Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien IV

Malaysia

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien IV

Malaysia

7.6.25
Natalie Schulte
Das letzte Land, das unsere Autorin, Natalie Schulte, mit dem Fahrrad bereiste, war Malaysia. Nach guten 5.000 km bekam sie das schleichende Gefühl, die Reise könnte doch noch schlecht ausgehen. Mit Überlegungen, ob Fahrradfahren in Südostasien eine Einlösung des Nietzsche’schen Aufrufs „gefährlich leben!“ darstellen kann, beschließt sie ihre Essayreihe.

Das letzte Land, das unsere Autorin, Natalie Schulte, mit dem Fahrrad bereiste, war Malaysia. Nach guten 5.000 km bekam sie das schleichende Gefühl, die Reise könnte doch noch schlecht ausgehen. Mit Überlegungen, ob Fahrradfahren in Südostasien eine Einlösung des Nietzsche’schen Aufrufs „gefährlich leben!“ darstellen kann, beschließt sie ihre Essayreihe.

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Gefährlich leben!

Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber!1

Diese Sätze hat Nietzsche für die Fröhliche Wissenschaft verfasst. Und irgendwie – zugegeben – haben sie mich immer angesprochen. Ein verlockender Ausspruch, der vage ein Mehr von Leben verspricht: Abenteuer, Intensität, Todesverachtung! Dieses kaum zu verhehlende Interesse hat dazu geführt, dass mich andere oft fragten, ob ich denn meine, ein gefährliches Leben zu führen. Und so sehr man diese Frage vielleicht mit einem großspurigen „Ja“ beantworten will, es ist schwer in einer pittoresken Ferienstadt wie Freiburg zu leben und darauf ernsthaft ein „Ja“ zu zwitschern. Wer weiß, es ist jedenfalls möglich, dass im Hintergrund der Idee, Südostasien per Fahrrad zu durchreisen, Nietzsches Worte ihren Zauber wirkten. Einmal auf diese Frage mit herzhaftem „Ja!“ zu antworten, das wäre doch was!

Dabei ist mir wohl entgangen, dass der Ausbruch des Vesuvs ein durchaus seltenes Ereignis und es daher für den Einzelnen gar nicht so arg gefährlich ist, es sich am Fuß des Vulkans bequem zu machen. Zumindest haben sich entweder gut eine halbe Million Leute entschieden, dass Nietzsche mit seinen Worten durchaus recht hat oder dass diese Gegend sich für Städte mit klangvollen Namen einfach anbietet. In Ercolano und Torre del Greco, über Torre Annunziata und San Sebastiano al Vesuvio bis Somma Vesuviana und Ottaviano haben Bewohner entschieden, der Feuergefahr zu trotzen und das, obwohl die Orte innerhalb der „roten Zone“ des aktiven Vulkans liegen.

Ob den Bewohnern das – wie ich gelesen habe – nur schwer kalkulierbare Risiko eines Ausbruchs so präsent ist wie für mich die Gefahr, in Malaysia überfahren zu werden, weiß ich nicht sicher. Und um bei dem zu bleiben, wobei ich mir sicher bin: Malaysia ist ein gefährliches Land für Fahrradreisende! Insofern bin ich froh, dass Malaysia das letzte Land unserer Reise gewesen ist. Nicht etwa, weil ich im Fall des Überfahren-Werdens zumindest drei andere Länder zuvor gesehen hätte, sondern generell. Wäre ich hier gestartet, wäre ich vermutlich umgedreht.  

Gefährlich fahren in Vietnam und Kambodscha

Vietnam erschreckte durch seinen lauttönenden Verkehr. Jeder Lastwagenfahrer, der vermeiden wollte, dass dem vor sich hinträumenden Fahrradfahrer – eventuell aufgrund eines bereits vorhandenen Hörschadens – entging, welch großes Gefährt sich ihm von hinten nährte, gab mit brüllender Hupe zu verstehen: „Achtung, ich komme! Fahre jetzt keine Kurve, denn ich überhole dich gleich“. Diese Lastwagenhupen waren, wie auch die Lastwagen selbst, beängstigend laut und haben mich möglicherweise einen guten Teil meines Hörvermögens gekostet.  

Kambodscha bot die Wahl zwischen breiten, vielbefahrenen Schnellstraßen oder kurvigen, ungeteerten, holprigen Seitenwegen. Wenn man genug vom kreischenden Verkehr hatte, konnte man auf kleine Wald- und Wunderwege abbiegen, die nicht selten vor einem Zaun endeten. Hatte man genug von diesen labyrinthischen Pfaden, konnte man erneut auf fette Verkehrsstraßen ausweichen.

Todfahrthailand

Aber erst in „Todfahrthailand“ verspürte ich erstmals den eisigen Griff existenzieller Angst. Warum? Im Gegensatz zu Vietnam und Kambodscha sind die Straßen zwar gut ausgebaut, aber genau das ist das Problem. Es lässt sich so schön rasen auf Thailands Straßen. Und darüber hinaus gibt es weit mehr Vierräder als Zweiräder – aber allesamt sind sie stärker motorisiert und haben es: eilig.  

Geschwindigkeitsübertretungen gelten als Kavaliersdelikt; kein Führerschein, betrunken, Sicherheitsmängel? Da muss man halt mal 30 Euro zahlen – und darf weiterfahren. Thailand gehört zu den Spitzenreitern mit seiner Zahl an Verkehrstoten und landet im weltweiten Ranking regelmäßig auf dem zweiten oder dritten Platz. Lediglich Liberia und die Dominikanische Republik können Thailand noch übertreffen. Während Thailand auf 38,1 pro Hunderttausend Einwohner und Jahr kommt, liegt die Zahl in Deutschland im Schnitt zwischen 3 bis 4 Toten.

Mörderisches Malaysia

Wie kann Malaysia also schlimmer sein als Thailand? Malaysia gelingt kein Platz in den Top Ten. Selbst Vietnam hat demgegenüber weit mehr Verkehrstote pro Hunderttausend zu verzeichnen. Trotzdem spricht einiges dafür, dass Malaysia für Fahrradfahrer weit gefährlicher ist. Denn es ist das erste Land, dessen Schnellstraßen regelmäßig keinen Seitenstreifen für kleinere und langsamere Gefährte wie Scooter oder Fahrräder aufweisen. Wenn in Malaysia weniger Fahrradfahrer sterben, so liegt das vermutlich daran, dass es dort überhaupt wenig Fahrradfahrer gibt, die außerorts unterwegs sind. Auf Malaysias Schnellstraßen fahren fast nur Autos und Motorräder und die können, wenn sie ein rasendes, schlingerndes Großgefährt im Rückspiegel sehen, auf die Tube drücken und der Gefahr mit einiger Wahrscheinlichkeit entkommen.  

Bei uns Fahrradfahrenden sieht es anders aus. Alle motorisierten Gefährte überholen uns, d. h. jeder herannahender Auto-, Lastwagen- oder Busfahrer muss eine kleine Kurve fahren, um an uns vorbeizukommen. Auf einer vielbefahrenen Straße sind es pro Stunde mehrere hundert Lkw- und Autofahrer, die mit über 100 km/h eine kleine Kurve um uns fahren. Eine ganz klitzekleine. Sollten sie jedenfalls. Bei jedem hinter uns herannahenden, unbekümmert beschleunigendem Motorengeräusch bete ich inniglich, dass auch diese Räder an mir vorbei rollen mögen.

Wie fühlt sich das an? Wie Abenteuer, Intensität, Todesverachtung?

Nein. Mehr wie der kalte Hauch eines reichlich gewöhnlichen und unpersönlichen Todes. Die Möglichkeit, als platter Frosch auf Malaysias Straße zu kleben, erscheint mir mitnichten wie das würdige Endergebnis eines gefährlichen Lebens. Fast ahne ich, Nietzsche hatte keine Fahrradtouristen im Blick, als er seine Sentenz schrieb. Also habe ich vielleicht Nietzsches Aufruf zu wörtlich genommen?

Vorbereitender Heroismus und experimentelle Erkenntnisse

Und da lohnt sich ein Blick auf die umliegenden Zeilen. Denn dieser Vierzeiler ist nicht der ganze Aphorismus 283. Bei Nietzsche drohen manchmal Missverständnisse und der berühmteste Vorwurf, der sich gegen allzu hurtige Interpretatoren richtet, lautet: Wurde da nicht etwas aus dem Zusammenhang gerissen?

Der Aphorismus beginnt mit dem im Original gesperrt gedruckten Stichwort: „Vorbereitende Menschen“, das sich gar nicht so leicht mit dem Aufruf zum gefährlichen Leben in Eins bringen lässt. Denn für Abenteurerinnen sollte Vorbereitung nicht den Hauptteil ihrer Geschichte ausmachen.  

Sehen wir uns also die ersten Zeilen bis zum Aufruf an:  

Ich begrüsse alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nöthig haben wird, – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntniss trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können – und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und Grossstadt-Bildung: Menschen, welche es verstehen, schweigend, einsam, entschlossen, in unsichtbarer Thätigkeit zufrieden und beständig zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen zu überwinden ist: Menschen, denen Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit und Verachtung der grossen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist, als Grossmuth im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten: Menschen mit einem scharfen und freien Urtheile über alle Sieger und über den Antheil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, gewohnt und sicher im Befehlen und gleich bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im Einen wie im Anderen gleich stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen!

Ich muss sagen, ein abenteuerliches Leben habe ich mir anders vorgestellt, mal ganz abgesehen davon, dass ich mit den heroisierenden, männlichen Tapferkeits- und Durchhalteidealen Nietzsches weit weniger sympathisiere. So wundert es mich nicht, dass „gefährlich leben!“ zum erinnerungswürdigen Teil des Aphorismus wurde, während die ersten Zeilen seltener zitiert werden. Klingt mehr nach der Arbeit einer Gesellschaftsgründung, die zwar auch ihre Festtage, aber weit mehr „Werktage“ hat, an denen die „vorbereitenden Menschen“ „schweigend, einsam, entschlossen“ schlicht ihren „unsichtbare[n] Thätigkeit[en]“ nachgehen.  

Und apropos „unsichtbar“: Wenn Nietzsche von dem „Heroismus der Erkenntniss“ schreibt und der „Kriege […] um der Gedanken und ihrer Folgen willen“ oder auch nur vom „Kriege […] mit euch selber“, frage ich mich, ob ich tatsächlich aufgerufen werde, in die Welt – sei es nun mit Schwert oder mit Fahrrad – zu ziehen oder ob nicht meine Gedankenwelt selbst der Tummelplatz aller Gefahren und allen gefährlichen Lebens sein soll. Verfolgen wir erstere Möglichkeit lieber nicht im Aphorismus 283 der Fröhlichen Wissenschaft, der schließlich eine dubiose Philosophenherrschaft in Aussicht stellt:  

Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben! Endlich wird die Erkenntniss die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt: – sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr mit ihr!

Werfen wir lieber einen Blick in eine andere Abzweigung des labyrinthischen Denkens:  

Und die Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, – für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. „Das Leben ein Mittel der Erkenntniss“ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?2

Auch hier der Krieg, der Heroismus und die Gefahr. Und doch: Das Leben in diesem Aphorismus ist ein Leben in Gedanken, d. h. im Dienst der Erkenntnis – die aber selbst nicht die eine oder letzte Erkenntnis ist, sondern ein Experimentierfeld bietet. Muss man also gar nicht die Welt bereisen, um ein gefährliches Leben zu führen? Kann im Denken bereits das Leben riskiert werden? Das scheint der Aphorismus nahezulegen. Intensität und Genuss werden von einem abenteuerlichen Denken (!) versprochen.

Ob ich diesen Aphorismus aus dem Zusammenhang gerissen habe? Nun, das werdet ihr selbst überprüfen müssen. Ich jedenfalls kehre Malaysia den Rücken und heim in meine traute Stube mit den Büchern, Zetteln, Stiften und fühle mich bereit:

Für ein gefährliches Leben – in Gedanken!

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.  

Fußnoten

1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 283.

2: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 324.