„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid

Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid. Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

14.5.25
Lou Wildemann & Paul Stephan
Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?

Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?

„Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.“
(Jenseits von Gut und Böse, Aph. 157)

Die „Sterbemaschine“ Sarco, erfunden von Philip Nitschke. Foto: Ratel (Link)

I. Assistierter Suizid und „Sterbetourismus“

Paul Stephan: Liebe Lou, vielen Dank, dass du dich zu diesem Gespräch bereiterklärt hast, zu diesem doch recht diffizilen und polarisierenden Thema Suizid1. – Dass dieses Thema so stark polarisiert, kann man ja zum Beispiel an den jüngsten Debatten um die vom australischen Arzt und Sterbehilfeaktivisten Philip Nitzschke – „Nomen est omen“, möchte man fast sagen – entwickelte „Sterbekapsel“ bzw. „Sterbemaschine“ Sarco sehen. Nitschke, auch als „Elon Musk des assistierten Suizids“2 bezeichnet, wirbt mit einem schnellen, unkomplizierten Tod durch Ersticken in einer mich persönlich ein wenig an einen Staubsauger erinnernden Plastikkapsel. Obwohl in der Schweiz die Beihilfe zum Suizid prinzipiell nicht verboten ist, sorgte der erstmalige Einsatz dieser Gerätschaft vor wenigen Monaten doch für einige Empörung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt; bislang ohne Ergebnis. Was meinst du, warum ausgerechnet diese Erfindung so besonders vehemente Reaktionen hervorrief?

Lou Wildemann: Ich bin keine Expertin für assistierten Suizid. Auch juristisch kann ich diesen Fall überhaupt nicht beurteilen. Warum das so eine Empörung hervorruft, hat möglicherweise mit dem Aussehen dieses Gerätes zu tun und mit der Tatsache, dass man da im wahrsten Sinne abgekapselt ist und somit sehr isoliert. Man trifft zwar eine mündige Entscheidung, aber auf diese Weise hat die ganze Prozedur fast schon etwas Außerirdisches.

Viel entscheidender sind aber meiner Meinung nach die unzähligen ethischen Fragen, die damit einhergehen. Auf die habe auch ich keine abschließenden Antworten, aber mir ist die Debatte sehr wichtig. Denn das ist eine sehr technisierte Form von Suizid ist und eine Form, die Suizid möglicherweise verwertbar macht, kapitalisiert, monetarisiert. Das ist in einer derart auf Profit ausgelegten Gesellschaft, wie wir sie sind und wie sie es vermutlich noch viel stärker sein wird, ein potentielles Einfallstor für die Frage: Wem wird Suizid, im schlimmsten Fall, irgendwann einmal nahegelegt, weil man nicht mehr verwertbar ist – aus Alters-, Krankheits- oder sonstigen Gründen? Das ist ein Zustand, den wir nicht haben wollen sollten. Aber ja, das ist extrem komplex und mir fällt es schwer, mich auf irgendeine Seite zu stellen. Ich möchte den Leuten, die das für sich in Anspruch nehmen wollen, Betroffenen, die Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung überhaupt nicht absprechen. Zugleich ist die Technisierung eines so existentiellen Schrittes zumindest fragwürdig.

PS: Ich könnte mir auch vorstellen, dass diese Art des Suizids den Leuten sozusagen ein bisschen „zu trivial“ ist. Wobei man diese ganze Angelegenheit auch als eine Art von Kenntlichmachen sehen kann. Was ich zum Beispiel bemerkenswert fand, es wurde davon gesprochen, dass diese Methode sehr „künstlich“3 sei. Diese Wortwahl wirft natürlich die Frage auf, warum denn andere Methoden „weniger künstlich“ sein sollen. Also mir kommt die große Empörung, die sich auf diesen einen Einzelfall bezieht, schon ein wenig übertrieben vor.

LW: Ja, der Begriff der „Künstlichkeit“ ist in dem Zusammenhang natürlich interessant und wahrscheinlich ist damit eher „technisiert“ gemeint. Und das verstehe ich beim Anblick dieser Kapsel. Ob das jetzt „schlimmer“ oder „weniger schlimm“ ist als eine Pille zu nehmen oder sich für eine andere Methode zu entscheiden, möchte ich nicht bewerten. Interessanter finde ich wirklich die Frage nach der Verwertbarmachung. Es scheint ja einen Bedarf zu geben, den ein Markt erkennt und da offenbar rein will. Dass es den Bedarf gibt, hat möglicherweise auch mit der Tabuisierung des Themas als solchem zu tun. Ich frage mich, ob, wenn Suizid weniger oder gar nicht tabuisiert wäre, es dann solche Auswüchse gäbe. Ich weiß das nicht, aber ich finde es interessant, darüber nachzudenken, ob die, wie du sagtest, „Kenntlichmachung“ eigentlich auf ein anderes Problem hindeutet.

PS: Dass ein großer Markt offensichtlich vorhanden ist, kann man auf jeden Fall auch daran sehen – was im Kontext der Debatte um die „Sterbekapsel“ auch diskutiert worden ist –, dass es in die Schweiz mittlerweile einen durchaus erheblichen „Sterbetourismus“, wie man sagt, gibt. Die Gesetzgebung der Schweiz ermöglicht es nämlich nicht nur Schweizer Staatsbürgern, sich beim Suizid assistieren zu lassen, sondern auch Menschen aus anderen Ländern. Zuletzt machten von dieser Möglichkeit 1.700 in der Schweiz wohnhafte und 500 aus diesem Grund angereiste Personen aus dem Ausland pro Jahr Gebrauch.4 Das ist schon viel. Es gibt in der Schweiz nur eine wirklich substantielle Einschränkung, nämlich, dass die Beihilfe zum Suizid nicht „aus selbstsüchtigen Beweggründen“5 geschehen darf.

LW: Was sind „selbstsüchtige Beweggründe“?

PS: Ja das ist halt die Frage, ob es schon als „selbstsüchtig“ bewertet wird, wenn man dafür überhaupt Geld haben möchte oder ob das Kriterium strenger ist. Das scheint mir allein auf Grundlage des Gesetzestextes nicht unbedingt selbsterklärend zu sein.

LW: Ah, „selbstsüchtig“ – meint hier nicht etwa den Betroffenen selbst, der sich suizidiert?

PS: Nein, die Person, die assistiert, darf nicht aus selbstsüchtigen Motiven handeln, das ist sehr eindeutig formuliert im entsprechenden Paragraphen. Bei der „Sterbekapsel“ ist es entsprechend auch so, dass ihre Betreiber im Augenblick kein Geld für ihre Benutzung verlangen bzw. nur die Kosten für das Gas, den Stickstoff, den sie verwenden, erstattet bekommen wollen. Aber ich gebe dir schon Recht, dass diese „Kapsel“ schon allein durch ihr Aussehen nicht zu Unrecht den Eindruck erweckt, dass daraus ein Geschäftsmodell werden könnte. Und genau das wirft natürlich sehr, sehr große Fragen auf: Werden solche Angebote dann irgendwann beworben werden? Wird’s dann irgendwann den „Luxussuizid für Reiche“ geben? Und viele mehr.

LW: Interessant ist auch, ob in der Schweiz die allgemeinen Suizidzahlen, also diejenigen, die nicht assistiert sind, die im Stillen, im Verborgenen passieren, ob die gesunken sind – oder ob durch dieses Angebot die Zahlen eher steigen. Das ist ja eine Kritik, die oft geäußert wird. Diesbezüglich bin ich mir aber nicht sicher.6 Nur weil etwas möglich ist, muss das nicht bedeuten, dass es auch in Anspruch genommen wird. Aber es scheint eine allgemeine Sorge zu geben, dass Suizid geradezu „ansteckend“ sei und Menschen durch diese Möglichkeit oder den Diskurs darum erst auf die Idee gebracht werden. Das kann man aber durchaus hinterfragen. Ich denke, entweder man ist suizidal, oder nicht – aber auch das ist ein heikles Feld.

PS: Genau, du sprichst einen wichtigen Grund an, warum dieses Thema so tabuisiert ist. Ich habe zur Vorbereitung auf dieses Gespräch verschiedene Artikel zu diesem Thema auf philosophischen Internetseiten und dergleichen gelesen und man findet eigentlich keinen Text, wo nicht zumindest am Rand der große Hinweis steht: „Wenn Sie darüber nachdenken, sich umzubringen, suchen Sie sich Hilfe“, und es wird die Telefonnummer einer psychologischen Beratungsstelle angegeben. Kommt dir diese Vorsicht übertrieben vor? Oder findest du, dass solche Hinweise auch hilfreich sein können?

LW: Ja, das ist das nächste große Fass … Da denke ich auch sofort an die „Triggerwarnungen“ und daran, wie inflationär diese derzeit verwendet werden und ob sie dann eigentlich noch das tun, was sie sollen. Da gibt es mit Sicherheit ein breites Spektrum von sehr aufrichtig gemeinten Hilfsangeboten, aber zugleich eben auch eine Art Etikette, der vorauseilend gefolgt wird und solche Artikel oder auch Kunst, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, mit Triggerwarnungen oder derlei Hinweisen versieht. Ob das irgendwem wirklich hilft oder am Problem selbst etwas ändert, weiß ich nicht, aber zumindest sehe ich diesen Trend der Triggerwarnungen kritisch. Das scheint inzwischen eine Art Standard geworden zu sein, der sich reproduziert. Ich frage mich manchmal, auf welchen Zugang zur Welt da draußen das hindeutet – vor der wir ja auch nicht gewarnt werden. Aber ja, immer wieder klarzumachen, dass es Hilfsangebote gibt, ist mit Sicherheit kein Fehler. Mir ist das Hilfsangebot lieber, als die Triggerwarnung – sagen wir so.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

II. MALA – ein Film über den Suizid einer jungen Frau

PS: Wir sitzen hier ja heute vor allem aus dem Grund zusammen, weil du einen Film zu diesem tabuisierten Thema machst – und zwar genau mit dem Anspruch, wenn ich dich richtig verstehe, da genau den Finger auf die Wunde zu legen und das Thema Suizid in durchaus provokanter Weise auf die Leinwand zu bringen. Kann man das so sagen? Ich gehe nach allem, was du bisher gesagt hast, davon aus, dass du deinem Film keine Triggerwarnung voranstellen wirst?

LW: Also erstmal zu meinen Beweggründen, das zu machen. Mein Motiv, diesen Film zu machen, ist nicht zu provozieren oder irgendeinen gesellschaftlichen Impact auszulösen. Mein Motiv ist, ein ganz spezifisches Gefühl zu beschreiben und in eine filmische Form zu bringen. Was ich damit meine, ist die Gleichzeitigkeit eines sehr stark scheinenden Äußeren und eines hoffnungslosen Inneren und einer sehr einsamen Entscheidung, die gefallen ist, bevor der Film überhaupt beginnt. Der Film zeigt nur die letzten wenigen Tage des Lebens einer jungen Frau – nach vielen Jahren des sich Quälens und Abwägens; der Erfahrung, immer wieder an denselben Punkt zu kommen und immer wieder an der eigenen Vergeblichkeit zu scheitern. Ihre Entscheidung steht und wir sehen sie nur noch wenige letzte Vorbereitungen treffen. Sie räumt im wahrsten Sinne des Wortes auf. Das alles tut sie aber, während sie Freunde trifft, ihren Job macht, sehr viel unterwegs ist, und von außen als eine toughe, starke Person gelesen wird. Darum geht es mir: zu zeigen, dass man eigentlich gerade bei scheinbar belastbaren, starken Personen besonders gut hingucken müsste. Weil das genau diejenigen sind, die über ihr eigenes Image stolpern, weil sie es für völlig unmöglich halten, darüber zu reden, wie es ihnen wirklich geht. Die meinen, alles mit sich selbst ausmachen zu müssen, und dann eine sehr einsame Entscheidung treffen. Ihr Umfeld ist dann völlig vor den Kopf gestoßen, weil es das nicht hat kommen sehen. Diese Fälle gibt es zuhauf. Das berichten Angehörige immer wieder, dass sie das gerade bei ihm oder ihr „niemals gedacht hätten“. Darum geht es mir also, das ist mein Motiv: Ein Gefühl zu beschreiben, aus der Perspektive der suizidalen Person, das in dieser Intensität nur Wenige kennen oder sich nur sehr schwer hineinversetzen können. Im Grunde geht es darum, wie es sich anfühlt, wenn man zwar noch teilnimmt am Leben, aber eigentlich abgeschlossen hat. Das ist meine Motivation, das zu machen. Wenn das dazu führt, dass sich Menschen durch diese ehrliche Darstellung provoziert fühlen, ist das nicht mein Ziel. Aber wenn es bewirkt, dass nur eine Person diesen Zustand ein bisschen besser nachvollziehen und dadurch möglicherweise aufmerksamer auf die Menschen um sich herum schauen kann, dann ist es gut. Mich bewegen vor allem persönliche, intrinsische Motive. Provokation und überhaupt eine mögliche Rezeption haben beim Schreiben des Drehbuchs keine Rolle gespielt.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

PS: Zu betonen ist an dieser Stelle, dass der Film ja noch nicht vorliegt. Ihr seid gerade in der Vorbereitungsphase, oder?

LW: Ja, wir sind in der Vorbereitungs- und Finanzierungsphase. Die geht auch schon sehr lange und gestaltet sich sehr, sehr holprig und schwierig. Denn in Deutschland gibt es ein öffentliches Filmfördersystem und man braucht, auch wenn man einen Kinofilm macht, einen öffentlich-rechtlichen Sender, der sich daran beteiligt und den Film später auswertet, nachdem er im Kino lief. Hierfür einen Partner zu finden, der dieses Thema unterstützt, ist schwer und scheitert bisher immer wieder an der Sorge vor Verantwortung. Da werden Dinge vorgebracht wie „Werther-Effekt“ – also Angst vor Nachahmung. Da wurde mir nahegelegt, ich solle doch das Ende nochmal umschreiben, und ob man nicht dasselbe erzählen könne, ohne dass sie sich letztlich suizidiert. Also es gibt auch den starken Wunsch nach einem Happy End, ganz offensichtlich. Das hat alles dazu geführt, dass wir entschieden haben: Okay, wir müssen das jetzt auf eigene Faust finanzieren. Denn wir wollen die Geschichte nicht verändern. Und wenn das in diesem System nicht funktioniert, dann müssen wir das independent machen. Wir tun gerade alles dafür, im Sommer zu drehen, ab August.

PS: Genau, und ihr habt eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, die im Augenblick auch noch läuft (Link). Also wenn man jetzt diesen Film, dieses Projekt unterstützen mag, kann man das gerne noch tun. Wie läuft die Kampagne bislang?

LW: In Wellen. Es gibt immer wieder Tage, an denen es sprungartig ansteigt und dann stagniert es wieder. Das ist unterschiedlich. Aber wir bleiben optimistisch.

PS: Ja, das ist wichtig.

LW: Und das Schöne ist, es gibt Angehörigenverbände und die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, die das Drehbuch gelesen haben und die uns da sehr drin unterstützen und das aus Präventionssicht sogar für ein wertvolles Projekt halten – gerade, weil es so schonungslos zeigt, wie es einer solchen Person gehen kann. Und das ist sowieso eine interessante Beobachtung: Ich arbeite jetzt seit sechs Jahren an diesem Projekt und was ich immer wieder feststelle, ist, dass Menschen, die sich wirklich dezidiert mit dem Thema beschäftigen, da gar nicht so eine Berührungsangst haben wie Leute, die sich damit noch nicht befasst haben. Da ist die Scheu deutlich größer.  Betroffene, Angehörige und Fachleute sind eher dafür, dass eine größere Offenheit entsteht. Denn das Tabu ist noch immer vorhanden.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

PS: Ja, auf jeden Fall. Du hast ja selbst vom berühmtesten Beispiel für die vermeintliche „Ansteckungsgefahr“ des Suizids gesprochen, dieser Erzählung, dass sich in den 1770er Jahren ganz viele jungen Menschen, die Goethes Werther gelesen haben, das Leben genommen haben. Stimmt das eigentlich überhaupt so, wie man es sich erzählt? Hast du dich damit mal beschäftigt? Und hast du nicht doch die Befürchtung, dass es jemanden geben könnte, der sich durch deinen Film in der Entscheidung, sich umzubringen, bestärkt fühlt, sich diese junge Frau in irgendeiner Form als Vorbild nehmen könnte?  

LW: Also meines Wissens nach ist der sogenannte „Werther-Effekt“ nicht unumstritten. Das ist das eine. Und das andere ist: Ich kann die Sorge vor Nachahmung verstehen, die ist ernst zu nehmen. Gleichzeitig weiß ich, dass mein Drehbuch und die Art und Weise, wie ich den Film erzählen will, Suizid nicht verherrlichen, das ist auch nicht mein Ansatz. Aber ich werde ihn auch nicht moralisch verurteilen. Ich zeige eine individuelle Geschichte einer Person. Und die Geschichte endet… bitter. Für alle Beteiligten ist es bitter, keiner hat so richtig gewonnen. Es hat auch niemand Schuld. Aber Mila, die Hauptfigur, hat aus ihrer Sicht auch keinen Fehler gemacht. Ich bin generell der Überzeugung, dass man ein Publikum nie unterschätzen sollte und dass Leute für sich das mitnehmen werden, was sie mitnehmen wollen. Ich glaube, intendierte Happy Ends, denen man anmerkt, dass sie gerade versuchen eine moralische Botschaft mitzugeben, sind für Betroffene deutlich schlimmer, weil sie sich dann wieder nicht gesehen und nochmal einsamer in ihrem Gefühl oder in ihrem Zustand begreifen, weil ihnen jemand zeigt: Ach, guck mal, und am Ende wird doch alles gut. Das kann die Lage sogar verschlimmern. Die Sehnsucht nach Happy Ends kommt meiner Erfahrung nach eher von denen, die nicht betroffen sind.  

Fakt ist doch: In Deutschland suizidieren sich über 10.100 Leute jedes Jahr. Das heißt, jede Stunde mindestens ein Mensch. Also, während wir hier sprechen, einer oder eine. Und wenn wir danach noch einen Kaffee trinken, noch einer oder eine. Das sind erstmal die Tatsachen. Diese Fälle gibt es und sie gibt es trotz des Tabus. Und das spricht für mich dafür, dass das Nicht-darüber-Reden nicht präventiv wirkt. Ganz offensichtlich nicht. Und deswegen halte ich diese Sorge der Nachahmung, von der wir sprachen, für nicht richtig und finde es auch interessant, auch philosophisch, sich zu fragen, wo diese gesellschaftliche Tabuisierung herrührt. Was hat sie mit religiösem Erbe zu tun, was hat sie auch mit einer Verwertungslogik, auch mit Macht zu tun? Wir alle sollen ja immer weitermachen, wir sollen ja Teil des Systems bleiben, wir sollen uns irgendwie wieder hinkriegen, uns Hilfe holen, uns einen Coach nehmen, Psychopharmaka nehmen – Hauptsache, es ist irgendwie wieder gut am Ende. Wenn man so darauf blickt, ist Suizid natürlich eine Verweigerung. Er ist – vermeintlich – nicht verwertbar und ein Ausstieg aus dem Ganzen. Und ist schon deshalb nicht gewollt. Und während ich das so sage, klingt das, als würde ich eine Brandrede für Suizid halten – das will ich gar nicht. Aber ich finde schon interessant, warum ein so stark verbreitetes Problem – es sind unheimlich viele: mehr als im Straßenverkehr, durch Gewalt und durch Drogen zusammen, jedes Jahr – so unbekannt ist. Kaum jemand weiß das. Fast niemand, mit dem ich über dieses Thema rede, kennt diese Zahlen. Warum ist das so? Warum machen wir so einen Bogen darum? Das kann nicht richtig sein. Und das scheint eben nicht präventiv zu wirken, sonst wären die Zahlen nicht so hoch.

Jacques-Louis David: Der Tod des Sokrates (1787) (Link)

III. Zur Philosophie des Suizids

PS: Dem kann ich auf jeden Fall folgen. Und du sprichst da auch gerade eine wichtige Facette an. Genau, der Suizid ist ja schon seit vielen Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden, ein wichtiges Thema in der Philosophie, über das viel geschrieben worden ist. Was man auf jeden Fall sehr grob sagen kann und was auch von Nietzsche oft thematisiert wird, ist, dass es da einen sehr großen Gegensatz zwischen der vorchristlichen, also der antiken, Sicht und dann der christlichen Sicht gibt. Also, in der Antike war es so, dass es dieses Tabu bezüglich des Suizids eigentlich noch gar nicht gab. Es war im Gegenteil so, dass man durchaus der Auffassung war, dass es unter bestimmten Umständen geboten sein könnte, sich das Leben zu nehmen, um einer Entehrung zu entgehen. Es war eben wichtiger, einen ehrenvollen Tod zu sterben, als irgendwie am Leben zu bleiben, aber unter Umständen leben zu müssen, die als vollkommen unerträglich empfunden worden wären. Man kennt ja zum Beispiel den Suizid von Sokrates: Er ist zum Tode verurteilt worden und sieht sich nun vor die Wahl gestellt, zu fliehen und ins Exil zu gehen oder aber das Todesurteil an sich selbst durch das Trinken eines Giftbechers zu vollziehen. Zum Entsetzen all seiner Freunde, die ihm sehr zureden, dass er doch die erste Option wählen soll, trinkt er eben den Giftbecher genau aus dem Grund, dass er sagt: Naja, ich bin doch von der Stadt mein ganzes Leben lang ernährt worden, meine ganze Identität hängt daran, dass ich eben Bürger dieser Stadt bin, da kann ich doch jetzt nicht weglaufen, wenn die Stadt anderer Meinung ist als ich. Ein weiteres, weniger bekanntes, Beispiel ist der Philosoph Empedokles, der sich der Legende nach in einen Vulkan gestürzt haben soll. – Also ja, das große Tabu ist eigentlich erst durch das Christentum in die Welt gebracht worden. Wie nimmst du es wahr: Würdest du auch sagen, dass unsere Kultur da bis heute noch sehr stark vom Christentum geprägt ist, oder würdest du andere Motive für ausschlaggebender halten?

LW: Ja, ich denke, dass das noch sehr tief greift, die religiöse Idee der Ursünde, die man zu ertragen hat. Und wenn man Buße tut, sich an Gebote hält und so weiter, dann winkt irgendwann das Paradies. In so einem Kontext ist der selbst gewählte Tod natürlich undenkbar. Ich denke schon, dass das noch sehr weitreichende Auswirkungen hat. Und hinzu kommt sicherlich, dass in unserer westlichen Lebensweise, diesem neoliberalen System, es für jedes Problem auch eine Lösung geben soll und eine Form des Funktionierens und Sich-Optimierens. Das macht es schwer für Menschen, die immer wieder an den Punkt geraten, darin eben nicht zu funktionieren. Und die auch mit allen möglichen Hilfsmitteln nicht funktionieren und daran dann kaputt gehen. Ich denke, die Religion, die Idee des Freitods als Sünde, hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen, wie wenig wir heute darüber sprechen. Wie schambehaftet das noch immer ist. Die Rezeption von Gewalt gegen sich selbst und Gewalt gegen andere ist generell erstaunlich unterschiedlich. Gewalt gegen Andere, Machtausübung über Andere, ist derart akzeptiert – und auch medial und in der Kunst völlig normalisiert – aber Gewalt gegen sich selbst ist ein Tabu. Das ist doch sehr erstaunlich.

PS: Schön, du bringt uns jetzt eigentlich von selbst genau an den Punkt, auch über Nietzsche zu sprechen, der, wie, wie ich denke, hinreichend bekannt ist, in dieser Hinsicht, wie in vielen anderen Hinsichten auch, sehr stark versucht, an diese vormoderne Sichtweise anzuknüpfen. Er spricht an verschiedenen Stellen in seinem Werk vom „freien Tod“. Im Zarathustra heißt es zum Beispiel: „[S]tirb zu rechten Zeit!“7. Man soll also auch noch den Tod nicht dem Zufall überlassen, man soll den Zeitpunkt, zu dem man stirbt, selbst bestimmen und man soll ihn so wählen, dass man im Zweifelsfall nicht entehrt wird, also nicht ein Dasein fristen muss, das man nicht verantworten kann bzw. das nicht mehr mit seinem Selbstverständnis vereinbar ist.8 Da grenzt sich Nietzsche natürlich sehr stark vom Christentum, aber auch vom philosophischen Mainstream eigentlich, seiner Zeit ab. Sowohl bei Schopenhauer, der ja sein wichtigster philosophischer Lehrmeister gewesen ist, als auch bei Kant und Hegel, findet man sehr klare und sehr deutliche Verurteilungen des Suizids und Nietzsche versucht das eben umzuwerten.

LW: Was für Verurteilungen?

PS: Aus sehr unterschiedlichen Gründen. Bei Schopenhauer würde man ja auf den ersten Blick denken, dass er den Suizid befürworten würde.

LW: Das hätte ich jetzt auch vermutet.

PS: Ja, es gibt auch einen sehr interessanten Philosophen, den man in dieser Hinsicht nicht unerwähnt lassen sollte, der auch von Nietzsche gelesen worden ist: Philipp Mainländer, der in seinem Hauptwerk – so viel ich weiß auch sein einziges Werk – mit dem Titel Philosophie der Erlösung den Suizid ausgehend von ähnlichen Prämissen wie Schopenhauer geradezu zur Pflicht erklärt. Man soll sich umbringen, um den furchtbaren Willen zum Leben zum Erlöschen zu bringen – und er hat sich auch kurz nach der Vollendung dieses Buches das Leben genommen. Aber Schopenhauer selbst schreibt, dass der Suizid quasi eine unvollkommene Art ist, sich aus dem Leben zu „schleichen“, da die Motive dazu, sich umzubringen, eigentlich noch dem Willen zum Leben entsprechen; also er sieht da eine gewisse Selbstwidersprüchlichkeit des „Selbstmörders“.

LW: Weil das Leiden am Leben noch einen Willen bedeutet?

PS: Genau, also die konsequente Willensverneinung ist für ihn nur die Askese, die auch noch den Schmerz und das Leid auf sich nimmt.

LW: Was würde Nietzsche dem entgegnen?

PS: Ich habe tatsächlich keine Stelle gefunden, wo er sich explizit mit dieser Suizidkritik von Schopenhauer beschäftigt.9 Seine Kritik liegt eigentlich auf einer sehr grundsätzlichen Ebene, weil Nietzsche sagen würde, dass man gar nicht anders kann, als den Willen zum Leben zu bejahen: Auch noch der Schopenhauer’sche Asket ist eigentlich noch jemand, der das Leben bejaht im Innersten, und aus dem Grund funktioniert der Maßstab der Kritik von Schopenhauer für Nietzsche gar nicht mehr.10 Kannst du mir folgen?

LW: Ja, das ist glaube ich der Grund, warum es eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen gibt. Aus einer lebensbejahenden Perspektive ist das schlicht nicht nachvollziehbar.

PS: Wobei für Nietzsche ja der freie Tod des „Herrenmenschen“ gerade ein Ausdruck von Lebensbejahung wäre, gerade keine Verneinung, weil eine heroische, selbstbestimmte Art zu leben einem bloßen Dahinvegetieren oder einem fremdbestimmten Dasein vorgezogen wird.

LW: Das klingt nach einem sehr rationalen Zugang, da scheint es weniger um das Leiden zu gehen.

PS: Ja, genau. Was jetzt aber spannend ist, ist, dass es in den Gedanken von Nietzsche zu dem Thema noch einen weiteren Aspekt gibt. Er würde nämlich eigentlich sagen, dass die gesamte christliche Kultur, also eigentlich die Kultur bis heute, durch den Grundwiderspruch gekennzeichnet ist, dass sie auf der einen Seite sehr lebensverneinend ist,11 es aber auf der anderen Seite genau verbietet, diesen freien Tod zu wählen. An manchen Stellen geht er sogar so weit zu sagen, dass sich die große Mehrzahl der Menschen eigentlich umbringen müsste, sie werden von der christlichen Moral aber abgehalten und quasi künstlich am Leben erhalten.12 Was sagst du zu dieser ja doch recht provokanten Sicht?

LW: Ich muss da an Roberto Espositos Immunitas denken. Er sagt dort: In der Theologie, auch im Recht, und auch auf anderen Ebenen, gibt es dieses Bild der Immunisierung, einer vermeintlichen Immunisierung. Man setzt etwas bewusst ein, im Fall der Religion eine immanente Sündhaftigkeit, die man dem Menschen zuschreibt – um ihn dann durch Regeln und Zwang vor der Sünde zu schützen. Durch Gewalt also, die sich so permanent reproduziert. Aus Machtsicht, aus religiöser Sicht, wird behauptet, dass es nötig sei, mit Normen und Regeln gegen den menschlichen Mangel, die Sünde, anzugehen – eigentlich werden die Menschen aber erst sündig gemacht durch ein Regelwerk, das kein Mensch je vollständig befolgen könnte. Die Gewalt oder Macht setzt den Mangel – das negative Menschenbild – bewusst ein, um ihre Machtposition zu untermauern. Das klang gerade bei mir an, als du von Nietzsche sprachst. Ich finde das sehr nachvollziehbar. Da steckt eine große Unfreiheit drin.

Esposito sagt auch, da schneidet man dem Leben eigentlich ein Stück Lebendigkeit ab. Ein Widerspruch, der schwer zu erkennen ist, wenn man sich den Luxus der Distanz nicht leisten kann. Das passiert permanent, wird geradezu institutionalisiert und gleichzeitig ist aber, wie gesagt, Gewalt gegen sich selbst so ein Tabu. Dieses Paradox interessiert mich wahnsinnig. Gerade in so einer zunehmend individualisierten Welt; den Verhältnissen, in denen wir leben; der Art und Weise, wie wir wirtschaften; wie wir miteinander umgehen; wie wir kommunizieren; welche Technologien wir nutzen und so weiter: Wir beschneiden uns permanent in unserer Lebendigkeit und das scheint okay. Aber wenn jemand sein Leben beendet, dann ist das ein Problem.

PS: Man könnte sogar mit Nietzsche, der genau das schreibt,13 durchaus die Frage aufwerfen, wenn zum Beispiel Soldaten in den Krieg ziehen oder auch sich irgendwelche Märtyrer für ihren Glauben opfern, ob das nicht auch Formen des Suizids sind de facto, die aber nicht als solche geframt werden und als vollkommen okay gelten. Wenn sich die Menschen für irgendwelche von der Gesellschaft gesetzten Ideen aufopfern, dann ist das völlig in Ordnung oder wird sogar gefeiert, aber sobald sie sich genau dem durch Suizid entziehen wollen, ist es plötzlich furchtbar schlimm und die größte Sünde, die man sich überhaupt denken kann.

LW: Und sie soll keine Schule machen! Ich habe ja auch als Journalistin gearbeitet, einige Jahre. Da ist auch der Pressekodex interessant, über Suizid nicht zu berichten – außer, es ist eine sehr prominente Person, dann gilt das komischerweise nicht. Wir berichten über den Massenunfall auf der Autobahn und den Brand, bei dem Menschen umkommen. Über alle möglichen Formen von Gewalt, Kriminalität, über Kriegsopfer. Beim Thema Suizid ist die Begründung darüber nicht zu berichten der Schutz der Angehörigen – der uns in all den anderen Fällen nicht interessiert. Da habe ich immer wieder Fragezeichen, warum das so sein soll.

Louis Mayer: Der Philosoph Empedokles in der Nähe der Gipfel des Ätna (1778) (Link)

PS: Ich möchte, wenn wir langsam zum Ende dieses Gesprächs kommen, auf zwei Probleme hinweisen, die auch Nietzsche betreffen. Ich habe ja davon gesprochen, dass er an verschiedenen Stellen den Begriff vom „freien Tod“ so hochhält. Es gibt so eine Stelle aus dem Spätwerk, wo er in diesem Zuge auch den, vielleicht berüchtigten, Satz fallen lässt: „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft.“14 Dieser Satz entbehrt vor dem Hintergrund, dass Nietzsche nur kurze Zeit später ja selbst zu einem solchen „Parasiten“ wird, natürlich nicht einer gewissen Ironie. Aber was er an dieser Stelle dann schon schreibt, ist genau, dass, wenn man in Gefahr läuft, zu einem „Parasiten“ zu werden, eben durchaus die Pflicht hat, sich umzubringen und sogar die Ärzte sollen einen dann auch quasi dazu bringen, um diesen Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Ist das nicht auch eine große Gefahr an diesem ganzen Diskurs über Sterbehilfe, dass diese Debatte sehr leicht in eine ganz schräge und fragwürdige, durchaus auch neoliberale, Richtung kippen könnte?

LW: Absolut ja, deswegen habe ich das ja am Anfang schon kurz erwähnt. Das Problem, dass eine Art Gewöhnung an diese Möglichkeit besteht, die sich dann Schritt für Schritt, im schlimmsten Fall, zu einer Empfehlung oder Nahelegung, dass es doch jetzt mal so weit sei, weil man keinen Beitrag mehr zur Gesellschaft leistet, entwickeln kann. Weil man nicht funktional ist, aus diversesten Gründen. Das ist eine enorme Gefahr. Von der Frage, in wessen Händen oder Ideologien solche Entwicklungen zur Waffe werden können, ganz zu schweigen. Aber selbst gesetzt den Fall, die politischen Zustände blieben ungefähr, wie sie sind, selbst dann ist der Einfluss eines möglichen Marktes absolut kritisch zu sehen in dem Bereich.

PS: Das bringt mich auf eine Folgefrage. Nietzsche hat diesen ganz starken Begriff vom freien, selbstbestimmten Tod. Aber wo und wie kann man da eigentlich genau die Grenze ziehen? Ist es wirklich möglich, vollkommen selbstbestimmt zu sterben? Oder gibt es nicht doch immer irgendwelche gesellschaftlichen Faktoren, die einen doch sehr subtil zum Suizid treiben könnten? Und wird er dann nicht doch wieder sehr unfrei?

LW: Ja, wir sind ja nicht im luftleeren Raum, natürlich. Wir sind Produkt der Verhältnisse, in denen wir leben. Und können allein an diesen Verhältnissen so stark leiden, dass wir in ihnen nicht länger leben wollen oder können. Das kann ein Beweggrund von vielen anderen sein. Das ist mir auch in der Geschichte, die ich erzähle, ganz wichtig. Dass es nicht den einen, identifizierbaren, nachvollziehbaren Grund gibt. Und dass auch die Figur keine Diagnose hat. Das ist übrigens für bestimmte Förderungen und mögliche Finanziers auch ein Problem – was interessant ist. Es gibt eine große Sehnsucht nach Diagnosen, nach einer klaren Kategorisierbarkeit – Was hat sie denn? Was ist das? – nach dem einen nachvollziehbaren Grund. Wenn man den nicht liefert, und das tue ich sehr bewusst, dann sorgt das für Irritationen. Auch das ist interessant. Aber aus Präventivsicht übrigens genau richtig: eine komplexe Figur, die keine nachvollziehbare Kausalkette liefert.  

Ich bin sehr für geistige Mündigkeit und für Selbstbestimmtheit, aber die findet ja immer in den Grenzen der Verhältnisse statt, in denen wir uns befinden. Man könnte bei jeder getroffenen Entscheidung fragen: War die wirklich selbstbestimmt? Wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem … Wir kommen ja immer wieder an den Punkt: Suizid findet statt, es passiert ja. Und, wie gesagt, vielleicht würde es – These – sogar weniger passieren, wenn es das Tabu nicht gäbe. Weil die Verzweiflung darüber, dass man sich damit so allein und so unverstanden fühlt, gemildert werden könnte.  

PS: Wenn ich noch eine Frage zum Schluss stellen darf: Also was ich mich, ganz abseits von Nietzsche, frage als Philosoph, oder was meine eigene Kritik am Suizid wäre: Du hast ja auch von einer „einsamen Entscheidung“ schon gesprochen; ob das Problem des Suizids nicht eigentlich ist, dass man sich selbst eben vollkommen aus den gesellschaftlichen Beziehungen, in die man verstrickt ist, herausbeamt in gewisser Weise, zunächst mal scheinbar eine Entscheidung trifft, die einen nur selbst angeht, die aber auch zur gleichen Zeit durchaus Auswirkungen auf andere hat. Das ist ja vielleicht doch eigentlich einer der Gründe, warum das Thema so emotional besetzt ist, weil viele Menschen, wahrscheinlich so gut wie alle, in ihrem Bekanntenkreis Menschen haben, die sich umgebracht haben. Was ich sagen will: Dass sich Menschen, die sich umbringen, sich da eigentlich in einer Selbstwidersprüchlichkeit zu bewegen scheinen, also einerseits das ignorieren, dass die anderen trauern werden, sich auch Vorwürfe machen werden und vieles mehr, aber zur gleichen Zeit vielleicht doch diese Nachwirkung einkalkulieren und sich vielleicht in irgendeiner Form rächen wollen an der Nachwelt und die anderen in Trauer und Zweifel stürzen wollen. Also ich will nicht behaupten, dass das bei allen der Fall ist oder auch nur bei der Mehrheit – aber ist das nicht ein Problem?

LW: Das ist bestimmt eine mögliche Sicht, die wahrscheinlich auch recht verbreitet ist. Aber ich möchte der ganz entschieden noch eine andere Perspektive gegenüberstellen: nämlich die, dass Suizid, gerade wenn es viele soziale Verstrickungen und Beziehungen gibt, keine Entscheidung gegen diese Leute ist, sondern das Ende eines teilweise langjährigen Versuchs für dieses Umfeld weiterzuleben und daran aber zu scheitern. Das ist mir sehr wichtig und das ist es auch, was Angehörigenverbände immer wieder betonen: Suizid ist keine Entscheidung gegen jemanden, sondern eigentlich das Scheitern am Versuch für Andere weiterzumachen. Das finde ich eine ganz wichtige Perspektive darauf, die das auf keinen Fall verherrlichen, sondern nur zeigen soll – und darüber kennen wir natürlich keine Zahlen oder so – dass es in der Mehrzahl wahrscheinlich keine leichtfertigen Ad-hoc-Entscheidungen sind, sondern solche, die einen langen, leidvollen Vorlauf hatten. Und dass es sich diese Menschen wahrlich nicht leicht gemacht haben.

PS: Ja, das kann ich auch auf jeden Fall nachvollziehen, dass man das natürlich auch so betrachten kann und in vielen Fällen auch muss. Ja, dann vielen Dank nochmal. Gibt es irgendwas, was du zu diesem Thema noch unbedingt loswerden willst?

LW: Da gibt es bestimmt noch ganz viel, aber ich belasse es mal dabei: Wir sollten alle mehr darüber sprechen.  

PS: Dem kann ich mich auf jeden Fall anschließen und ich glaube, die verschiedenen Stellen bei Nietzsche, auf die wir uns bezogen haben, könnten da auf jeden Fall auch ein gutes Material bieten und sollten definitiv mehr gelesen werden. Was ich vielleicht zum Abschluss noch empfehlen kann, ist der Roman Veronika beschließt zu sterben von Paulo Coelho, der sogar ein bisschen nietzscheanisch ist und mich auch persönlich sehr bewegt hat. Kennst du den?

LW: Es gibt da auch einen Film, ja.

PS: Den kenne ich wiederum nicht. Also ich kann allen, die dieses Gespräch gelesen und vielleicht Suizidabsichten haben, diesen Roman sehr empfehlen – und natürlich auch, Hilfe zu suchen, das ist ja auch klar.

Lou Wildemann ist Autorin und Regisseurin aus Leipzig. Zuvor hat sie einige Jahre als freie Journalistin fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen gearbeitet. Sie hat Politikwissenschaften (BA), Kulturwissenschaften (MA) und Philosophie (MA) studiert.  

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Artikelbild: Johann Heinrich Tischbein d. Ä.: Selbstmord der Dido (1776) (Link)

Fußnoten

1: Anm. der Red.: Um die problematischen moralischen Konnotationen des traditionellen Begriffs „Selbstmord“, auf die uns Lou Wildemann im Nachgang des Gesprächs aufmerksam machte – impliziert der Ausdruck „Mord“ doch eine Tötung aus niederen Beweggründen –, zu vermeiden, verwenden wir im Folgenden andere Formulierungen.

2: Vgl. den Eintrag zu ihm auf der englischsprachigen Wikipedia.

3: So Dieter Birnbacher in einem Beitrag für Brisant (Link).

4: Vgl. swissinfo.ch.

5: Art. 115 des Schweizer Strafgesetzbuchs. Es handelt sich also um die Abwesenheit eines Verbots und keine explizite Erlaubnis (vgl. Giovanni Maio im Gespräch mit dem SWR).

6: Anm. d. Red.: Die in Fn. 4 zitierte Statistik registriert einen rasanten Anstieg der Fälle von assistiertem Suizid in den letzten 20 Jahren, fast eine Verzehnfachung. Gleichzeitig nehmen die Fälle von Suizid mit anderen Methoden seit den späten 90ern stark ab, was eine gewisse Korrelation nahelegt. Insgesamt bleibt die Suizidrate relativ konstant (vgl. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium).

7: Also sprach Zarathustra, Vom freien Tode.

8: Vgl. auch Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 185.

9: In einem Nachlassfragment von 1875 (Link) scheint Nietzsche die diesbezüglichen Gedanken Eugen Dührings zu paraphrasieren.

10: So etwa die Quintessenz der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral.

11: „Staat nenne ich’s, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ‚das Leben‘ heisst“ (Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen).

12: In einem an Paul Lanzky gerichteten Briefentwurf von 1884 schreibt er etwa: „Was habe ich mit Denen zu thun, die kein Ziel haben! Mein Leibrezept, beiläufig bemerkt, ist, in Hinsicht auf Solche, – Selbstmord. Aber er mißräth gewöhnlich, aus Mangel an Zucht.“ In einem Nachlassfragment von 1880 definiert er das Christentum genau „als große Pöbel-Bewegung des römischen Reichs […] aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Muth dazu nicht hatten; sie suchten mit Inbrunst ein Mittel, ihr Leben auszuhalten und aushaltenswerth zu finden“. Vgl. auch ein anderes Fragment von 1888.

13: Vgl. zu dieser Selbstwidersprüchlichkeit des Christentums Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 131. In Aphorismus 338 desselben Buches heißt es: „[D]er Krieg ist […] ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen“.

14: Götzen-Dämmerung, Streifzüge 36.