine gewisse Monotonie.

ES: Basierend auf einem Spektakel der Emotion, würde ich sagen. Also die Aufregung der Verliebtheit und dann das Scheitern der Beziehung, dass das zu so einem großen Spektakel wird ist vielleicht für viele der Grund, warum es so zieht.

HH: Du nennst das ein „Spektakel der Emotionen“, weil die Fans Lust und Genuss daran haben, sich das anzuschauen, mitzufühlen, ohne das selbst richtig erleben zu müssen, oder? Es bleibt ein interessanter Kreis von Widersprüchen. Eigentlich erleben wir sie als absolut unauthentisch, aber es ist doch möglich, dass so viele Fans diese Beziehungen doch leben, denn woher kommt sonst diese große Nachvollziehbarkeit?

ES: Ja, vielleicht ist die Basis dafür einfach menschliche Emotion und zwischenmenschliche Beziehungen. Aber vielleicht ist auch das Gegenteil der Fall. Bei einem Spektakel ist es schließlich häufig so, dass man es gerade aufregend findet, weil man es nicht selbst erlebt. In Seifenopern zum Beispiel passieren ja auch die wildesten Dinge, die in der Realität sehr unwahrscheinlich oder sogar unmöglich sind. Das Gefallen oder die Lust daran kommt eben genau daher, dass es dieses extrem Hyperstimulierende gibt, also ein Superlativ. Diese Songs, die ganz extrem immer wieder diesen Aspekt des Beziehungsdramas verarbeiten – bzw. es ist eigentlich noch nicht einmal eine Verarbeitung, es wird einfach immer wieder sehr offen auf den Tisch gehaut – geben mir das Gefühl, dass sie immer etwas Gesättigtes und Hochfrequentiertes haben. Man kann sich da in eine Emotion so richtig reinbegeben. Wobei das Interessente ja ist, dass die jüngere Generation statistisch gesehen viel weniger romantische Beziehungen hat, man sieht da einen klaren Trend zur Abnahme von sozialen und auch sexuellen Beziehungen. Vielleicht gibt es da einen Trend – das ist jetzt aber sehr spekulativ –, dass die Menschen solche Dramatik in ihrem tatsächlichen Leben nicht erfahren, aber stattdessen eben in Swifts Musik. Sie haben das Begehren danach und hier findet es eine phantastische Auslebung.

PS: Zeigt sich die Konventionalität von Swift nicht auch darin, dass sie eigentlich nur die Themen von stereotyper „Frauenliteratur“ oder „Frauenfilmen“ – ich denke etwa an Rosamunde Pilcher oder Hedwig Courths-Mahler – nochmal aufwärmt, die doch oft genau diesem Plot folgt, dass sich eine Frau in einen Mann verliebt, der ihr eigentlich nicht gut und dann eine ganz spannende und das Herz erwärmende Entwicklung mit ihm durchmacht?

ES: Ja, wobei sich bei Swift eine Qualität zeigt, denn bei ihr hängt es immer mit einem feministischen Empowerment zusammen. Es ist nicht so wie klassische Liebesgeschichten, die einem bestimmten Plot folgen, einem konservativen Plot, den man schon seit Jahrzehnten kennt, sondern bei ihr geht es darum, dass das als „feministisch“ gelabelt wird auf die eine oder andere Art und Weise. Und das finde ich persönlich gefährlich, weil der Feminismus, der historisch eine revolutionäre Praxis war und ist, angeeignet wird für einen Markt, also er wird einfach zur Ware. Ein politischer Begriff wird entpolitisiert, ihm wird dadurch die Luft rausgenommen; er wird vereinbar gemacht mit dem, was du ansprachst.

Abbildung 6: Sweatshirt „God Save the Queen”; Preis: $65 (Quelle)

VI. Wohlportionierte Erotik

PS: Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt scheint mir die Erotik zu sein. Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass wir es mit Musik zu tun haben, deren Zielgruppe vor allem junge Frauen und vielleicht auch homosexuelle Männer ist – so jedenfalls das Stereotyp, aber wir sahen ja bereits, dass es der Realität nicht vollkommen widerspricht, auch wenn es natürlich am Rand auch heterosexuelle männliche Swifties gibt. Und das führt mich genau zu dem Aspekt der Erotik. Um ein wenig persönlich zu werden: Was mich, als ich ihr Bild zum ersten Mal gesehen habe, irritiert hat, war, dass sie ein so krasser Popstar ist, aber auf mich persönlich nicht sehr erotisch wirkt. Also sie ist auf jeden Fall eine schöne Frau, aber es ist wichtig zu verstehen, dass Schönheit und Erotik nicht dasselbe sind, sich teilweise sogar ausschließen. Also es gibt – und ich glaube, Swift zählt dazu –, die fast „zu schön“ sind. Also die auf jeden Fall attraktiv wirken, aber nicht erotisch – was für einen Popstar auf jeden Fall sehr ungewöhnlich ist. Ich hatte mir dann die Frage gestellt, ob das jetzt nur mit meinem subjektiven Geschmack zu tun hat, bin aber schnell darauf gekommen, dass dem nicht so ist. Das ist auf jeden Fall ein Thema, das sehr oft besprochen wird.14 Es gibt nämlich auch für Erotik objektive Kriterien. Es gibt einfach Frauen, die von fast allen Männern für erotisch gehalten werden, und andere Frauen nicht, dass ist ganz offensichtlich. Und Swift wird eben von vielen Männern nicht für erotisch gehalten.

An diesem Punkt habe ich aber eine weitere Entdeckung gemacht und da muss ich zugeben, dass mich verschiedene ihrer Songs tatsächlich zum Nachdenken gebracht haben, weil sie das in verschiedenen Songs auch selbst zum Thema macht. Sie zeigt sich dort durchaus in erotischen Posen – aber macht es zugleich zum Thema, dass sie gerade nur eine Rolle spielt, um einem Mann zu gefallen. Das fand ich schon interessant, wie einfach eigentlich diese Methoden sind, mit denen sich eine Frau als erotisch präsentieren kann. Das hat natürlich viel mit Kleidung zu tun – etwa durch Kleidung, die die Brüste hervorhebt – oder bestimmten Arten, einen anzusehen. Da fand ich diese Videos tatsächlich ein Stück weit lehrreich. Und da würde ich bei ihr schon eine neue Qualität sehen, dass es eben ein Popstar ist, der wirklich nicht mehr auf Erotik setzt. Und das hat eben nichts mit ihrem Aussehen zu tun, sondern mit ihrer Art, also dass sie kenntlich macht, dass Erotik wesentlich das Produkt einer bestimmten Performance ist und dass sie vielleicht wirklich der erste erfolgreiche weibliche Popstar ist, der auf diese Art von Performance eben verzichtet. Das finde ich schon bemerkenswert.

HH: Ich kann deine Aussagen nachvollziehen – wobei das nur eine Perspektive ist. Aber ja, wenn man 1.000 heterosexuelle Männer befragen würde: „Wer ist sexuell attraktiver, Madonna in den 80er Jahren oder Taylor Swift?“, dann wäre das einfach kein Wettbewerb, dann würden 950 von ihnen Madonna wählen. Und das hat einfach den Grund, dass das für Madonna von Anfang an Teil ihrer Selbstproduktion war: Sie wusste, dass sie auf viele Männer sexuell attraktiv wirkt und hat das als Teil ihrer Produktion und Kunstproduktion effektiv ausgenutzt. Ich finde das absolut legitim. Und Swift wollte diesen Weg nicht gehen. Von jeglicher Perspektive, von jeglicher sexuellen Orientierung aus betrachtet, sieht sie gut aus. Sie ist, in Pauls Worten, „schön“. Aber sie will sich nicht sexuell vermarkten – was auch absolut legitim ist, aber vielleicht nur auffällig ist, weil das in der Popindustrie bislang für Frauen, die viel verkauft haben, eher eine Ausnahme war. Aber es stimmt tatsächlich: In bestimmten Videos inszeniert sie sich doch auf diese stereotype klischeehafte Weise – aber damit vermittelt sie eine sehr andere Botschaft als die meisten Frauen in der Popindustrie bis jetzt.

ES: Ich glaube, das Kriterium von Erotik oder Sexappeal war so bis Anfang der 2000er Jahre das Ausschlaggebende, wenn es um weibliche Celebrities ging. Und das war auch ein Kriterium der Vermarktung. Doch ich denke, dass es da eine Veränderung im Narrativ gegeben hat und dass das für Frauen mittlerweile nicht mehr das alleinig Ausschlaggebende ist für ihre Karriere, Objekt des Begehrens für heterosexuelle Männer zu sein. Ich würde sagen, jetzt haben wir es mit einem ganz anderen Diskurs zu tun, jetzt geht es vor allem um den liberalen Feminismus, den sie vertritt. Was ich aber spannend finde, ist, dass es praktisch auf Ähnliches hinausläuft. Es ist ja nicht so, dass sie jetzt nur noch komplett bekleidet auftritt und man kann kein Stück Haut sieht. So eine explizite Verweigerung hat man beispielsweise bei Billie Eilish zu Beginn ihrer Karriere viel mehr gesehen im Vergleich. Aber wenn Swift das macht, wenn sie sich so zeigt, dann macht sie es ausgehend von einem ganz anderen Narrativ, dann macht sie es als Selbstermächtigung: „Niemand schreibt mir vor, wie ich mich anzuziehen habe.“ Dieses Moment wird neu eingewoben in den Diskurs. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Swift sich nicht bewusst ist, dass das natürlich nach wie vor den Aspekt des männlichen Begehrens miteinbezieht. Weil das, was als erotisch, als sexy empfunden wird, ist ja nun mal in unserer gegebenen Realität stark durch eine männlich Definition von Begehren bestimmt, da kann man sich ja nicht einfach rauslösen Nur wird das neu verpackt: „Ich mache das für mich, ich mache das nicht für die Männer.“ Dass das aber natürlich trotzdem ansprechend ist für heterosexuelle Männer, wird sie genauso wissen wie der Rest der Welt auch.

PS: Es gibt vor allem einen Song, wo das, was ich meine, sehr eindeutig ist, Look what you made do.15 Das ist auch wieder eine Form von Pastiche. Es werden alle möglichen Männerphantasien in einem Video durchgenommen. Das finde ich wirklich gelungen. Es hat natürlich eine gewisse Zweideutigkeit, ich finde es sozusagen aus zwei Gründen gelungen. Einmal finde es als Mann gelungen, weil ich es wirklich erotisch finde. Ich finde es aber auch quasi als Philosoph gelungen, weil es eben sehr lehrreich ist, weil mir anhand dessen sehr viel über das Wesen erotischer Inszenierung klar geworden ist. Es geht da eben auch nicht bloß um leichte oder abwesende Bekleidung – so zeigt sich Swift ja geradezu permanent. Aber das ist nicht der Punkt, das wird in dem Video indirekt sehr, sehr deutlich. Sie könnte sich auch vollkommen nackt ausziehen, aber es würde ohne die entsprechenden Gesten nicht unbedingt erotisch wirken. Es hat etwa auch viel mit der Kamera zu tun, wohin sie fokussiert, wie die Frau in die Kamera blickt. In diesem Video ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass der direkte Blick in die Kamera, kombiniert mit einer entsprechenden Bekleidung, sehr erotisch wirkt. Oder auch andere Einstellungen der Kamera. Und es geht natürlich nicht zuletzt um Phantasien und Szenarien, die angedeutet werden; Erotik ist eben etwas Mentales, kein bloß physisches Phänomen. Das könnte man jetzt stundenlang analysieren. Das nun ist, meine ich, durchaus als Fortschritt zu bewerten, dass da ein neuer Typus Frau aufkommt, das finde ich auf jeden Fall nicht schlecht, auch wenn sie mich damit als Privatperson viel weniger stark abholt als irgendwelche Madonna-Songs, die mich tatsächlich schon sehr ansprechen.

ES: Wenn der Text lautet „Look what you made me do“, dann frage ich mich: Worin liegt da die feministische Botschaft? Natürlich ist eine Frau nicht verantwortlich für die patriarchalen Strukturen, in die sie hineingeboren wurde. Aber diese Textzeile impliziert doch, dass man jede Verantwortung von sich weist. Das glorifiziert schon wieder Passivität. Sie hat doch auch eine gewisse Form der Handlungsmacht. Stattdessen sagt sie aber „Schau mal, zu was du mich alles gebracht hast“ – ohne, trotz Erkenntnis, daran etwas zu ändern. Oder wie ist die Botschaft des Songs zu verstehen?

PS: Ja, das ist schon die Botschaft. Du hast mich quasi gezwungen, also du als „The Man“ – da gibt es ja auch dieses Video, wo sie sich als „typischen Mann“ darstellt als Gegenstück (Link) –, dass ich diese ganzen Rollen spielen muss, nur um dir zu gefallen. Also ich glaube, die Botschaft ist gar nicht so tiefgründig, das kann man heutzutage bestimmt auch in der Bravo lesen, falls es die noch gibt. Wobei klar: Dieses Video weist eine Zweideutigkeit auf, sie holt damit heterosexuelle Männer auf jeden Fall erstmal ab mit den verschiedenen Szenen, die dort gezeigt werden. Aber zugleich ist es eben durchaus gelungen in dem Sinne, dass es bei mir und andere Männer auch bewirken kann, zu hinterfragen: Was finde ich eigentlich erotisch? Bin ich da nicht eigentlich sehr manipulierbar? Zugleich macht sie es in ihren anderen Videos ja schon anders, weil sie da genau auf diese Gesten und Codes verzichtet. Das würde ich schon hervorheben.

HH: Ich denke, die Fangemeinschaft von Swift besteht tatsächlich zu 70 bis 80 % aus Frauen. Die meisten von diesen Frauen müssen sie auf irgendeine Art begehren. Ich glaube, das gehört zu dieser Art von Fansein, ob man das nun als sexuelles Begehren definiert oder als eine andere Art, die wollen quasi ein Stück von ihr haben. Ich frage mich, ob dieses massive weibliche Begehren, das auf Taylor Swift gerichtet ist, mittel- oder langfristig zu einer Umdefinition von Erotik überhaupt beitragen könnte; dass sie nicht mehr so einseitig vom männlichen Begehren definiert wird.

Zum Thema Begehren habe ich mir Look What You Made Me Do angeschaut und es verglichen mit Nobody No Crime, was ich besser kenne. Diese beiden Songs haben ähnliche Motive. Da wird eine Dreiecksgeschichte erzählt, auch mit Fremdgehen und so weiter. Und es endet, unausgesprochen, mit dem Mord einer Frau an einem Mann. Das ist so eine Art ausgelebte Rachephantasie. Das ist eigentlich dasselbe, um was es eigentlich in Look What You Made Me Do geht: Dass sie sich endlich an ihren Ex-Freunden rächt und ausleben kann, wer sie eigentlich ist. Und das ist kein feministisches Motiv, weil alles dreht sich weiterhin um diese Männer. Aus Swifts Perspektive ist auch eine andere Art von Feminismus kaum möglich, weil sie eben keine Verbindung zu den alltäglichen Kämpfen von 95 bis 99 % der Frauen auf diesem Planeten hat und schlichtweg nicht haben kann wegen dieser Milliarden, die sie angehäuft hat.

ES: Vielleicht sollte man zwischen Begehren und Erotik unterscheiden. Ich denke, das weibliche Begehren von heterosexuellen Frauen in Bezug auf Swift hat viel mit Identifikation zu tun. Freud unterscheidet ja zwischen diesen Grundtypen des Begehrens: sexuell und identifikatorisch. In diesem Sinne handelt es sich schon um Ermächtigung. Ich kann auch das Feministische daran erkennen, wenn man die eigene Autonomie oder patriarchale Repression erkennt. Vielleicht ist das der erste basale Schritt auf dem Weg der Befreiung. Da findet eine Identifikation statt, um überhaupt erst einmal ein Vokabular dafür zu finden und intelligibel zu machen.

Ein weiterer Aspekt ist, dass sie auch eine sehr große queere Fanbase hat. Und da ist ein Begehren auf jeden Fall vorhanden, auch bei schwulen Männern, aber ich weiß nicht, inwiefern es erotisch ist oder ob man es auch wieder eher mit Identifikation zu tun hat oder Repräsentation. Man hat vor allem ein Motiv des „wütend aber nett“ oder auch den kaum ins Deutsche übersetzbaren Begriff „wholesome“ – gesund, aufrichtig, liebenswert. Dieser „wholesome“ Charakter wird eben begehrt, aber dabei geht es nicht unbedingt um Erotik. Sicher wird sie trotzdem zum erotischen Objekt für viele, nicht nur für heterosexuelle Männer.

Abbildung 7: Taylor-Swift-Drucke; Preis: ab 4,39 € (Quelle)

VII. Nietzscheanismus fürs Volk

PS: Aber die Paradoxie besteht doch gerade darin, dass sie von all diesen „normalen Frauen“ (Krankenschwestern, Pflegerinnen, Kassiererinnen etc.) trotzdem gehört und gut gefunden wird. Ich glaube, um das zu verstehen, stößt so ein marxistisches Verständnis schon an seine Grenzen. Aber genau das ist ja die Eigenart der Ideologie unserer Zeit, dass die Menschen eben von einer Ideologie wirklich ganz durchdrungen und fest überzeugt sind, die gar nicht zu ihrer materiellen Lebenssituation passt. Um die Paradoxie, oder stärker noch: Absurdität, zu verstehen, muss man sicherlich auf andere Theoretiker zurückgreifen wie etwa Freud, den du schon genannt hast, um diese spezifische Attraktivität der „Führerfigur“ zu verstehen, wie er sie in Massenpsychologie und Ich-Analyse beschreibt. Oder eben auch Nietzsche. Was hat Taylor Swift mit Nietzsche zu tun?

HH: Was mir in meiner sehr unsystematischen Art, Nietzsche zu lesen, immer wieder auffällt, ist sein tiefer Hass gegen das, was man später als „Massenkultur“ bezeichnen wird. Ich teile diesen Hass nicht, aber ich bin davon beeindruckt, wie zäh er ist und wie sehr Nietzsche sich darin auslebt. Sehr bekannt ist etwa Nietzsches Hass auf Zeitungsleser und vor allem auch Zeitungsleserinnen: „Freilich, es giebt genug blödsinnige Frauen-Freunde […][,] welche das Weib bis zur ‚allgemeinen Bildung‘, wohl gar zum Zeitungslesen und Politisiren herunterbringen möchten.“16 Also wenn überhaupt Leute Zeitung lesen, erst recht Frauen, dann geht für Nietzsche die Post ab, das geht überhaupt nicht. Was er nicht ertragen kann, ist die Vorstellung, dass, wenn 10.000 Menschen die gleichen Zeitungsartikel gelesen haben, sie in diesem Moment ungefähr genau gleich denken und fühlen werden zu einem bestimmten Thema.17 Und es da geht es nicht nur um 10.000, sondern vielleicht 50.000 oder 100.000 Menschen oder mehr. Und, um auf die Gegenwart zu kommen, geht es nun um Millionen Menschen, die sich ein Lied von Swift anhören und dann ungefähr das gleiche Gefühlserlebnis haben. Weil diese Lieder lassen ja auch keine große Palette von Gefühlen zu, die affektive Reaktion, die sie hervorrufen sollen, ist relativ einfach gestrickt. Und dieser Hass auf die Massenkultur steht nicht am Rande von Nietzsches Werk, sondern mitten im Zentrum.

ES: Also ich würde da Marx doch verteidigen, weil ich denke, man kann mit dem marxistischen Ideologiebegriff diesen Aspekt, den du angesprochen hast, doch ganz gut abdecken. Bei Nietzsche finde ich das ein bisschen schwer. Ich glaube aber, dass man ihre Verortung im Kulturkampf mit Nietzsche kritisieren könnte – nicht nur bei ihr, sondern auch ihren Gegnern – mit Hilfe der Konzepte des Ressentiments und der Sklavenmoral. Aber da frage ich mich zugleich, inwiefern Nietzsche als Antifeminist eine gute Wahl ist. Wenn ich von diesem Aspekt absehe und einfach nur schaue, was übrig bleibt für die Analyse von Taylor Swift, kann man an Nietzsches Analyse der Massenkultur anknüpfen, dass sich eben die Moderne neue Götter schafft. Man denkt, man hätte das Christentum hinter sich gelassen, versteht aber als vermeintlich atheistische Gesellschaft gar nicht mehr, dass man sich neue eigene Vergötterungen schafft, denen gegenüber man sich auch wieder in ein neues Abhängigkeitsverhältnis versetzt. Vielleicht hilft diese Perspektive zu verstehen, inwiefern wieder eine Form der Kontrolle entsteht, dass sich der Mensch seine eigene Unterwerfung, wünscht; also das Problem der freiwilligen Unterwerfung.

PS: Ja, Taylor Swift in dem Sinne ein Ausdruck unserer Zeit, dass es in ihr, aus einer nietzscheanischen Perspektive gesprochen, offensichtlich eine krasse Abwesenheit von Sinn und Orientierungsfiguren gibt, aber zugleich eben auch eine starke Sehnsucht danach, sich von irgendwelchen Führungsfiguren faszinieren oder mitziehen zu lassen. Das kann man ja wirklich auf beiden Seiten dieses Kulturkampfs sehen, auch was Trump oder Musk zum Beispiel angeht, dass es da einen ganz vergleichbaren Personenkult gibt. Das finde ich spannend und quasi seinerseits faszinierend, aber zugleich auch beunruhigend und beängstigend. Also vor dieser konkreten Fankultur habe ich jetzt erstmal nicht so viel Angst, sie ist auch ganz sympathisch im Vergleich zu anderen Fankulturen – aber diese grundsätzliche Bereitschaft, sich autoritären Führern und Strukturen zu unterwerfen … Klar, Taylor Swift verkörpert eine sehr sanfte und indirekte Autorität, sie ist ja auch, zum Glück vielleicht, keine politische Führerin, das sieht bei den beiden Männern, die ich genannt habe, schon ganz anders aus und da wird es dann wirklich gefährlich, beängstigend und bedrohlich. Aber auf beiden Seiten ist die grundsätzliche Bereitschaft, diesen, um mit Kierkegaard zu sprechen, „Sprung in den Glauben“ zu vollziehen, diese Hingabe und Faszination zu praktizieren und darin eine Form von Freiheit zu finden – die natürlich eine völlige Scheinfreiheit ist, das Gegenteil von Freiheit –, sehr groß, das scheint mir ein beunruhigender Ausdruck der krassen Irrationalität unserer Epoche zu sein, der schlimme Befürchtungen weckt. Insofern würde ich sagen: Taylor Swift wird ja oft als großer Hoffnungsträger dargestellt. Aber wenn sie wirklich unsere große, vielleicht die einzige Hoffnung, ist, dann leben wir wirklich in einer sehr hoffnungslosen Zeit.

ES: Nihilismus ist auch ein guter Stichpunkt. Die Tendenz zur musikalischen, stilistischen und thematischen Wiederholung, dass da wenig substanziell Neues geschaffen wird, als Ausdruck eines Nihilismus, der sich eigentlich nichts mehr für die Zukunft vorstellen kann.

PS: Ich bin auch auf sehr kurzes, aber interessantes, YouTube-Video gestoßen, wo sie geradezu als die Verkörperung des „letzten Menschen“ verstanden wird (Link). Also in Wahrheit ist sie vielleicht nur zum Schein eine „Überfrau“, sondern doch eher der Ausdruck eines tiefgreifenden Nihilismus. Aber was diesen Nihilismus noch schwerer zu durchschauen oder noch diffiziler macht: Auf wen Swift, worauf einige Fachkollegen gerne verweisen, um ihre „Tiefgründigkeit“ zu untermauern,18 immer wieder auch anspielt oder jedenfalls anzuspielen scheint, ist Nietzsche. Es geht um diesen berühmtem Satz „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“. Ich bin sogar auf zwei Songs – Cruel Summer und Cassandra – gestoßen, in denen sie ihn, jeweils leicht variiert, zitiert; was natürlich auch bemerkenswert ist, dass sie anscheinend auf diesen Satz gestoßen ist und ihn dann gleich in zwei Songtexten verwurstet. Und sie hat einen Preis verliehen bekommen und in ihrer Dankesrede diesen Satz auch zitierte, allerdings ohne den Namen Nietzsche zu nennen (Link). Ich meine, dass dieser Satz als Motto von ihrem eigenen Selbstverständnis und demjenigen ihrer Fanbase schon sehr zentral ist tatsächlich im Sinne von: „Wir sind alle Frauen und queere Menschen, die es sehr schwer hatten, aber die diese verschiedenen Traumata und so weiter, denen wir ausgesetzt worden sind, gestärkt hervorgehen und nach vorne sehen.“19 Diese Art „Nietzscheanismus fürs Volk“20 hätte Nietzsche bestimmt nicht gefallen, aber ich finde sie erstmal gut oder jedenfalls besser als andere Arten mit solchen Erfahrungen umzugehen. Aber klar, diese Haltung bleibt halt verkürzt, weil sie vollkommen in diesem neoliberalen Denken der individuellen Selbstermächtigung verhaftet bleibt, aber dennoch scheint sie mir in bestimmten Situationen der „Unterdrückung“ – oder jedenfalls: Benachteiligung – einen gewissen Spielraum zu eröffnen, um damit umgehen zu können, auch wenn sich darin jetzt keine größere gesellschaftliche Perspektive zeigt und dadurch letztlich scheitert. Wobei ich die Vermutung habe, dass Swift mit diesem Zitat eigentlich gar nicht auf Nietzsche verweist, sondern auf einen Song einer Kollegin namens Kelly Clarkson, der schon 2011 erschienen ist. Dessen erste Refrainzeile lautet genau „What doesn’t kill you makes you stronger“ (Link). Ich glaube jedenfalls, dass es Clarksons und nicht Swifts Verdienst ist, diesen Spruch so groß in die heutige Popkultur eingebracht zu haben. Ich habe mir diesen Song von Clarkson auch angehört und das hat mir nochmal dieses Paradox, von dem wir sprachen, krass vor Augen geführt. Also ich fand ihn richtig stark, vor allem aufgrund ihrer starken Stimme. Von Musikexperten wird ja oft gesagt, dass Swifts Stimme eigentlich recht durchschnittlich ist, jedenfalls nicht besonders kraftvoll.21 Also das ist wirklich ein Song der Power hat, getragen von einer kraftvollen Frauenstimme mit einer großen Tiefenresonanz; wirklich in jeder Hinsicht ein objektiver besserer Popsong, zumal dort in der folgenden Zeile des Refrains gleich nochmal Nietzsche zitiert auf einer sehr tiefgründigen Ebene zitiert wird, nämlich mit „Just me, myself and I“ der Anfang von Ecce homo (Link). Also er ist wirklich auch sehr nietzscheanisch, sowohl was den Text als auch, was die Musik angeht. Ich finde es bemerkenswert und auch traurig, dass Clarkson, auch wenn sie ebenfalls sehr erfolgreich ist, im Vergleich zu Swift doch eher in der zweiten Reihe steht.

HH: Wobei in Cassandra von 2024 auch zwei abgewandelte Nietzsche-Zitate hintereinander vorkommen, was darauf hindeutet, dass sie dort doch bewusst Nietzsche zitiert hat. Es heißt dort zunächst, „What doesn’t kill you makes you aware“22 – eine interessante Verschiebung im Vergleich zum Original – und direkt heißt es, interessanterweise wiederum auf Ecce homo anspielend, nämlich den Untertitel des Buches: „What happens if it becomes who you are?“23 Wobei es sich auch hier um einen freischwebenden Bedeutungsträger handelt, würde ich sagen. Aber ansonsten stimme ich dir zu, Paul: Wenn Swift die einzige Hoffnungsträgerin wäre, dann sähe es tatsächlich sehr schlimm aus – aber ich glaube, das ist sie nicht. Aber wer stattdessen Hoffnungsträgerinnen sein könnten, müssen wir wohl bei anderer Gelegenheit eruieren.

ES: Allerdings ist es bis zu einem gewissen Grad auch Nietzsches eigenem aphoristischen Schreibstil geschuldet, dass man sich einzelner Sätze derart phrasenmäßig bedienen kann. Und manchmal kann man in einem Aphorismus sehr viel sehen und manchmal sehr wenig – das hängt nicht zuletzt davon ab, was man daraus macht.

Wen ich zu guter Letzt noch als Alternative zu Swift ins Spiel bringen wollte, ist die mexikanische Sängerin Natalia Lafourcade. Die teilt meines Erachtens viel mit Nietzsches Lebensphilosophie, auch wenn sie ihn nicht zitiert. In ihrer Musik holt sie mehr raus als Swift, gerade auch wenn es um das Thema Trennung geht, dass Lafourcade oft behandelt. Sie hat zum Beispiel einen Song, der beginnt mit der Zeile: „Ich bedanke mich beim Tod, dass er mich das Leben gelehrt hat“ (Link). Da geht es nicht um den natürlichen Tod als faktisches Phänomen, sondern die vielen kleinen Sterbensprozesse, von denen das Leben durchzogen ist; dass in jeder Etappe etwas zu Grunde geht und man daraus etwas lernt fürs Leben. Da sehe ich viel mehr Nietzsche drin. Das wäre mein Schlusswort: Man es auch wesentlich gehaltvoller machen als Taylor Swift.

Quelle der Vorlage des Artikelbilds: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Taylor_Swift_%286966830273%29.jpg

Fußnoten

1: Anmerkung: Beim Direktkauf sind die Karten teilweise günstiger, doch man muss sie in der Regel über den Sekundärmarkt erwerben, wo sie wesentlich mehr kosten (vgl. etwa dieser Bericht).

2: Vgl. etwa diese Artikelserie, diesen Artikel über ihre „Authentizität“, diesen Sammelband, in dem nur um ihre Praxis des Wiederaufnehmens alter Songs geht, diesen Sammelband und jenen. Für einen deutschsprachige Artikel vgl. diesen.

3: Vgl. diesen Artikel von Susan Andrews, diesen von Jessica Flanigan und diesen von Catherine M. Robb (ungekürzte Version).

4: Vgl. die Einleitung der Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke Bd. 7. Frankfurt a. M. 1986, S. 26.

5: Vgl. diese beiden sehr guten, wenn auch apologetischen musiktheoretischen Analysen ihrer Werk (hier und dort).

6:  Dieses Konzept hat der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss in die Sprachtheorie eingeführt (vgl. Einleitung in das Werk von Marcel Mauss. Übers. v. Henning Ritter. In: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1. Wiesbaden 2010, S. 7–41; 39).7

7: „Ich lachte in dein Gesicht und sagte: ‚Du bist nicht Dylan Thomas, ich bin nicht Patti Smith. Das ist nicht das Chelsea Hotel, wir sind Idioten der Gegenwart.“

8: Vgl. Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. Übers. v. Hildegard Föcking & Sylvia Klötzer. In: Andreas Reckwitz u. a. (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften. Berlin 2015, S. 335–350; 342–344.

9: Vgl. Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 5.

10: Vgl. die in Fn. 5 zitierten Analysen.

11: Die Seite Tumblr war eine heute in den Hintergrund geratene Vorgängerin der heute populären social media-Plattformen.

12:  „Hallo, ich bin’s, ich bin das Problem“ (Anti-Hero).

13: „Du siehst wie mein nächster Fehler aus“ (Blank Space).

14: Vgl. etwa den Artikel Erfolgreich, wunderschön – und unsexy von Michalis Pantelouris (Link).

15: Andere Beispiele sind etwa Lavender Haze und Bejeweled.

16: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 239.

17: Vgl. zu diesem Studie Nietzsche, der aristokratische Rebell des marxistischen Historikers Domenico Losurdo (Übers. v. Erdmute Brielmayer. Hamburg 2009, S. 449–456).

18: Vgl. etwa diesen Artikel in der Zeit.

19: Vgl. für diese Haltung auch den Song I Can Do It With A Broken Heart.

20: Nietzsche spricht in der Vorrede von Jenseits von Gut und Böse vom Christentum als „Platonismus für’s ‚Volk‘“ (Link).

21: Vgl. etwa diese und jene Einschätzung.

22: „Sie sagen: Was dich nicht umbringt macht dich bewusster“.

23: „Was passiert, wenn das dasjenige wird, was du bist?“; Vgl.  Ecce Homo, Titelblatt.