Fremde erscheinen vielen unheimlich. Prompt befürchten sie, dass diese Fremden ihnen schaden. Viele passabel Verdienende halten Bürgergeldempfänger für faul und gönnen diesen daher die staatliche Unterstützung nicht. Vielen Gebildeten erscheinen Ungebildete grob und einfältig, mit denen sie daher möglichst nichts zu tun haben wollen, denen sie nicht trauen. Religiöse Menschen fürchten sich oft vor Atheisten, die ihrerseits Berührungsängste vor der Religion haben. Was man nicht kennt, erscheint häufig als gefährlich und das wertet man vorschnell ab. Solcherart Vorurteile führen zur Ablehnung, die sich häufig so verfestigt, dass Gegenargumente gar nicht mehr gehört werden. Das ist Ressentiment, das es schon lange gibt, das aber heute in vielen politischen und sozialen Debatten Konsens fast unmöglich macht. Das kann in Hass und Verachtung ausarten und daran anschließend in Gewalt ob zwischen Arm und Reich, Rechts und Links, Machos und Feministinnen, Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern, Vegetariern und Fleischessern. Wenn sich eine Seite durchsetzt, zwingt sie den anderen ihre Werte auf, wird das Ressentiment sogar schöpferisch. Allemal verhindert es, dass man sich darum bemüht, den anderen zu verstehen. Für Nietzsche treibt das Ressentiment seit langem den Streit über das moralisch Gebotene.
„Ressentiment“ ist einer der Schlüsselbegriffe von Nietzsches Spätwerk. Der Philosoph meint damit einen verinnerlichten und verfestigten Affekt der Rache, der zur Herausbildung eines insgesamt verneinenden Weltzugangs führt. Insbesondere in Zur Genealogie der Moral versucht Nietzsche zu zeigen, dass die gesamte europäische Kultur seit dem Aufstieg des Christentums auf diesem Affekt fuße. Judentum und Christentum propagierten in ihrem Hass auf die Aristokraten eine Ethik der Schwachen – in diesem Akt werde das Ressentiment kreativ. Nietzsche will nun mit einer neuen kreativen Ethik zu einer neuerlichen Umwertung der Werte beitragen, um zu einer lebensbejahenden aristokratischen Ethik der „Starken“ zurückzufinden. Hans-Martin Schönherr-Mann führt in diesem Artikel in Nietzsches Überlegungen zum Ressentiment ein und arbeitet heraus, was den gegenseitigen Ressentiment-Vorwurf bis heute so populär macht.
Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?
In seiner jüngst erschienenen Studie Theorie der Befreiung fasst der Frankfurter Philosoph Christoph Menke Befreiung als „Faszination“, als lustvolle Desubjektivierung und Hingabe. Er bezieht sich dabei an entscheidender Stelle auf Nietzsche – doch für den bedeutet „Faszination“ gerade Verhexung, die Verstrickung in Unfreiheit und Ressentiment. Kann uns die mystische Kraft der Faszination wirklich befreien – oder ist nicht eher Nietzsche Recht zu geben und Befreiung bedeutet vor allem Selbstermächtigung und Autonomie, die faszinierte Aufopferung hingegen Unterwerfung, nicht zuletzt unter einen faschistischen Führer?