Nietzsche und Cyborgs

Der internationale Nietzsche-Kongress 2025

Nietzsche und Cyborgs

Der internationale Nietzsche-Kongress 2025

15.11.25
Emma Schunack
Unter dem Thema Nietzsches Technologien wurden in diesem Jahr wieder internationale Besuchende zur Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft nach Naumburg an der Saale eingeladen. In der Zeit vom 16. bis zum 19. Oktober gab es neben verschiedenen Vorträgen, einem Film-Screening sowie einem Konzert außerdem eine Kunstausstellung zu besuchen. Unsere Autorin Emma Schunack war vor Ort und berichtet von ihren Eindrücken. Ihre Frage: Wie können Nietzsches Technologien im technologischen Zeitalter Ausdruck finden?

Unter dem Thema Nietzsches Technologien wurden in diesem Jahr wieder internationale Besuchende zur Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft nach Naumburg an der Saale eingeladen. In der Zeit vom 16. bis zum 19. Oktober gab es neben verschiedenen Vorträgen, einem Film-Screening sowie einem Konzert außerdem eine Kunstausstellung zu besuchen. Unsere Autorin Emma Schunack war vor Ort und berichtet von ihren Eindrücken. Ihre Frage: Wie können Nietzsches Technologien im technologischen Zeitalter Ausdruck finden?

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Friedrich Nietzsche selbst verbrachte viele Jahre seiner Kindheit und Jugend in der Stadt an der Saale. Sein Familienhaus steht noch heute im Weingarten 18. 2008 wurde hier die Friedrich-Nietzsche-Stiftung Naumburg gegründet, welche das Nietzsche-Dokumentationszentrum als öffentlich zugängliches Forschungs- und Kulturzentrum betreibt, das auch in diesem Jahr als Veranstaltungsort des Nietzsche-Kongresses dient.  

Gelangt man vom Bahnhof zum Kongress, stößt man zunächst auf das ehemalige Familienhaus Nietzsches. Ein von Wein umranktes, verwinkeltes Haus, in dessen Erdgeschoss sich heute ein kleiner Buchladen mit einer Auswahl an Schriften Nietzsches befindet. Geht man nur wenige Schritte weiter, erstreckt sich direkt neben dem historischen Nietzsche-Haus das Dokumentationszentrum als moderner Neubau mit hellen Mauern und großen Fensterfronten. Im Inneren des Gebäudes befinden sich auf drei Etagen lichtdurchflutete Räume, die Platz für eine Bibliothek, ein Archiv, zwei Ausstellungsbereiche und zwei Plenarsäle bieten. In den Fluren stehen Nietzsche-Büsten, an Wänden und Treppen sind immer wieder große Schriftzüge mit Zitaten des Philosophen angebracht.  

Die Tagung, geleitet von Edgar Landgraf, Catarina Caetano da Rosa und Johann Szews, beginnt am Donnerstagnachmittag mit verschiedenen Grußworten, unter anderem des Direktors der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, Andreas Urs Sommer, sowie dem Vorsitzenden der Nietzsche-Gesellschaft e. V., Marco Brusotti. Die an diesem Wochenende gehaltenen Vorträge zu Nietzsches Technologien sind gegliedert in verschiedene Sektionen, von „Kultur- und Körpertechniken“, „Techniken des 19. Jahrhunderts“ und „Anthropo- und Medientechniken“ über „Techniken der Disziplinierung und Subjektivierung“ bis „Sprachliche und rhetorische Techniken“. So wird der Begriff Technik breit gefasst und bietet Grundlage für verschiedene Auslegungen.

Nietzsche-Wandtattoo. Nietzsche-Dokumentationszentrum erste Etage.

I. Menschliches Denken als Technik

Welche Techniken des Geistes muss der Mensch praktizieren, um wie Nietzsche zu denken? Mit dieser Frage und ihren Implikationen beschäftigt sich Emanuel Seitz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Basel, in seinem Vortrag Nietzsche, ein Stoiker des Rausches. Die Techniken einer geistigen Übung. Dabei geht es Seitz primär um die Fragen: Was muss ich tun, um Nietzsche zu werden? Kann Nietzsche als Stoiker bezeichnet werden? Zur Beantwortung erläutert Seitz zunächst drei Techniken der geistigen Besinnung der Stoa: die Übung des Denkens, des Begehrens und der Tatkraft. Jene Übungen beziehungsweise Techniken sollen sich erlernen lassen. Sie zielen darauf, sich durch Besinnung eine angemessene Vorstellung vom wahren Wert der Dinge zu machen. Der Mensch soll mithilfe der Übungen zu Werturteilen gelangen, die nicht bloß subjektiv sind, er soll Distanz praktizieren und wie Gott vom Universum nach unten blicken. Durch das Praktizieren jener Techniken des Denkens entsteht eine Art kosmisches Bewusstsein, so lehrt es die Stoa, was zu einer neuen Form der Freiheit im Urteil führe. Erst durch das Praktizieren dieser Übungen sei der Mensch zur Umwertung bestehender Werte befähigt.

Seitz verbindet jene Übungen der Stoa mit Nietzsches eigens gelebter Technik der Philosophie als Lebenskunst, in der es um Taten geht, nicht um Wissen, so Seitz. Er argumentiert, dass Nietzsche zwar zu völlig anderen Ergebnissen kommt als die Stoa, nicht zu einem humanistischen Ideal des Mitleids, sondern zur Selbstzucht und Selbstsucht als Leidenschaft. Nietzsche verachte zwar den Moralismus, beschäftige sich jedoch mit Fragen um den Willen zur kosmischen Gerechtigkeit. Seitz argumentiert daher, dass Nietzsche sehr wohl als Stoiker in Bezug auf die Methode seines Denkens bezeichnet werden könne, ganz im Gegensatz zu den Inhalten seiner Philosophie. Abschließend plädiert er daher ausdrücklich dafür, Nietzsche als Techniker des Denkens ernst zu nehmen.

Nietzsche-Dokumentationszentrum, zweite Etage.

II. Posthumanistische Perspektiven auf Nietzsche

Passend zu dem diesjährigen Thema des Kongresses beziehen sich einige der Vorträge auf posthumanistische Epistemologie sowie Science und Technology Studies. Besonderen Fokus auf posthumanistische Positionen legt Babeth Nora Roger-Vasselin, die in ihrem Vortrag Einverleibung außer Betrieb. Die Einverleibung als Technik betrachtet Nietzsches Begriff der Einverleibung mit der Figur der Cyborg nach Donna Haraway zu verbinden versucht.  

Roger-Vasselin betrachtet Nietzsches Begriff der Einverleibung als Technik der Individuation. So bezeichne Einverleibung, wie ein Organismus seine sinnliche Erfahrung aktiv simuliert, ein gestaltgebender Prozess, den alle Lebewesen teilen. Roger-Vasselin beschreibt diesen Prozess der Einverleibung als Technik, da er nicht natürlich oder uns angeboren sei, stattdessen sei er das Ergebnis einer auf der Individuation beruhenden Erziehung. Bei dieser Technik handele es sich um standardisierte Prozesse durch Formen und Rhythmen.  

Doch wie kann jene Technik der Einverleibung im technologischen Zeitalter aussehen? Roger-Vasselin argumentiert in diesem Zusammenhang unter Rückgriff auf die Figur der Cyborg und bezieht sich auf Donna Haraway. Die Cyborg wird von Haraway beschrieben als „ein kybernetischer Organismus, ein Hybrid von Maschine und Organismus, ein Produkt sowohl der sozialen Realität als auch der Einbildungskraft“1, eine Kreatur, die weder natürlich noch künstlich, sondern beides zugleich und nichts allein ist2. Kybernetische Organismen sind für Haraway weder Natur noch Kultur, sondern immer schon Naturkultur3. Konzeptionell lässt Haraway mit der Figur der Cyborg vermeintliche Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Maschinen verschwimmen und etabliert ein Denken von Differenz jenseits von Dualismen4: „Eins zu sein ist immer ein gemeinsam-Werden mit vielen“5. Und so spricht sich Roger-Vasselin dafür aus, dass Gemeinschaftsformen im technologischen Zeitalter Kollektive von Cyborgs sein sollten.

Eine weitere posthumanistische Perspektive auf Nietzsche präsentiert Matthäus Leidenfrost in seinem Vortrag Tierhaltung und Zähmung des Menschen. Nietzsche über anthropotechnische Praktiken, in welchem er sich mit dem Verhältnis von Tier, Mensch und Technik bei Nietzsche beschäftigt. Er erörtert, wie Nietzsche selbst den Menschen als krankes Tier bezeichnet habe, welches mit den Werkzeugen der Kultur gezähmt worden sei und sich hinter Kleidung und Moral verberge. In der Herde lebend sei der Mensch defizitär und sei seiner eigenen Anlagen beraubt, so Nietzsche. So leide der Mensch am Leben selbst. An dieser Stelle bezieht sich Leidenfrost auf Peter Sloterdijk, der in diesem Kontext eine Aufforderung an den Menschen formuliert, seine eigene Animalität anzuerkennen und Teil eines offenen bio-kulturellen Seins zu werden. Krankheit ist hier kein starrer Zustand, sie ist Zerfall, aber auch Erkenntnis und Neubeginn, eine Möglichkeit zum Wachstum. Leidenfrost bezieht sich weiter auf aktuelle trans- und posthumanistische Diskurse und auch er verweist an dieser Stelle auf Donna Haraway. Er liest Nietzsches diesbezügliche Überlegungen als eine Einladung an den Menschen, sich im Zeitalter der Perfektion und innerhalb seiner eigenen Domestizierung der eigenen Tierhaftigkeit in einer affektiven Dimension zu öffnen, ganz im Sinne des Endes von Also sprach Zarathustra: „Den wildesten muthigsten Thieren hat er alle ihre Tugenden abgeneidet und abgebraut; so erst wurde er – zum Menschen.“6

Conny Gabora, Der Philosoph spricht mit den Tieren (zur Website des Künstlers)

III. Ästhetische Erfahrung

Neben den wissenschaftlichen Vorträgen bot der Kongress auch ästhetische Zugänge zu Nietzsches Denken. So wurde die Ausstellung Nietzsches Echo. Bilder der Widersprüche des Malers Conny Gabora eröffnet. Die gezeigten Arbeiten sind von Nietzsche und seinen Gedanken und Lebenskonflikten inspiriert. Sie sollen eine künstlerische Hommage an den Philosophen darstellen. Ferner fand am Freitagabend die deutsche Filmpremiere von Nietzsches Landschaften im Oberengadin von Fabien Jégoudez statt und am Samstagabend gaben die Pianistin Silvia Heyder sowie die Sängerin Julia Preußler ein Konzert, bei dem sie einige ausgewählte von Nietzsches Kompositionen vortrugen. Uns so konnte Nietzsches Denken nicht nur Ausdruck in wissenschaftlicher Form, sondern auch in ästhetischer Erfahrung finden.

IV. Abschluss

Wie können Nietzsches Technologien im technologischen Zeitalter Ausdruck finden? Der Kongress in Naumburg hat gezeigt, wie Nietzsche heute als Techniker des Denkens zu lesen ist, einer Philosophie des Tuns, nicht des bloßen Wissens. Dieses Denken bietet die Grundlage für einen Blick auf den Menschen als ein Wesen, das seine Animalität und seine Einverleibungen anerkennt und sich in Kollektive von Cyborgs und in das offene biokulturelle Geflecht des Seins einschreibt: „Wir sind alle Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschinen und Organismen; in einem Wort, wir sind Cyborgs“7.

Die Photographien stammen von der Autorin. Das Artikelbild zeigt eine Nietzsche-Büste von Fritz Rogge aus dem Jahr 1943 in der ersten Etage des Nietzsche-Dokumentationszentrums.

Literatur

Fink, Dagmar: Cyborg werden: Möglichkeitshorizonte in feministischen Theorien und Science Fictions. Gender Studies. Transcript Verlag.

Haraway, Donna: Die Begegnung der Arten. In: Texte zur Tiertheorie, herausgegeben von Roland Borgards, Esther Köhring und Alexander Kling. Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 19178. Reclam.

Haraway, Donna: Manifestly Haraway. Posthumanities 37. University of Minnesota Press.

Fußnoten

1:  „[A] cybernetic organism, a hybrid of machine and organism, a creature of social reality as well as a creature of fiction“ (Haraway, Manifestly Haraway, S. 5; Übersetzung der Redaktion).

2: Vgl. Fink, Cyborg werden: Möglichkeitshorizonte in feministischen Theorien und Science Fictions, S. 9 f.

3: Vgl. ebd. S. 59 f.

4: Vgl. ebd. S.9 f.

5: Haraway, Die Begegnung der Arten, S. 239.

6: Von der Wissenschaft.

7: „We are all chimeras, theorized and fabricated hybrids of machine and organism; in short, we are cyborgs“ (Haraway, Manifestly Haraway, S. 7; Übersetzung der Redaktion).