Warum sich viele nicht mehr für die Demokratie engagieren!

Individualismus als politische und soziale Gefahr bei Tocqueville und Nietzsche – aber auch als Chance

Warum sich viele nicht mehr für die Demokratie engagieren!

Individualismus als politische und soziale Gefahr bei Tocqueville und Nietzsche – aber auch als Chance

26.9.25
Hans-Martin Schönherr-Mann
Individualismus, gar Egoismus sind in allen politischen, religiösen und sozialen Lagern verpönt. Sie werden dem Liberalismus und dem Kapitalismus zugeschrieben. Solche Menschen setzen sich nicht für andere ein, engagieren sich nicht politisch oder für die Umwelt. Sie huldigen auch keinem gemeinsamen Weltverständnis und verhalten sich dadurch verantwortungslos. Die Nietzscheanerin lässt sich von solchen Verdikten nicht beeindrucken. Sie tanzt – nicht nur!

Individualismus, gar Egoismus sind in allen politischen, religiösen und sozialen Lagern verpönt. Sie werden dem Liberalismus und dem Kapitalismus zugeschrieben. Solche Menschen setzen sich nicht für andere ein, engagieren sich nicht politisch oder für die Umwelt. Sie huldigen auch keinem gemeinsamen Weltverständnis und verhalten sich dadurch verantwortungslos. Die Nietzscheanerin lässt sich von solchen Verdikten nicht beeindrucken. Sie tanzt – nicht nur!

Artikel ausdrucken

„Die ganze Welt dreht sich um mich / Denn ich bin nur ein Egoist / Der Mensch, der mir am nächsten ist / Bin ich, ich bin ein Egoist“, singt Falco 1998.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

Was sagt Nietzsche 1888 dazu? „Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, –  man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man ‚Freiheit‘.“1 Unverantwortliche Leichtlebigkeit und tun zu können, wozu man gerade Lust hat, nicht heiraten und schon gar keine Kinder bekommen, keine Verpflichtungen eingehen, das ist La dolce vita.

Egoismus ist nicht dasselbe wie Individualismus. Historisch geht der Egoismus dem Individualismus voraus. Im Alten Testament findet sich das berühmte Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18), das Selbstliebe nicht verwirft, ja die Nächstenliebe auf die Selbstliebe stützt.

Wenn das Christentum dieses Gebot verschärft, nämlich „Liebet eure Feinde“ (Matthäus 5, 44), bleibt von der Selbstliebe nicht mehr viel übrig. Nichts mehr ist von einem selbstbewussten Egoismus zu sehen, wenn die Kirchenväter um 400 von den Gläubigen absoluten Gehorsam und die Beichte auch aller sündhaften Gedanken, nicht nur der Taten fordern: Das Ende des Egoismus!

Vom Individualisten Leonardo zum kapitalistischen Egoismus

Der Individualismus entsteht erst in der Renaissance: Ziel des Menschen ist seine allseitige Bildung und die Entfaltung seiner Fähigkeiten. Das verkörpert Leonardo da Vinci (1452-1519), uneheliches Kind aus bürgerlichen, nicht adligen Verhältnissen. Das Selbst erhält jetzt eine eigene Note, wodurch sich der Mensch aus den Glaubenszwängen zu befreien beginnt. Leonardo war Atheist und homosexuell. „Was die Menschen Liebe nennen, ist in Wirklichkeit die immer gleiche Schmierenkomödie der Natur“2, davon geht Leonardo nach Volker Reinhard aus. Mit diesem Individualismus wird der antike Egoismus in gemäßigter Form rehabilitiert.

Seinen Höhepunkt erreicht der egoistische Individualismus, wenn John Locke (1632-1704), dem Menschen als Individuum unveräußerliche natürliche Rechte attestiert. Das wichtigste davon ist das Recht auf Eigentum. Der Staat hat primär den Zweck, dieses zu schützen. Im Calvinismus gilt Reichtum sogar als Zeichen der göttlichen Gnade. Klartext schreibt Bernard de Mandeville (1670-1733), wenn er den ökonomischen Egoismus zwar als privates Laster bezeichnet, dieses aber zu öffentlichem Nutzen führe, also das Allgemeinwohl fördere.

Religiös konservative Kritik am Individualisten: Tocqueville

Damit wird der Grundstein zu einer heftigen Kritik am Individualismus gelegt, wenn der Liberalismus den Kapitalismus zur politischen Ökonomie des Bürgertums erhebt. Die schärfsten Kritiker des liberalen Individualismus entstammen zunächst dem religiös monarchischen Lager. Einer der Hauptvertreter ist der französische Politiker und politische Philosoph Alexis de Tocqueville (1805-1859).

So schreibt er 1835 in Über die Demokratie in Amerika: „Der Arme“ – verglichen mit dem Adel zählen dazu auch die Bürger – „hat die meisten Vorurteile seiner Vorfahren beibehalten, aber ohne ihren Glauben, ihre Unwissenheit ohne ihre Tugend; er hat die Lehre vom Privatinteresse zur Richtlinie seines Handelns gemacht, ohne ihre wissenschaftliche Grundlage zu kennen, und sein Egoismus ist ebenso bar aller Bildung, wie es einst seine Ergebenheit war.“ (S. 30) Ein derartiger Individualismus, wenn die Menschen ihren Glauben wie ihre Moral aufgegeben haben, verfolgt allein materielle Vorteile ohne Rücksicht auf andere und damit ohne Rücksicht auf den Staat.

Nietzsche: „Wer will“ „noch gehorchen?“

Hat der nur zwei Generationen jüngere Nietzsche knapp 50 Jahre später abgeschrieben? In seinem Corpus taucht Tocqueville zweimal auf, und zwar lobend.3 Denn Also sprach Zarathustra: „Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich“4. Auch für Nietzsche kümmern sich die meisten Bürger nur noch um ihre privaten Interessen und sehen es gar nicht gerne, wenn sich ihrerseits Staat und Gesellschaft dabei einmischen.

So will das Bürgertum gar nicht regieren, überlässt das lieber dem Adel. Ende des 19. Jahrhunderts zweifeln Liberale wie der fleißige Nietzsche-Leser Max Weber (1864-1920) daran, dass das Bürgertum dazu überhaupt in der Lage ist, hat es dies nie gelernt, herrschte bis zur Französischen Revolution fast überall der Adel. Weil sich das Bürgertum nur für die Wirtschaft und den individuellen Vorteil interessiert, hat es keinen Blick für das Ganze. Wie kann es sich dann um das Gemeinwesen und das Allgemeinwohl kümmern? Der König dagegen – so Tocqueville – hatte sich genau darum noch gekümmert.

Eine solche Klage findet sich auch heute und fast in allen politischen Lagern: Liberalismus ist extrem unpopulär, Individualismus um so mehr und er wird des Egoismus bezichtigt. Beide werden gemeinsam dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Menschen nicht mehr politisch engagieren und stattdessen ins Privatleben zurückziehen, dass sie Staat oder Gesellschaft nicht mehr dienen, sondern nur ihre Vorteile daraus ziehen wollen – gar den Kriegsdienst verweigern.

Nietzsche teilt Tocquevilles Kritik am Individualismus, nicht aber dessen Orientierung am Gemeinwohl, das Nietzsche in Frage stellt, während es bei Tocqueville im Vordergrund steht. Für Nietzsche ist das Gemeinwohl eine bürgerliche Illusion. Wie heißt es doch im Nachlass 1887/88: „‚Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen’ . . . aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines!“5

Wertezerfall und der „letzte Mensch“

Tocqueville bemerkt dagegen nicht nur, dass es natürlich ein Gemeinwohl gibt, sondern dass just die Demokratie das Engagement der Menschen für das Allgemeinwohl besonders nötig hat, wie er es 1831 auf seiner Reise durch die USA beobachtet hatte. Denn gerade zur Demokratie aber gehören diverse Gemeinsamkeiten der Bürger – Frauen hatten noch gar keine Bürgerrechte –, die er in Frankreich vermisst. Er schreibt:

Es scheint, als habe man heute das natürliche Band zerrissen, das die Meinungen mit den Neigungen, das Tun mit dem Denken verbindet; der Einklang, der sich zu allen Zeiten zwischen den Gefühlen und den Vorstellungen des Menschen wahrnehmen ließ, scheint zerstört zu sein, und man ist fast geneigt zu sagen, dass alle Gesetze moralischer Verantwortlichkeit aufgehoben sind.6

Bis heute klagt man in religiösen, konservativen und rechten Kreisen über den Zerfall gemeinsamer sittlicher Werte und fordert eine „geistig-moralische Wende“. Tocqueville liefert als einer der ersten dazu die Argumente. Selber ungläubig, kritisiert er trotzdem die verbreitete Ungläubigkeit, da für ihn der gemeinsame religiöse Glaube für jeden Staat stabilisierend wirkt. Wenn die Leute aber nicht mehr religiös sind, dann verbindet sie ein solches Band nicht mehr.

Eine ähnliche Klage, die freilich in eine andere Richtung abdriftet, findet sich auch bei Nietzsche, wenn er die Masse seiner Zeitgenossen als „letzte Menschen“ bezeichnet, weil sie nur noch materialistische Interessen verfolgen. Nietzsche schreibt: „Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. ‚Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‘ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht“7, und einem Massenindividualismus huldigt.

Doch während Tocqueville die Wiederkehr religiöser Werte beschwört, will Nietzsche diese hinter sich lassen, fordert aber neue ethische Werte, die es zu erfinden gelte. Das ist für Nietzsche denn auch nicht erst die Aufgabe des Übermenschen, sondern derjenigen, die seiner Lehre folgen und diese verkünden sollen. Hier trennen sich die Wege Tocquevilles und Nietzsches. Denn Tocqueville hält die traditionellen Werte eigentlich für richtig, während neue Werte, die die Menschen selber erfinden, Ausdruck von Individualismus sind.

Doch gibt es noch weitere Gemeinsamkeiten zwischen Tocqueville und Nietzsche. Denn auch dieser lässt längst nicht alle Traditionen einfach hinter sich. Tocqueville macht den Individualismus dafür verantwortlich, dass sich die Familienbande auflösen, weil es auch innerhalb von Familien nur noch ums Geld geht und die Bereitschaft sinkt, für die Familie Opfer zu bringen.

Dagegen legt Nietzsche seine Kritik von vornherein breiter an. Wo Tocqueville primär den Individualismus, nicht den Liberalismus per se, da er gewisse liberale Grundannahmen teilt, verantwortlich macht, kritisiert Nietzsche den Liberalismus selbst, was den Individualismus der „letzten Menschen“ miteinbezieht, nicht aber jenen der Verkünder des Übermenschen, die von dem, was er im folgenden Zitat schreibt, nicht berührt werden:

Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Traditionen, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum.8

Das ist freilich nicht mehr der Fall. So beklagt auch Nietzsche den Niedergang der Institution der Familie durch den bürgerlichen Individualismus ähnlich wie Tocqueville. Andererseits ist er auch Kritiker der Familie. Wie erzählt doch Zarathustra: „So sprach mir ein Weib: ‚wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe – mich!‘“9

Die freie Meinungsäußerung als Schwächung des Staates

Der Individualismus führt für Tocqueville außerdem dazu, dass sich die Menschen einbilden, über alles und jedes selber Urteile fällen zu können. Das fördert aber gegenseitiges Misstrauen. In der Öffentlichkeit werden keine Autoritäten mehr anerkannt. Damit antizipiert bereits Tocqueville für Sarah Strömel die Lage der Demokratien heute. Sie schreibt:

Dieses profunde Misstrauen in die Erkenntnisse anderer, seien sie noch so etablierte oder ausgewiesene Experten und auch der generelle Vertrauensmangel gegenüber anderen, gefährden den Zusammenhalt in der Demokratie. Die maßlose Selbstüberschätzung, die damit einhergeht, macht die Individuen zusätzlich blind für die eigene Ignoranz.10  

Bereits 1872 kritisiert Nietzsche die Bildungsanstalten auf ähnliche Weise, sie würden die Menschen dazu erziehen, eine eigene Meinung zu haben und damit zur Selbstüberschätzung beitragen, wie es Strömel moniert. Er schreibt:

Hier wird jeder ohne Weiteres als ein litteraturfähiges Wesen betrachtet, das über die ernstesten Dinge und Personen eigne Meinungen haben dürfte, während eine rechte Erziehung gerade nur darauf hin mit allem Eifer streben wird, den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urteils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Scepter des Genius zu gewöhnen.11

Erziehung sollte dazu beitragen, dass man Autoritäten, Nietzsches geniale Menschen, und deren Meinungsführerschaft anerkennt und deren Auffassung übernimmt, ohne diese zu hinterfragen. So radikalisiert Nietzsche die Einschätzung von Tocqueville noch, wenn er sich 1886 über „die Einführung des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpflichtung für Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen“12, beklagt.

Hinsichtlich der Demokratie zeigt sich Tocqueville gespalten, neigt er doch zum Monarchismus. Anders als Nietzsche erkennt er aber die Demokratie an, die sich im zeitgenössischen Staat ausgebreitet hat. Für Tocqueville ist eine gemeinsame Weltauffassung für die Demokratie jedenfalls unabdingbar. In der absolutistischen Monarchie vor der Französischen Revolution leistete das der Katholizismus. Ganz anders sieht das Nietzsche auch nicht. Er schreibt 1888:

Es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein – oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie notwendig gut.13

Dadurch verliert die Religion ihre leitende Kraft, kann sie den Glauben und oberste ethische Werte nicht mehr allgemein durchsetzen. Søren Kierkegaard kritisiert die Kirchen 1850, dass sie einen lieben Gott verkünden, der doch nur ein strafender Gott sein kann. Nietzsche sieht das ähnlich, während Tocqueville zwar einen Glaubensverlust beklagt, noch nicht aber im Sinn von Kierkegaard und Nietzsche die Verwandlung des strafenden Gottes in einen barmherzigen.

Von der Monarchie zur Demokratie

Tocqueville stellt fest, dass sich die allgemeine Lage im Ancien Régime ständig verbesserte. Aber um so mehr wuchs die Unzufriedenheit. „Reform frustriert und macht rebellisch“, schreibt Karlfriedrich Herb und er fügt hinzu, dass Tocqueville bemerkt, „wie der Abbau gesellschaftlicher Ungleichheit das Unbehagen gegenüber der verbleibenden Ungleichheit steigert.“14 So ist nach Herb das „Ancien Régime“ für Tocqueville „eine Revolution vor der Revolution.“15 Eigentlich hat die Monarchie das Regieren besser verstanden, vor allem war sie freundlicher gegenüber den Untertanen als die Demokratie.

Denn in der Monarchie war die Macht des Königs erheblich beschränkter als in der Demokratie und zwar durch Tradition, den mitregierenden Adel und durch die Institutionen. So konstatiert Tocqueville: „Kein Monarch ist so unumschränkt, dass er alle Kräfte der Gesellschaft in seiner Hand vereinigen und allen Widerstand so überwinden könnte, wie es eine Mehrheit mit dem Recht der Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung kann.“16 In demokratischen Staaten gibt es zwar diverse Formen der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Doch hat sich die Gewaltenteilung höchstens hinsichtlich der Judikative und auch nur teilweise durchgesetzt. In den USA, in Ungarn und Polen versucht man gar, die Autonomie der Justiz auszuhebeln.

In seiner später Schrift L’Ancien Régime et la Révolution aus dem Jahr 1856 schätzt Tocqueville die demokratischen Institutionen, während er den Bürgern misstraut. So zweifelt Tocqueville nach Herb auch daran, dass sich die Demokratie durchsetzen wird. Herb schreibt: „Ein liberales Ende der Geschichte hält Tocqueville für illusorisch.“17 Daher kann der Traum von Francis Fukuyama 1989 nicht in Erfüllung gehen, dass nach dem Ende der Sowjetunion die Welt demokratisch wird; denn so Fukuyama: „Der liberale Staat ist notwendig universal“18. Zur Zeit sieht es in der Tat nicht mehr danach aus. Die demokratischen Systeme stehen heute eher unter Druck. Für Nietzsche wäre das wahrscheinlich kein Problem. Tocqueville dagegen prophezeit eine solche Entwicklung, die er bedauert hätte.

Von der Demokratie zur Diktatur

Eine Gefahr sowohl für die Monarchie als auch für die Demokratie sieht Tocqueville in der Zentralisierung der Staaten. Er schreibt: „Ich vermag mir für meinen Teil nicht vorzustellen, dass eine Nation ohne starke Regierungszentralisierung leben oder gedeihen kann. Aber ich glaube, dass eine zentralisierte Verwaltung zu nichts anderem taugt, als die ihr unterworfenen Völker zu schwächen, denn sie vermindert in ihnen ohne Unterlass den Bürgergeist“19 und verschärft dadurch den Rückzug ins Private.

Ohne Zentralisierung und Bürokratisierung ist kein Staat zu machen. Doch beide engen die Spielräume der Monarchie wie der Demokratie ein. Das enttäuscht die Bürger, die sich nicht mehr politisch engagieren. So erleben sie sich als vereinzelte Individuen. Man könnte dabei an die heutige Volksrepublik China denken.

Dagegen sind für Tocqueville in der Monarchie alle ungleich, aber in ein Netz eingebunden, das ihnen Halt gibt und Sinn verleiht. Für Nietzsche gilt eine ähnliche, aber noch viel radikalere Ablehnung der Gleichheit. Er schreibt 1888:

Die Lehre von der Gleichheit! . . . Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist . . . „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches – das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen.“20

Auch für Nietzsche individualisiert die Gleichheit die Menschen mit der Folge, dass sie keine Autoritäten mehr anerkennen. Nur dass Nietzsche nicht den Schaden bedauert, den die Demokratie dabei nimmt. Vielmehr eröffnet sich dadurch die Chance, den Weg zu einer Monarchie zurückzufinden, die er sich freilich von einem genialen König geführt wünscht, den er gegen Ende seines wachen Lebens 1888 in Wilhelm II. nicht erkennen kann.

Nietzsches Tänzer als individualistische Elite

Aber es gibt noch einen deutlichen Unterschied zu Tocqueville. Nietzsche ist kein schlichter Gegner von Individualismus und Egoismus wie Tocqueville. Nietzsche sieht das differenzierter. Ja, er lobt sogar den Egoismus, den er individualistisch ausweitet, was man heute vor allem in der Medienwelt findet. Also sprach Zarathustra:

Und damals geschah es auch, – und wahrlich, es geschah zum ersten Male! – dass sein Wort die Selbstsucht selig pries, die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt: – aus mächtiger Seele, zu welcher der hohe Leib gehört, der schöne, sieghafte, erquickliche, um den herum jedwedes Ding Spiegel wird: der geschmeidige überredende Leib, der Tänzer, dessen Gleichnis und Auszug die selbst-lustige Seele ist. Solcher Leiber und Seelen Selbst-Lust heißt sich selber: „Tugend.“21

Ergo: Let’s Dance (RTL)? Aber Frauen meint Nietzsche damit nicht. Es ist noch nicht die Zeit von Marilyn Monroe oder Claudia Schiffer – zwei von vielen Superschönheiten unter den Film- und Modelstars. Aber ob bei Nietzsche ‚der schöne Leib des Tänzers‘ oder die extensive Sexyness in der RTL-Tanzshow, beides setzt voraus, dass man den Körper schminkt und stylt, wiewohl sich für Nietzsche dergleichen eher der Lebendigkeit verdankt.

Trotzdem wäre das für den konservativen Tocqueville wahrscheinlich außerhalb dessen, was er anerkennt – wie die Konservativen in den 1980er Jahren eine geistig-moralische Wende forderten. Aber soweit konnte Tocqueville noch nicht voraussehen. Nietzsche dagegen ist dafür offener.

Schönheit präsentiert das Individuum als ein besonderes, das sich von anderen nicht bloß unterscheidet, sondern auch noch herausragt. Hier begegnen sich Individualismus und Egoismus bzw. Selbstsucht. Sich um die eigene Schönheit zu bemühen, realisiert den Egoismus im Individualismus. So schreibt Jean Baudrillard:

Die Kirchenväter haben das gut verstanden, da sie es als etwas gegeißelt haben, das des Teufels ist: „Sich mit seinem Körper beschäftigen, ihn pflegen, ihn schminken, das bedeutet, sich zum Rivalen Gottes aufzuwerfen und die Schöpfung anzufechten.“22

Damit hätte Nietzsche kein Problem. Doch den medialen Klamauk einer Freitagabendtanzshow würde er dem Ambiente der „letzten Menschen“ zuschreiben. Aber es geht Nietzsche nicht nur um die schöne Seele, sondern auch um die schönen Körper, die sich heute weniger der Natur als Techniken verdanken. Mit ihrem Individualismus und Egoismus gehören die Verkünder seiner Lehre, zu denen heute natürlich auch Verkünderinnen zählen, jenseits des medialen Marktes denn auch eher einer kleinen Elite an.

Nachwort: der überall unbeliebte Individualismus

Tocqueville würde Nietzsches Gefolge dagegen dem unpolitischen Individualismus zuschreiben, der eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Dabei hätte er viele Fürsprecher. Besonders kriegerische Staaten betonen gemeinschaftsorientierte Werte, wahrlich nicht nur Russland mit der kinderreichen Familie. Das nationalsozialistisch beherrschte Deutschland vergab das Mutterkreuz in Bronze für vier oder fünf Kinder für deren arische und sittlich einwandfrei lebende Mutter. Gemäß ihrem Grundsatzprogramm will die Alternative für Deutschland die Geburtenrate durch finanzielle Anreize erhöhen. So gerät Tocqueville in eine unerfreuliche Nachbarschaft, von der sich Nietzsche durch seine Anhängerschaft befreit und damit auch von einer vergangenen Lesart seiner Werke als Nazi-Philosoph.

Quellen

Baudrillard, Jean: Von der Verführung (1979). München 1992.

Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte – Wo stehen wir? München 1992.

Herb, Karlfriedrich: Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution (1856); in: Manfred Brocker (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens. Das 19. Jahrhundert. Berlin 2021.

Reinhardt, Volker: Leonardo da Vinci – Das Auge der Welt – Eine Biographie. München 2018.

Strömel, Sarah Rebecca: Tocqueville und der Individualismus in der Demokratie. Wiesbaden 2023.

Tocqueville. Alexis de: Der alte Staat und die Revolution (1856). München 1989.

Ders.: Über die Demokratie in Amerika (1835/40). Stuttgart 2021.

Fußnoten

1: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, 39.

2: Leonardo da Vinci, S. 272.

3: Vgl. diese Stelle im Nachlass und jenen Brief an Overbeck.

4: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5.

5: Nachgelassene Fragmente 1887/88, Nr. 11[99].

6: Über die Demokratie in Amerika, S. 31.

7: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 5.

8: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, 39.

9: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 24.

10: Tocqueville und der Individualismus in der Demokratie, S. 97.

11: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, Vortrag 2.

12: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 208.

13: Der Antichrist, Abs. 16.

14: Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 455.

15: Ebd., S. 450.

16: Über die Demokratie in Amerika, S. 180.

17: Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 446.

18: Das Ende der Geschichte – Wo stehen wir?, S. 280.

19: Über die Demokratie in Amerika, S. 76.

20: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, 48.

21: Also sprach Zarathustra, Von den drei Bösen, 2.

22: Von der Verführung, S. 128.