Im Bann der Maschine
Nietzsches Umwertung der Maschinenmetapher im Spätwerk
Im Bann der Maschine
Nietzsches Umwertung der Maschinenmetapher im Spätwerk


In der vergangenen Woche berichtete Emma Schunack von der diesjährigen Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zum Thema Nietzsches Technologien (Link). Ergänzend dazu untersucht Paul Stephan in seinem Beitrag in dieser Woche, wie Nietzsche die Maschine als Metapher einsetzt. Der Befund seiner philologischen Tiefenbohrung mitten durch Nietzsches Schriften: Während er in seinen Frühschriften an die romantische Maschinenkritik anknüpft und die Maschine als Bedrohung der Menschlichkeit und Authentizität beschreibt, vollzieht sich ab 1875, zunächst in seinen Briefen, eine überraschende Wendung. Auch wenn Nietzsche noch gelegentlich an die alte Entgegensetzung von Mensch und Maschine anknüpft, beschreibt er sich nun zunächst selbst als Maschine und befürwortet schließlich eine Verschmelzung bis hin zur Identifikation von Subjekt und Apparat sogar, konzipiert Selbst- als Maschinenwerdung. Dies hängt mit der sukzessiven allgemeinen Abkehr Nietzsches von den humanistischen Idealen seiner frühen und mittleren Schaffensperiode und der zunehmenden ‚Verdunkelung‘ seines Denkens zusammen – nicht zuletzt der Entdeckung der Idee der „ewigen Wiederkunft“. Aus einer Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine wird ihre radikale Affirmation – amor fati als amor machinae.
Nietzsches Kulturkritik ist in ihrer Ausrichtung gegenüber der Moderne äußerst ambivalent. Mal wirkt es so, als vertrete er einen geradezu modernistischen Standpunkt, mal tendiert er ins Romantische oder gar ins Reaktionäre. Um sich diese Zweideutigkeit von Nietzsches Kulturkritik und seiner Positionierung zur Moderne zu vergegenwärtigen, ist es äußerst aufschlussreich, seine Äußerungen zum Begriff der „Maschine“ in den Blick zu nehmen. Dies ermöglicht nicht zuletzt einen differenzierten Blick auf seine Ethik der Authentizität.
I. Ein Kämpfer gegen die Maschinen-Zeit
Wie ein roter Faden ziehen sich durch Nietzsches Werk von den frühesten bis zu den spätesten Schriften Äußerungen, in denen er die Maschine kritisiert und als Metapher für den modernen Kapitalismus verwendet. Er kritisiert etwa, dass der moderne „äußerliche akademische Apparat, […] die in Thätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität“1 die Gelehrten gleich Fabrikarbeitern zu bloßen Maschinen herabwürdige.2 Die modernen Philosophen seien „Denk-, Schreib- und Redemaschinen“3. In ähnlicher Weise wie Karl Marx kritisiert Nietzsche in dieser Periode sogar die Unterwerfung der Arbeiter, die genötigt sind, „sich als physische Maschinen [zu] vermiethen“4, selbst unter die Maschinerie und macht sie für ihre sittliche Degeneration verantwortlich bzw. für das Aufkeimen dessen, was er später als „Ressentiment“ bezeichnen sollte:
Die Maschine controlirt furchtbar, daß alles zur rechten Zeit und recht geschieht. Der Arbeiter gehorcht dem blinden Despoten, er ist mehr als sein Sklave. Die Maschine erzieht nicht den Willen zur Selbstbeherrschung. Sie weckt Reaktionsgelüste gegen den Despotismus – die Ausschweifung, den Unsinn, den Rausch. Die Maschine ruft Saturnalien hervor.5
An anderer Stelle formuliert Nietzsche die Dialektik der Maschinisierung wie folgt:
Reaction gegen die Maschinen-Cultur. – Die Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden. Sie macht thätig und einförmig, – das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müssiggange dürsten lernt.6
Die Maschinerie diene so als Erzieherin zur Inauthentizität, produziert flexible Maschinenmenschen, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu erziehen:
Die wilden Thiere sollen über sich wegsehen lernen, und in den Andern (oder Gott) zu leben suchen, sich möglichst vergessend! So geht es ihnen besser! Unsere Moraltendenz ist immer noch die der wilden Thiere! sie sollen Werkzeuge großer Maschinerien außer ihnen werden und lieber das Rad drehen als mit sich zusammen sein. Moralität war bisher Aufforderung sich nicht mit sich zu beschäftigen, indem man sein Nachdenken verlegte und sich die Zeit raubte, Zeit und Kraft. Sich niederarbeiten, müdemachen, Joch tragen unter dem Begriff der Pflicht oder der Höllenfurcht – große Sklavenarbeit war die Moralität: mit der Angst vor dem ego.7
Auch noch im Spätwerk gilt Nietzsche die Unterwerfung unter die „ungeheuren Maschinerie“8 der „sogenannten ‚Civilisation‘“ (ebd.) – ihre Hauptmerkmale: „die Verkleinerung, die Schmerzfähigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel“ (ebd.) – als Hauptgrund für „die Heraufkunft des Pessimismus“ (ebd.). Er spricht abfällig von den beliebig fungiblen „kleine[n] Maschinen“9 der modernen Gelehrten und spottet darüber, dass es die Aufgabe des modernen „höheren Schulwesens“10 sei, „[a]us dem Menschen eine Maschine zu machen“ (ebd.), einen pflichtbewussten „Staats-Beamte[n]“ (ebd.) als, vermeintliche, vollkommene Manifestation der Ethik Kants. Bei ehrlicher Betrachtung
ergiebt sich jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance als die letzte grosse Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit – sammelnd, ökonomisch, machinal – als eine schwache Zeit[.]11
Und zu guter Letzt spricht er dann noch in Ecce homo von der „Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre“12 als „vollkommene[r] Höllenmaschine“ (ebd.).
Im Nachlass der frühen 1870er Jahre heißt es sogar programmatisch:
Handwerk lernen, nothwendige Rückkehr des Bildungsbedürftigen in den kleinsten Kreis, den er möglichst idealisirt. Kampf gegen die abstracte Production der Maschinen und Fabriken. Ein Hohn und Hass gegen das zu erzeugen, was jetzt als „Bildung“ gilt: dadurch dass man eine reifere Bildung dagegen stellt.13
Die moderne utilitaristische Maschinenwelt ist Nietzsche in ihrer Totalität ein Graus, das er kritisch mit der dionysischen Kultur der Antike konfrontiert:
Das Alterthum ist im Ganzen das Zeitalter des Talents zur Festfreude. Die tausend Anlässe sich zu freuen waren nicht ohne Scharfsinn und großes Nachdenken ausfindig gemacht; ein guter Theil der Gehirnthätigkeit, welche jetzt auf Erfindung von Maschinen, auf Lösung der wissenschaftlichen Probleme gerichtet ist, war damals auf die Vermehrung der Freudenquellen gerichtet: die Empfindung, die Wirkung sollte in’s Angenehme umgebogen werden, wir verändern die Ursachen des Leidens, wir sind prophylaktisch [vorsorgend; PS], jene palliativisch [‚ummantelnd‘ im Sinne der Palliativmedizin; PS].14
In der Maschinenwelt umgäben sich die Menschen mit anonymen Waren anstatt mit wirklichen Dingen, über die sie in eine resonierende Beziehung zu ihren Urhebern treten könnten:
Inwiefern die Maschine demüthigt. – Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, – also sein Bisschen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein Auszeichnen von Personen, mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrath und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Werthschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sclaventhums zu leben scheinen. – Man muss die Erleichterung der Arbeit nicht zu theuer kaufen.15
Im Gegensatz zu persönlich gefertigten, authentischen, handwerklichen Produkten überzeugten die maschinellen Waren nicht durch ihre intrinsische Qualität, wie sie nur von Kennern ermittelt werden könnte, sondern nur durch ihren Effekt und betrögen damit das breite Publikum.16
Am schärfsten fasst Nietzsche diese umfassende Kritik an der modernen Warenproduktion und der von ihr verhexten Lebenswelt jedoch in Menschliches, Allzumenschliches zusammen:
Gedanke des Unmuthes. – Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nützlich. So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. – Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, – ist das die umana commedia [menschliche Komödie; PS]?17
Die Nähe dieser Gedanken zu einer rousseauistischen, romantischen Kapitalismuskritik, aber auch zu Marx, ist bemerkenswert und unübersehbar. Die „Maschine“ wird für Nietzsche zum Inbegriff dessen, was der Marxismus als „Fetischismus der Warenproduktion“ bezeichnet und er kommt einem klaren Verständnis der verdinglichenden Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise hier überraschend nahe. – Freilich erstaunt diese Metaphorik nicht vor dem Hintergrund, dass die Aufwertung der ‚authentischen Produktion‘ gegenüber dem Handwerk zu den „absoluten Metaphern“ (Hans Blumenberg) des modernen Authentizitätsdenkens gehört, in dessen Gleisen sich Nietzsche an diesen Stellen vollkommen bewegt. Das Lebendige und das Tote, die Maschine und die echte Praxis, werden schroff dualistisch gegenübergestellt.18
Angesichts dieser deutlichen Worte ist es bezeichnend, dass es, parallel dazu, ab etwa 1875 in Nietzsches Schriften zu einer geradezu diametralen Umwertung der Maschine kommt.
II. Der Mensch als Maschine
Diese vollzieht sich bemerkenswerterweise zunächst in Nietzsches Briefen. Zwischen 1875 und 1888 bezeichnet er in ihnen immer wieder seinen eigenen Leib bzw. sogar sich selbst als „Maschine“ und berichtet von ihrem guten oder schlechten Funktionieren.19 In diesem Sinne spricht er schon in der Morgenröthe in einem rein deskriptiven Sinne vom Leib allgemein als Maschine20 und geht auch dazu über, die Menschheit in neutraler Weise als solche zu titulieren.21 Er knüpft hier offenbar an den naturalistischen Flügel der Aufklärung an, beispielsweise Julien Offray de La Mettries L’homme machine (Der Mensch als Maschine, 1748), im Zuge seines allgemein wachsenden Interesses an naturalistischen Erklärungen menschlichen Verhaltens in jener Periode.
Schon in Menschliches, Allzumenschliches vergleicht Nietzsche in bewundernder Weise die griechische Kultur mit einer rasenden Maschine, deren ungeheures Tempo sie für die kleinsten Störungen anfällig machte.22 Im Nachlass der 1880er Jahre konzipiert Nietzsche dann ebenso unkritisch eine „Darstellung der Maschine ‚Mensch‘“23 und geht dazu über, in der Maschinisierung der Menschheit etwas Gutes zu erblicken:
Die Nothwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen „Maschinerie“ der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichniß für diesen Typus ist […] das Wort „Übermensch“.
Auf jenem ersten Wege […] entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstand im Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-Gesammt-Verwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner „angepaßten“ Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssigwerden aller dominirenden und commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen. Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung des M<enschen> an eine spezialisirtere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung – der Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisirung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann…
Er braucht ebensosehr die Gegnerschaft der Menge, der „Nivellirten“, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratism ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.
[…] [W]as ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer: – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein wozu? ein neues „Wozu!“ – das ist es, was die Menschheit nöthig hat…24
Im Sinne der auch im veröffentlichten Werk wiederholt diskutierten Vorstellung eines – erhofften – Umschlags von Nivellierung in eine neue Aristokratie25 hält Nietzsche nun an seiner früheren Kritik der Maschisierung zwar fest, doch erhofft sich von ihr zugleich die Geburt einer neuen Klasse von „Übermenschen“, die souverän über die „Heerde“ der Maschine gänzlich unterworfener Sklaven gebieten. Im Antichrist spricht er diese politische ‚Utopie‘ deutlich aus und begründet sie naturalistisch: „Dass man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu giebt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die Allermeisten bloss fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen“26.
Gibt es bereits in Menschliches, Allzumenschliches Aphorismen, in denen die Unterwerfung unter die Maschine zwar nicht apologetisch, aber auch nicht kritisch, sondern rein deskriptiv als ‚Pädagogik‘ beschrieben wird,27 geht er nun vermehrt dazu über diese Subordination, sogar im Fall der Gelehrten, als heilsame Methode gegen das Ressentiment zu empfehlen28 und erblickt in der Maschinisierung großer Teile der Menschheit durch eine kleine ‚Kaste‘ brutaler ‚Raubtiermenschen‘ die Urszene der zivilisatorischen Formung der Menschheit.29
III. Das Genie als Apparat?
Doch Nietzsches Faszination für die Maschine bleibt dabei nicht stehen. Zwar spricht er sich in der Fröhlichen Wissenschaft dagegen aus, die Gesamtheit des Seins als Maschine zu begreifen, doch nicht, weil dies eine Abwertung oder Verdinglichung bedeuten würde, im Gegenteil: „Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort ‚Maschine‘ eine viel zu hohe Ehre an“30. Den menschlichen Intellekt hingegen beschreibt Nietzsche in demselben Buch ganz unkritisch als Maschine31 und ebenso soll nun das menschliche Seelenleben insgesamt als Maschine begriffen werden32. Dies betrifft nun ausgerechnet das seit dem Frühwerk als Inbegriff höchsten authentischen Selbstseins verklärte „Genie“, das Nietzsche ab der Morgenröthe immer wieder mit einer Maschine vergleicht.33 Er spricht in der Götzen-Dämmerung, mit niemand geringerem als Julius Cäsar als Beispiel, gar von „jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst“34 und in einem späten Nachlassfragment von ihm als der „sublimste Maschine[n], die es giebt“35.
Die moderne „Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit“36 feiert Nietzsche nun als „Macht und Machtbewusstsein […][,] Hybris und Gottlosigkeit“ (ebd.) und mithin als Gegenpol zur modernen Dekadenz.37 In einem Nachlassfragment von 1887 heißt es sogar:
Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar <zu> machen, und ihn soweit es irgendwie angeht der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (– er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwerthigen empfinden lernen: dazu thut noth, daß ihm die anderen möglichst entleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden…)
Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Thätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen und nicht nur ertragen, die Langeweile von einem höheren Reize umspielt sehen lernen[.] […] Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgend einer unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewerthet werden; die „Pflicht an sich“, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist – und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit, Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch… Die machinale Existenzform als höchste ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend.38
Damit ist die Umwertung endgültig vollzogen: Es geht nicht mehr nur darum, einen Sklavenstand von ‚Maschinenmenschen‘ mit Sinne der ‚Höherentwicklung‘ der Gattung zu erzeugen, der eine kleine Gruppe von ‚authentischen‘ Führern gegenüberstehen, sondern alle Menschen sollen gleichermaßen als Rädchen einer großen Gesamtmaschine fungieren, deren Prozess als Selbstzweck bejaht wird. Es kann eigentlich nur noch ein Unterschied zwischen Menschen gemacht werden, die Rädchen sind, und solchen, die selbst in sich geschlossene Maschinen bilden und dadurch zur Herrschaft bestimmt sind. Selbstwerdung als Maschinisierung.
Nietzsche wird damit zum Vordenker eines kybernetischen Technofaschismus, wie ihn bereits Ernst Jünger am Vorabend der ‚Machtergreifung‘ als möglichen Alternativentwurf zum liberalen Humanismus erahnte39 und heute in ‚avantgardefaschistischen‘ Zirkeln40 wieder en vogue ist, aber auch der postmodernistischen Verklärung des „Maschinen-Werdens“ als vermeintliche subversive Praxis, wie sie Gilles Deleuze und Félix Guattari unermüdlich propagieren. Die Utopie des flexiblen Menschen als „Cyborg“41. Es ist geradezu komisch, dass sich sowohl die kritische als auch die affirmative Verwendung der Maschinenmetapher in Nietzsches letzten Schriften gleichermaßen antrifft und bezeugt die Zerrissenheit seines Denkens bzw. seine subjektive Unentschlossenheit.
Bringt man diese letzte Wendung in Nietzsches Denken in Verbindung mit dem Konzept der „ewigen Wiederkunft“, das im endlosen Kreisen der Maschinerie sein handgreifliches Pendant findet,42 auch wenn Nietzsche diese Parallele selbst nicht bemüht, dann offenbart diese Betrachtung den tieferen Grund für Nietzsches ‚Abfall‘: Die wachsende Einsicht in die Strukturdynamik moderner Gesellschaften ließ ihn immer mehr an der Möglichkeit (ver)zweifeln, in ihr Authentizität zu realisieren. Nicht zuletzt, weil er – wie seine erwähnten Briefe bezeugen, die wohl nicht zufällig ganz am Anfang seiner ‚Kehre‘ vom Maschinenstürmer zum -verehrer stehen – erkannte, dass die Maschinisierung der Welt kein bloß äußerliches Geschick, sondern ein inneres Geschehen ist, dem man sich subjektiv nicht zu entziehen vermag. Authentizität ließe sich dann nur als fortwährender Kampf gegen sich selbst realisieren. Damit unzufrieden, bemüht sich Nietzsche nun um die radikale Bejahung der als „ewige Wiederkunft“ mythologisierten Maschinisierung der Welt. Eine Bejahung, die jedoch, wie die Rede von „Höllenmaschine“ in Ecce homo unterstreicht, nur um den Preis der völligen Selbstaufgabe gelingen könnte, handelt es sich doch in seinem Wesen – wie der frühe Nietzsche so glasklar erkannte – um einen menschenfeindlichen Prozess, der die Menschen dazu zwingt, etwas zu bejahen, was sich anders als wahnhaft nicht bejahen lässt.
Der naheliegende Ausweg bestünde eben genau darin, diesen Kampf gegen die innere und äußere Maschinisierung – sowohl im Sinne eines individuellen Heroismus als auch im Sinne politischer ‚Maschinenstürmerei‘ – eben auf sich zu nehmen und die innere Zerrissenheit, die die moderne Lebenswelt den Menschen aufnötigt, zu ertragen. Doch genau darin scheitert Nietzsche, er kann – anders, als von ihm selbst gefordert – diese Spannung nicht aufrechterhalten, muss den „Bogen“ seiner Ethik der Authentizität „abspannen“43 mit Hilfe seiner im Spätwerk immer grotesker, immer realitätsfremder werdenden mythologischen Konstruktionen. Die wahre Herausforderung, die das Authentizitätsideal an die Einzelnen stellt, ist es also, sich die eigene Authentizität in einer von Inauthentizität beherrschten Gesellschaft zu bewahren ohne verrückt zu werden oder der konformistischen Versuchung der Flexibilisierung zu erliegen.
Literatur
Benjamin, Walter: Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 1955.
Ders.: Zentralpark. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1977, S. 230–250.
Haraway, Donna: A Cyborg Manifesto. In: Socialist Review 80 (1985), S. 65–108.
Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 2022.
Stephan, Paul: Die Moderne als Kultur der Ver–gewaltigung. Nietzsche als Kritiker der Gewalt. In: engagée. politisch-philosophische Einmischungen 4 (2016), S. 20-23.
Fußnoten
1: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, Vortrag V.
2: Vgl. etwa ebd. und ebd., Vortrag I.
3: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Abs. 5. Vgl auch Schopenhauer als Erzieher, Abs. 3.
4: Nachgelassene Fragmente Nr. 1880 2[62].
5: Nachgelassene Fragmente Nr. 1879 40[4].
6: Menschliches, Allzumenschliches Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 220.
7: Nachgelassene Fragmente Nr. 1880 6[104].
8: Nachgelassene Fragmente Nr. 1887 9[162].
9: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 6.
10: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 29.
11: Ebd., Aph. 37.
12: Ecce homo, Warum ich so weise bin, Abs. 3.
13: Nachgelassene Fragmente Nr. 1873 29[195].
14: Nachgelassene Fragmente Nr. 1876 23[148].
15: Menschliches, Allzumenschliches Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 220.
16: Vgl. ebd., Aph. 280.
17: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Aph. 585.
18: In dieser Phase äußert Nietzsche sogar dezidiert Verständnis für den Unmut der Arbeiter und empfiehlt ihnen seine Ethik der Authentizität als Ausweg aus dem Dilemma an, „entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu müssen“ (Morgenröthe, Aph. 206). Solche Gedankenspielen bringen ihn in dieser Zeit in bemerkenswerte Nähe zum Anarchismus (vgl. etwa Morgenröthe, Aph. 179).
19: Vgl. Bf. an Carl von Gersdorff v. 8. 5. 1875, Nr. 443; Bf. an dens. v. 26. 6. 1875, Nr. 457; Bf. an Elisabeth Förster-Nietzsche v. 30. 5. 1879, Nr. 849; Bf. an Heinrich Köselitz v. 14. 8. 1881, Nr. 136; Bf. an Franz Overbeck v. 31. 12. 1882, Nr. 366; Bf. an Malwida von Meysenbug v. 1. 2. 1883, Nr. 371; Bf. an Heinrich Köselitz v. 19. 11. 1886, Nr. 776; Bf. an Franziska Nietzsche v. 5. 3. 1888, Nr. 1003 und Bf. an Franz Overbeck v. 4. 7. 1888, Nr. 1056. Es zeigt sich, dass Nietzsche diese Briefe nicht an ‚irgendwen‘ schreibt, sondern seinen allerintimsten ‚kleinen Kreis‘. An Overbeck schreibt Nietzsche am 14. 11. 1886: „Die Antinomie meiner jetzigen Lage und Existenzform liegt jetzt darin, daß alles das, was ich als philosophus radicalis nöthig habe – Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Gesellschaft, Vaterland, Glauben u.s.w. u.s.w. ich als ebensoviele Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und nicht bloß eine Analysirmaschine und ein Objektivations-Apparat bin“ (Nr. 775). Bemerkenswert ist auch ein Brief an Heinrich Romundt vom 15. 4. 1876, in dem es heißt: „Ich weiß nie, wo ich eigentlich mehr krank bin, wenn ich einmal krank bin, ob als Maschine oder als Maschinist“ (Nr. 521).
20: Vgl. Aph. 86.
21: Vgl. Nachgelassene Fragmente Nr. 1876 21[11].
22: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches Bd. I, Aph. 261.
23: Nachgelassene Fragmente Nr. 1884 25[136].
24: Nachgelassene Fragmente Nr. 1887 10[17].
25: Vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, Aph. 242.
26: Abs. 57.
27: Vgl. Bd. I, Aph. 593 und Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, 218.
28: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1881 11[31] und Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 18.
29: Vgl. ebd., Abs. II, 17.
30: Aph. 109.
32: Vgl. Nachgelassene Fragmente Nr. 1885 2[113] und Der Antichrist, Abs. 14.
33: Vgl. Morgenröthe, Aph. 538; Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 8 und Der Fall Wagner, Abs. 5.
34: Streifzüge, Aph. 31.
35: Nachgelassene Fragmente Nr. 1888 14[133].
36: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 9.
37: Es handelt sich bei dieser Passage um eine der zweideutigsten in Nietzsches Werk. Auf den ersten Blick liegt es nahe, sie als Kritik an der modernen Wissenschaft und Technik zu betrachten (vgl. hierzu auch mein eigener Aufsatz Die Moderne als Kultur der Ver–gewaltigung). Doch der späte Nietzsche verwendet ja „Macht“ und sogar „Vergewaltigung“ in überhaupt keinem kritische Sinne, hält er doch in der Genealogie an anderer Stelle klar fest: „[A]n sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts ‚Unrechtes‘ sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter“ (Abs. II, 11). Und in der Passage selbst heißt es: „[S]elbst noch mit dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus“. Nimmt man an, dass sich Nietzsche auch hier noch positiv auf die „alten Griechen“ und ihre Ethik des „Maßes“ bezieht, ist dieser Satz kritisch zu lesen – doch ebenso liegt es nahe, ihn so zu verstehen, dass Nietzsche in den beschriebenen Aspekten der Modernität gerade im Gegenteil „herrenmoralische“ Züge der Moderne erblickt, die ihrem allgemeinen Nihilismus entgegenstehen. Was sollte der erklärte „Antichrist“ auch gegen „Gottlosigkeit“ einzuwenden haben?
38: Nachgelassene Fragmente Nr. 1887 10[11].
39: Vgl. Der Arbeiter.
40: Man denke nur an die entsprechenden Visionen der Milliardäre Elon Musk und Peter Thiel.
41: Vgl. etwa Donna Haraway, A Cyborg Manifesto.
42: Diesen Zusammenhang zwischen „ewiger Wiederkunft“ und Zyklizität der kapitalistischen Ökonomie erkannte bereits Walter Benjamin (vgl. Einbahnstraße, S. 63 & Zentralpark, S. 241–246).
43: Vgl. Jenseits von Gut und Böse, Vorrede.









