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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Lieber das Nichts wollen, als nicht wollen

Selbstentfremdung durch die moderne Wissenschaft

Lieber das Nichts wollen, als nicht wollen

Selbstentfremdung durch die moderne Wissenschaft

1.8.24
Estella Walter

Nietzsches Wissenschaftskritik ist vielleicht eines der bis heute provokantesten, aber auch relevantesten, Teilgebiete von Nietzsches umfassender Kritik der modernen Kultur. Estella Walter rekonstruiert ihre vielleicht bedeutendste Formulierung in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral und zeigt auf, inwiefern Nietzsche Wissenschaft als Form der Entfremdung begreift. Sie erläutert diesen für die moderne Philosophie so zentralen Begriff und schlägt über ihn eine Brücke von Nietzsche zum (jungen) Marx: Beide sind Kritiker der Entfremdungen der modernen Lebensform, deren Kritiken wir zusammen lesen sollten, um zu einem umfassenden Verständnis derselben zu gelangen.

Nietzsches Wissenschaftskritik ist vielleicht eines der bis heute provokantesten, aber auch relevantesten, Teilgebiete von Nietzsches umfassender Kritik der modernen Kultur. Estella Walter rekonstruiert ihre vielleicht bedeutendste Formulierung in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral und zeigt auf, inwiefern Nietzsche Wissenschaft als Form der Entfremdung begreift. Sie erläutert diesen für die moderne Philosophie so zentralen Begriff und schlägt über ihn eine Brücke von Nietzsche zum (jungen) Marx: Beide sind Kritiker der Entfremdungen der modernen Lebensform, deren Kritiken wir zusammen lesen sollten, um zu einem umfassenden Verständnis derselben zu gelangen.

I. Entfremdung – oder die Wissenschaft der Unterwäsche

Unter dem Titel Impact of Wet Underwear on Thermoregulatory Responses and Thermal Comfort in the Cold – „Der Einfluss von nasser Unterwäsche auf thermoregulatorische Reaktionen und thermalen Komfort im Kalten“ – wurde im Jahr 1994 eine Studie veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kam, dass nasse Unterwäsche in einer kalten Umgebung eine „kühlende Wirkung auf […] den thermischen Komfort“1 habe; nasse Unterwäsche, so die bahnbrechende Erkenntnis, fühlt sich also nicht gut an. Was sich wie eine Parodie auf die moderne Wissenschaftslandschaft liest, lässt sich im besten Falle als seichtes Entertainment zu Gemüte führen, im schlimmsten, und das heißt im ernsten, im ernstgenommenen, Fall jedoch erhaschen wir einen Blick auf die Symptomatik einer Gesellschaft, die sich selbst aufgegeben und nun fatalistisch dem mechanischen Zählen grauen Wüstengesteins verschrieben hat. Bei der Lektüre der Art obiger Studie, redundant, tautologisch, unsinnig und dennoch wie Sand am Meer verbreitet, macht sich ein dumpfes Gefühl kalter Leblosigkeit breit, wir haben es mit totem Material zu tun – oder, um es mit der Terminologie Nietzsches auszudrücken, mit einem tiefgreifenden Nihilismus. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, Friedrich Nietzsche widmete sich bereits 1887 im Werk Zur Genealogie der Moral der modernen Wissenschaft und unterzog ihr eine bis heute nachhallende Kritik. Wissenschaft, so eine der Kernthesen, sei ein zeitgenössischer Auswuchs des asketischen Ideals und als solches lebensverneinend und selbstwidersprüchlich. Anstatt sich in den Dienst des Lebens zu stellen, Quelle sich neuschöpfender Potenziale zu sein, katapultiert sie den Menschen weg vom Diesseits hinein ins abgrundtiefe Nichts. Dort, dafür möchte ich argumentieren, wird er sich selbst fremd, ist entfremdet von der unmittelbaren Welt, in der er lebt. In Nietzsches Wissenschaftskritik scheint also, wenn auch nicht explizit ausgedrückt, eine Entfremdungskritik zu schlummern.

„Entfremdung“ ist allerdings – so die gängige Kritik – ein heikler Begriff, impliziert dieser doch Entfremdung von etwas, etwas, das bereits präexistierte. Nur, was soll das sein? Wie kann man, gerade vor dem Hintergrund von Nietzsches Kritik am Ursprungsdenken der Metaphysik und dessen Fortsetzung in der modernen Wissenschaft selbst, dieses etwas noch voraussetzen? Gibt es nichts als Entfremdung, ist das Leben, wie es manche postmoderne Theoretiker*innen durchaus in Anknüpfung an Nietzsche lehren, ein eitles Spiel von Masken, hinter denen kein Gesicht mehr steckt?

Es stellt sich also dringend die Frage, was genau Selbst- und Weltentfremdung bedeutet. Um sie zu beantworten, soll zunächst Nietzsches Wissenschaftskritik eingehender beleuchtet werden, um anschließend mithilfe Marxscher Analysen herauszuarbeiten, inwiefern die moderne Wissenschaft als eine Form der Entfremdung verstanden werden kann.

II. Wissenschaft und Wahrheit: Das letzte asketische Ideal  

Die Bedeutung asketischer Ideale ist ebenso divers, wie seine Anwendung in der Weltgeschichte universell ist. Der Asketismus mag sich in der Kunst ebenso wie in der Philosophie oder allen voran in der christlichen Religion – diesem „Platonismus für‘s ‚Volk‘“2 – finden lassen und mit ihm stets ein passendes Ideal, eine den Menschen transzendierende und somit unerreichbare Idee, die ihn rechtfertigt: Gott, Staat, Kapital. Was all diese Manifestationen des Asketismus jedoch gemein haben, sein Nukleus, ist ein Kampf um die Wertung, die Wertbestimmung des Lebens, indem dieses nämlich „in Beziehung gesetzt [wird] zu einem ganz andersartigen Dasein“3, einem höheren, vollkommeneren; einem, das, um es zu bejahen, die Herabsetzung des eigenen Lebens verlangt, es als „Irrweg, den man endlich rückwärts gehn müsse“ (ebd.) zu behandeln nötigt. Doch, bemerkt Nietzsche, bedarf die Durchsetzung einer solchen kollektiven Selbstverneinung durch die Entwertung des Lebens selbst eine gewaltige Kraft. In ihr „drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus“4. Das asketische Ideal ist Ausdruck eines Machtwillens, eines Willens zur Macht.

Es ist jedoch ein Ausdruck, der zu sich selbst im Widerspruch steht, der sich selbst kannibalisiert, um am Leben zu bleiben. Unter seiner Herrschaft gedeiht das Sich-Ergötzen an allem, was leidet, was verelendet und geknechtet wird, kurz, was dem Erblühen des menschlichen Lebens opponiert. Dieser Wunsch nach Selbstminimierung, Selbsteliminierung, nach wässriger Suppe, die gerade noch bekömmlich ist, und die damit einhergehende Furcht vor allem Lebendigen, vor jeglicher Tatkraft und Großartigkeit, sie münden unweigerlich im Nihilismus, im Willen zum Nichts: „[L]ieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen…“5

Es handelt sich um eine pervertierte „Machterlangung in der faktischen Ohnmacht durch die Kräfte des Imaginären“6, denn wer sich mit anderen Mitteln nicht zu wehren weiß, greift zu tückischeren Waffen – sei es Moral, Tugend oder Schuld. In letzter Instanz ist das asketische Ideal ein Stillen des Leidens all jener, die ohnmächtig und des Lebens überdrüssig sind, denen jedes Mittel noch zum Kampf um Selbsterhaltung dient, ganz gleich wie giftig die Heilwässerchen. Unfähig zu handeln, erlaubt ihnen das asketische Ideal immerhin eine „Affekt-Entladung“7, also eine Befriedigung der „Betäubung von Schmerz durch Affekt“ (ebd.) – Ressentiment, Schuld, Gewissen, die sich nach innen richten, sich vergeistigen, und dort den Menschen in sich selbst zur Geisel nehmen. „[D]u selbst bist an dir allein schuld!“ (ebd.), also sei fromm und bescheiden, im Nicht-Wollen liegt die Erlösung. Und so diszipliniert sich der Leidende, straft sich für seine eigene Existenz.  

Mit solchen Kunststücken der Machtausübung sind die meisten nur allzu vertraut, sie schreien geradezu nach den Imperativen des Christentums. Wer sich aber des Atheismus rühmt, sich im Schutze der Vernunft und Objektivität wägt und selbstsicher die archaischen Überbleibsel religiöser Zeitalter belächelt, dem sei an dieser Stelle zur Vorsicht geraten. Zu oft wird die Errungenschaft moderner Wissenschaften als Überwindung der asketischen Ideale, als Ende der Metaphysik und Beginn der sich selbstgenügenden Wahrheit gefeiert. Wer braucht Gott, wenn es Darwin gibt? Nietzsche warnt vor dieser Selbsttäuschung. Die Wissenschaft habe keinen Mut zu sich selbst, ihr Wesen ist nach wie vor substanzlose Hülle „und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form8. In ihr findet der selbstzerstörerische Wille zum Nichts, nach dem er Gott getötet hat, nun gottlos auf der Suche nach einem neuen Glauben ist, sein letztes Asyl. In der wissenschaftlichen Geschäftigkeit, die sich voller Ernst selbst an die Spitze aller Wichtigkeit setzt, liegt der noch übrigbleibende Trost über den Verlust des großen Glaubens, des Ideals, das doch zumindest die Wehen und Leiden zu begründen vermochte. Wer fleißig arbeitet, braucht nicht nachzudenken. Wer das Wohlbefinden in nasser Unterwäsche als der Erforschung würdigen Gegenstands hochpoliert, der braucht sich der „Frage nach dem Wozu“9, den „[g]rundsätzlichen Problemen“ (ebd.) nicht zu stellen. Die modernen Wissenschaftler*innen sind überzeugt von ihrer Freiheit gegenüber allen überirdischen Fesseln, sie müssen von ihrer Freiheit überzeugt sein, um zur Ruhe kommen zu können. Hinter diesem Selbstbetrug steckt jedoch, wie von uns in ehrlichen Stunden bereits befürchtet, die Unterwerfung unter ein letztes, ganz grundlegendes Ideal: der Glaube an die absolute Wahrheit. Dieser Wille zur Wahrheit, und damit soll gesagt sein, prinzipielle Wahrhaftigkeit und Objektivität, ist selbst noch „Glaube an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit10. Am Himmel der Ideen hängt der universelle Wahrheitsanspruch, unerreichbar und also umso verzweifelter begehrt. Er verlangt, wie jedes andere Ideal auch, die Bejahung einer anderen, göttlichen Welt, die im Gegensatz zur unseren steht und somit angewiesen ist auf strenge Entsagung aller Sinnlichkeit, auf Verzicht „auf Wertungen und Interpretationen […]. Indem sie [die Gelehrten] sich eines jeden Urteils enthalten wollen, treiben sie die ‚Selbstverachtung des Menschen‘ auf die Spitze“11. Den asketischen Gelehrten bleibt nichts anderes übrig, als sich in ihren Elfenbeinturm zu flüchten, dort die Anhäufung des Staubes zu beobachten und die Welt möglichst unbemerkt an sich vorbeiziehen zu lassen. Wir haben es mit einer Passivität sondergleichen zu tun, die uns dazu zwingt, die heiße Luft des Status quos zu atmen. Solch ein nihilistisches Wahrheitsdogma zeigt seine absurden, verheerenden Wirkungen: die Hälfte aller veröffentlichten Forschungsartikel landen ungelesen auf der Informationsmülldeponie, 90% von ihnen werden nie zitiert12 und während sich die bizarrsten Gestalten in hedonistischen Ressorts auf dem Mond verschanzen, kämpft der sogenannte ‚globale Süden‘ mit den von der Menschheit selbst verursachten, sehr wirklichen Konsequenzen von Hungerkrisen, Krieg und Ausbeutung. Das asketische Ideal ist wie auch die moderne Wissenschaft von der Unantastbarkeit der Wahrheit abhängig und dahingehend also auch von einer „Verarmung des Lebens13; der Atheismus ersetzt Gott mit der christlichen Moral selbst, verborgen im wissenschaftlichen Gewissen, das sich doch nur die Welt nach dem Maßstab „einer göttlichen Vernunft“14 zurechtbiegt.

III. Entfremdung durch Wissenschaft

Bevor wir die moderne Wissenschaft als Entfremdungsphänomen verstehen können, müssen wir uns zunächst den bereits angedeuteten Schwierigkeiten des Entfremdungskonzepts annehmen. Wer von Entfremdung spricht, weist notwendigerweise auf die Relationalität zweier Instanzen hin: Es gibt etwas, das von etwas anderem entfremdet ist. Viel zu eilig ließe sich jedoch, ausgehend solcher Überlegungen, auf einen vor-entfremdeten Ursprung schließen, zu dem es zurückzukehren gelte. So hat auch Nietzsche seine Probleme mit der Fetischisierung des Ursprungs, wird dieser doch unüberlegt mit dem Zweck, der Richtigkeit oder ultimativ mit der Wahrheit einer Sache in den Topf geworfen.15 Wer jedoch etwas „Zu-Stande-Gekommenes“ (ebd.) mit seinem Ursprung gleichsetzen möchte, verkennt dessen Geworden-Sein, dessen historische Wandlungen und Überschreibungen; verkennt, „dass alles Geschehene […] ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ‚Sinn‘ und ‚Zweck‘ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.“ (Ebd.) Wir mögen also den Entstehungsprozess eines Phänomens nachvollziehen können, nicht jedoch seinen Ursprung im Sinne einer Stunde null, in der es magischerweise ex nihilo zu existieren begann. Der Ursprung ist eine Illusion, er ist stets unwahr. Stattdessen haben wir es mit einer Kette von „Überwältigungsprozessen“ (ebd.) von Kräften zu tun, die auf einen Willen zur Macht verweisen.

Wenn wir uns aber von der Idee einer präexistenten Wahrheit, eines essenziellen Wesens verabschieden, wozwischen besteht dann noch die entfremdete Beziehung? In seiner Frühschrift Ökonomisch-philosophische Manuskripte behandelt Marx Entfremdung als „Kritik der Existenz eines Abstrakt-Allgemeinen“16: „Die Entfremdung ist […] der Gegensatz eines abstrakten Denkens und der sinnlichen Wirklichkeit“ – „daß das menschliche Wesen […] im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und aufzuhebende Wesen der Entfremdung“17. Oder in anderen Worten, durch die Abstraktion von und Vergeistigung der sinnlichen Welt, die einen metaphysischen Kosmos schafft, in dem sich der Mensch als übergreifende, totale Einheit außerhalb seiner selbst versetzt, entfremdet er sich sowohl von seinem unmittelbar und sinnlich erfahrbaren Leben wie auch von der Welt, in der sich dieses Leben konstituiert. Die moderne Wissenschaft und ihr unablässiger Wahrheitsdrang, das letzte asketische Ideal, gehören zu eben diesem Kosmos. Sie eignet sich die „zu Gegenständen gewordenen [d.h. verdinglichten; EW] Wesenskräften des Menschen“ (ebd.) an und lässt sie zu geistigen Echos ihrer selbst verkommen – die Seele wird zum Gefängnis unseres Körpers18. Die Entfremdung durch die Wissenschaft ist also keineswegs die Entfremdung von einem wahren Ursprung oder einem idealen Wesen, denn schließlich würde man mit einer solchen Annahme erneut in die mystifizierende Falle einer metaphysischen Transzendenz fallen. Vielmehr ist sie „Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft“19, die das Wesen des Lebens, nämlich seine „Steigerung über sich hinaus“20, sein kontinuierliches Werden, negiert. Sie ist der Leerlauf, die Stagnation, das Auf-der-Stelle-Treten eines minimierten Lebens, hervorgerufen vom Gebot eines abstrakten und steifen Wahrheitsanspruches, der jede Verflüssigung von Form und Sinn verbietet. Sie ist Resultat einer Selbstmedikation gegen das verdrießliche Leiden an der eigenen Existenz.

IV. Fazit: Lebensfeindlichkeit mit Methode

Ein oft anzutreffendes Narrativ der Moderne ist ihre wissenschaftliche Fortschrittlichkeit, ihre beispiellosen Errungenschaften. Auch wenn diese nicht dementiert werden sollen, so legt Nietzsches Wissenschaftskritik doch den Finger auf die heimliche Wunde und erweist sich auch heute noch als relevanter denn je. Im Kern der modernen Wissenschaft mit all ihren Spezialisierungen, ausgefeilten Methoden und Systemen, liegt ein tragischer Nihilismus, ein als kühle Besonnenheit getarnter Wunsch zur Selbstaufhebung. Die Wissenschaft hat keineswegs ihren Selbstwert gefunden, noch bedeutet sie Befreiung von den Geistern der Metaphysik. Vielmehr bedarf auch sie noch einer Hand von oben, ist auch sie noch angewiesen auf eine „wertschaffende[] Macht“21, dem Ideal einer absoluten Wahrheit, das zu erreichen nicht möglich ist und also einen immer noch härteren Asketismus gebietet. Gebunden an ein scheinhaftes und deshalb umso festgezurrteres Abstraktum fängt sie das Leben ein und entfremdet es nicht von einem vermeintlich präexistenten Ursprung, sondern von seinem sich immer neu schöpfenden Werdensprozess, von einer sinnlichen, materiellen Wirklichkeit. Selbstverständlich bleibt Nietzsche nicht bei einer Diagnose der modernen Wissenschaft und Moral stehen. Er hat seine eigene Vorstellung von Selbstüberwindung, von der Überwindung des uns anheimgefallenen Nihilismus. Wie fruchtbar diese sind, bleibt eine spannende Frage, die es in weiteren Artikeln auf diesem Blog zu beleuchten gilt.

Literatur

Bakkevig, Martha Kold & Ruth Nielsen: Impact of Wet Underwear on Thermoregulatory Responses and Thermal Comfort in the Cold. In: Ergonomics 37, Nr. 8 (August 1994), S. 1375–89. (Link)

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 2021.

Heidegger, Martin: Nietzsche. Hg. v. Brigitte Schillbach. Gesamtausgabe. I. Abteilung, Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 6.1/2. Frankfurt a. M. 1996.

Heit, Helmut: Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral. Vom asketischen Ideal zur Erkenntnis für freie Menschen. In: Ders. & Sigridur Thorgeirsdottir: Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation. Berlin & Boston 2016, S. 252–274.

Meho, Lokman I.: The rise and rise of citation analysis. In: Physics World 20, Nr. 1 (Januar 2007), S. 32–36. (Link)

Marx, Karl: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Hg. v. Barbara Zehnpfennig. Hamburg 2008.

Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a. M. & New York 2007.

Wallat, Hendrik: Das Bewusstsein der Krise. Marx, Nietzsche und die Emanzipation des Nichtidentischen in der politischen Theorie. Bielefeld 2009.

Fußnoten

1: „[C]ooling effect on […] thermal comfort“ (Bakkevig und Nielsen, Impact on Wet Underwear).

2: Jenseits von Gut und Böse, Vorrede.

3: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 11.

4: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 1.

5: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 28.

6: Saar, Genealogie als Kritik, S. 82.

7: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 15.

8: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 23.

9: Heit, Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral, S. 263.

10: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 24.

11: Heit, Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral, S. 265.

12: Vgl. Meho, The rise and rise of citation analysis.

13: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.

14: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 27.

15: Vgl. Zur Genealogie der Moral, Abs. II, 12.

16: Hendrik Wallat, Das Bewusstsein der Krise, S. 113.

17: Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, S. 131.

18: Vgl. hierzu etwa auch Foucault, Überwachen und Strafen, S. 42.

19: Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, S. 133.

20: Heidegger, Nietzsche, S. 439.

21: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.

Lieber das Nichts wollen, als nicht wollen

Selbstentfremdung durch die moderne Wissenschaft

Nietzsches Wissenschaftskritik ist vielleicht eines der bis heute provokantesten, aber auch relevantesten, Teilgebiete von Nietzsches umfassender Kritik der modernen Kultur. Estella Walter rekonstruiert ihre vielleicht bedeutendste Formulierung in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral und zeigt auf, inwiefern Nietzsche Wissenschaft als Form der Entfremdung begreift. Sie erläutert diesen für die moderne Philosophie so zentralen Begriff und schlägt über ihn eine Brücke von Nietzsche zum (jungen) Marx: Beide sind Kritiker der Entfremdungen der modernen Lebensform, deren Kritiken wir zusammen lesen sollten, um zu einem umfassenden Verständnis derselben zu gelangen.

Nietzsche dingfest machen

Nietzsche dingfest machen

11.7.24
Natalie Schulte

Hat Nietzsche eindeutige philosophische Lehren? Mit Nietzsches Vieldeutigkeit wird bis heute gekämpft. Wann meint er, was er sagt? In ihrem Essay geht Natalie Schulte der Frage nach, wo inmitten von assimilierender Vereindeutigung durch weltanschauliche Programme einerseits und akademisch versierte Zerstreuung von Nietzsches Gedankenbauten in zahl- und zusammenhangslose Fragmente und Perspektiven andererseits die heutige Auseinandersetzung mit Nietzsche ihre entscheidenden Herausforderungen zu verorten hat. Zwischen den Gefahren der Vereindeutigung seiner Philosophie und der grenzenlosen Relativierung seiner Thesen sucht sie nach einem fruchtbaren dritten Weg, mit der Frage nach dem „eigentlichen Nietzsche“ umzugehen.

Hat Nietzsche eindeutige philosophische Lehren? Mit Nietzsches Vieldeutigkeit wird bis heute gekämpft. Wann meint er, was er sagt? In ihrem Essay geht Natalie Schulte der Frage nach, wo inmitten von assimilierender Vereindeutigung durch weltanschauliche Programme einerseits und akademisch versierte Zerstreuung von Nietzsches Gedankenbauten in zahl- und zusammenhangslose Fragmente und Perspektiven andererseits die heutige Auseinandersetzung mit Nietzsche ihre entscheidenden Herausforderungen zu verorten hat. Zwischen den Gefahren der Vereindeutigung seiner Philosophie und der grenzenlosen Relativierung seiner Thesen sucht sie nach einem fruchtbaren dritten Weg, mit der Frage nach dem „eigentlichen Nietzsche“ umzugehen.

Schon lange ist der Vorwurf populär, man könne Nietzsche für und gegen alle Ansichten in Anspruch nehmen, weil er sich in seinen Werken fortlaufend selbst widerspreche und jede beliebige Meinung sowohl vertrete als auch angreife, sodass ein „eigentlicher“ Nietzsche gar nicht übrig bleibe – allerhöchstens derjenige, den der jeweilige Leser sich selbst wünsche als Freund oder, je nachdem, auch als Feind. Nietzsche eine weiße Wand? Eine Projektionsfläche für Wünsche? Am schärfsten hat dies vermutlich Kurt Tucholsky formuliert:

Wer kann Nietzsche nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen. [...] Für Deutschland und gegen Deutschland; für den Frieden und gegen den Frieden; für die Literatur und gegen die Literatur – was Sie wollen.1

Wer sich längere Zeit mit Nietzsche beschäftigt, kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob Tucholsky damit nicht das treffendste Wort gesprochen hat. Denn auf der nie enden wollenden Jagd nach Nietzsches eigentlicher Philosophie ist bereits viel Widersprüchliches gesagt worden: Dass sie den geistigen Boden bereitet habe für den Nationalsozialismus, dass sie in den drei Hauptlehren des „Übermenschen “, des „Gedankens der ewigen Wiederkunft“ und des „Willens zur Macht“ kulminiere, dass ihr kritisches Potenzial höher einzuschätzen sei als ihr affirmatives, dass sie als „Künstlermetaphysik“ nur eben als Individualphilosophie  gelte, dass der „tragische Gedanke“ als roter Faden Nietzsches gesamte Philosophie durchziehe – um hier nur einige Interpretationen herauszugreifen.

Wir könnten auch zu behaupten wagen, dass bisher keine Position abwegig genug war, um nicht in Nietzsche ein Vorbild und in seinem Werk nicht mindestens ein Zitat zum Beweis zu finden. Nietzsche ein Frauenverächter und Emanzipationsfeind? Mal nicht so vorschnell – wie viel Entwicklungsspielraum räumt er doch den Frauen ein, und konnte nicht gerade seine genealogische Methode zu einem wichtigen Werkzeug der feministischen Theorie avancieren? Nietzsche bedauert, dass der Protestantismus so vielen katholischen Ausschweifungen ein Ende bereitete – allerdings nicht dem Christentum? Nun, aber irgendwie spürt man doch durch alle Abneigung hinweg Nietzsches geheime Bewunderung für Luther und dessen Haltung des „hier stehe ich und kann nicht anders“.

Nietzsche rechts und ein Chauvi, ein reaktionärer, antiliberaler, antihumanistischer Holzklotz? Mitnichten, es hat nur eine zärtliche Vaterhand gefehlt, so dass die männlichen Machtfantasien hie und da übers Ziel hinausschossen. Aber mit ein wenig Feinarbeit ziselieren wir die subtileren und, entschuldigen Sie die Wortwiederholung, „eigentlichen“ Grundzüge heraus und erkennen, siehe da: Nietzsche ist ein Linker, ein lupenreiner Demokrat, ein Menschenfreund. Inkognito vielleicht gar für sich selbst, aber im Dienst der „guten Sache“ (welche diese auch immer ist), und unsere Sache als guter und tollkühner Interpret wird es sein, uns anhand des roten Fadens nicht hinaus aus dem Labyrinth in die Freiheit zu hangeln, sondern hinein bis zu Herz und Hirn des Philosophen.

Kapitulation vor der Inkohärenz

Aber lassen wir die Ironie beiseite. Nietzsche gilt berechtigtermaßen als unsystematischer Philosoph, und die Kernideen seiner Philosophie zu benennen kann einiges an Kopfzerbrechen bereiten. Angesichts all der gegensätzlichen Versuche, seine Philosophie in ihrem Wesen zu bestimmen, könnte es einem ratsam erscheinen, bescheidener aufzutreten und lediglich zu beweisen, dass sich all die bisherigen Bestimmungen als Reduktionen erweisen, die weit eher den jeweiligen Wünschen des Interpreten entsprechen als Nietzsches Philosophie. Denn immer – immer (?) – ließe sich ein Gegenbeispiel finden oder eine feinsinnige Gegeninterpretation, die jede noch so klare Aussage in Zweifel zieht. Wir behaupten also nicht mehr, dass es einen Kern seiner Philosophie gebe oder eine Ader, die sich aufsplittet in viele kleine, reiche Nebenadern, die aber doch alle vom selben Zentrum her Blut und Leben beziehen. Wir versuchen, Nietzsche fragwürdiger zu gestalten, und einzutauchen in ein Spiel der Bezüge und Referenzen, als ernsthafte Forscher benennen wir Quellen und vertiefen uns in Lesespuren von Nietzsches eigener Lektüre. Ein Gesamtbild wirkt überholt, verlangt nach jener einen Zentralperspektive, der wir doch schon längst das Licht ausgeknipst haben, während wir behaupten, dass Nietzsche eher einem jener Wechselbilder gleicht, in dem man entweder Frau oder Vase sieht. Und wenn wir denn wirklich noch an der Metapher des Labyrinthes festhalten wollen würden, dann wäre dieses vermutlich von Maurits Cornelis Escher gemalt und hätte weder Ein- noch Ausgang, weder Herz noch Mittelpunkt, sondern nur eine Vielzahl von Minotauren, die sich aus der Zweidimensionalität in eine verquere Dreidimensionalität zeichnen, als würden sie selbst noch unterstreichen, bloß handgemacht zu sein.

In gewisser Weise haben diejenigen, die sich zuerst auf die Suche nach Nietzsches eigentlicher Philosophie begaben, schon den weiteren Weg der Nietzscheforschung vorgezeichnet. Mit jedem festen Porträt musste das Kippbild negiert und gezeigt werden, dass es ironisch gebrochen ist, oder nur ein unselbständiger Versuch, oder eingebettet werden kann ins Gesamtbild. Diese Methode der zunächst partikularen Untergrabung wurde schließlich von Teilen der neueren Nietzscheforschung perfektioniert, universalisiert und schließlich verwissenschaftlicht. Nun aber zerrinnt uns jede Aussage über seine Philosophie in den Fingern. In einem gigantischen Korrosionsprozess läuft seine Philosophie Gefahr, sich in einzelne Atome aufzulösen, und von Aphorismus zu Aphorismus erstreckt sich weiter Raum: „Finden wir noch eine Brücke? Gibt es noch ein Hinüber? Gibt es noch ein Wohin?“ Dürfen wir das mit ein wenig nietzscheanischer Tragik fragen

Philosophie als fragmentarisches Sammelsurium

Oder, so wird ein nüchterner Geist vielleicht einwenden, besteht da gar keine Gefahr? Liegt der Zauber von Nietzsches anhaltender Modernität nicht gerade darin, dass sich jede Zeit ihren eigenen Nietzsche kreiert? Im Zeitalter der Ideologien war es naturgemäß ein Nietzsche der zarathustrischen Lehren, heute ein anschmiegsam ambiger Philosoph des Einerseits-Andererseits, nicht dingfest zu machen, stets einen Schritt voraus, immer schillernd, nie zu greifen. Mit einem überlegenen Lächeln dürfen wir neuen Experten beginnenden Nietzscheinterpreten zuschauen, wie sie noch nach einer festen Aussage haschen. Nun, womöglich kennen sie noch nicht die erste Skizze oder die zweite Überarbeitung vor dem veröffentlichten Aphorismus. Multiplizieren wir die Interpretationsmöglichkeiten mit jedem geänderten Artikel pro Abschnitt, kehren wir die Vorzeichen versuchsweise einmal herum und bedenken, dass Minus mal Minus Plus ergibt. Ein Komma erschüttert die neuere Forschung heute mehr als die Frage, ob Nietzsche den Gedanken der Wiederkunft als gescheitert verwarf.

Was aber ist dann die Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie anderes als eine geistreiche Spielerei in einem hermetisch akademischen Raum, in dem Experten sich kenntnisreich die Bälle zuspielen? Sie selbst nehmen ja nichts mehr ernst. Und krankt daran nicht der akademische Diskurs unserer Universitäten? Sie glauben ja nicht mehr: dass die Wahrheit sich benennen lässt, Moral in einem Himmel festgeschrieben steht, dass die Philosophie die Welt verändert. Abgeklärt erscheint Philosophie nunmehr als Produkt eines abgeschlossenen Verdauungsvorgangs von jüngster Geschichte, soziokulturellem Rahmen, gewachsener Mentalität und Politik, das der Rest der Bevölkerung auch getrost ignorieren kann. Eine Philosophie, die dabei ist, ihre wesentlichen Erkenntnisansprüche aufzugeben, gerät zum bloßen Archiv, einer unschöpferischen Institution, die sich nicht mehr traut, Wahrheit überhaupt zu suchen, sondern lediglich neue Aspekte an einer geistreichen Chronologie interessanter Ideen präsentiert.  

Aber auch diese Kritik ist vielleicht zu kurz gegriffen und wird der heutigen Lage der Philosophie nicht gerecht. Welche philosophische Schule könnte denn noch überzeugen? Wer wollte sich ernsthaft und aus ganzer Seele einen Kantianer nennen? Und wer einmal einem Heideggerianer begegnet ist, weiß, dass er ein solcher lieber auch nicht werden will. So drängt sich die Frage auf: Was kann uns eine gewordene Philosophie für unser künftiges Denken sein? Und wie können wir einer Philosophie wie der von Nietzsche heute begegnen?

Philosophie als Kritik

Wir kommen gerechterweise kaum umhin, an der neueren Nietzscheforschung zu würdigen, dass sie als Korrektiv den vielen Simplifizierungen in Nietzschedeutungen den Garaus macht und gerade diejenigen widerlegt, die sich am lautesten mit seinem Namen brüsten: Die Selbstoptimierer und seichten Lebensratgeber und natürlich, wie eh und je, die politische Rechte, die nicht davon lassen kann, sich mit einer Handvoll Schlagworte Nietzsche zu eigen zu machen.

Von seiner Philosophie können wir sicher die Skepsis gegenüber geschlossenen philosophischen Systemen lernen. Es ist verführerisch, ein einmal mühevoll errichtetes Gedankengebäude nach Kräften gegen die Zweifler zu verteidigen. Aber allzu leicht wird man zum Gefangenen der Architektur, die man mit 35 in die Welt gesetzt hat. In Nietzsche finden wir ein authentisches Denkzeugnis, das zeigt, wie man sich von Früherem unbeschwert löst, und über den Haufen wirft, was zu eng und überholt erscheint. Insofern lernen wir mit und durch Nietzsches Philosophie das eigenständige Denken, nicht aber ein geschlossenes Lehrsystem. Damit freilich ist die Gefahr der Beliebigkeit nicht gebannt. Der Versuch, eine weittragende Perspektive in Nietzsche zu finden, kann nicht belanglos sein, und regt zu einer geistigen Anstrengung an, die sich als weit spannungsreicher gestaltet als das selbstgerechte Sich-Abfinden, dass Nietzsches Denken in atomistische Einzelaussagen zerfallen lässt, die nur für sich stehen und allerhöchstens in subjektiven Kontext gerückt werden könnten.  

Zuletzt kehren wir aber zurück zur eingangs gestellten Frage: Können wir Nietzsche dingfest machen? Oder lässt sich mit ihm, wie Tucholsky behauptet, alles rechtfertigen, alles angreifen? Sehen wir uns kurz die Strategien an, mit denen gewisse Aussagen aus Nietzsches Philosophie unterhöhlt, mindestens aber relativiert werden, sodass man Nietzsche, im Extrem gedacht, auf keine einzige Stelle festnageln könnte, die „etwas so meint, wie es da steht“.

Strategien der Auflösung und Einwände

Dass sich tatsächlich zu jeder These die Gegenthese finden lässt, so heißt es. Dies ist eine starke Behauptung, die dennoch den Vorteil hat, dass sich leicht Beispiele aufzählen lassen. Ob diese Gegensätze noch Gegensätze bleiben, wenn man sie genauer interpretiert, sei an dieser Stelle dahingestellt. Aber gibt es eine Meinung, der an keiner Stelle widersprochen wird, wenn man sie auf die schlichteste Art und Weise versteht? Und siehe da, der selbstbestimmte Tod etwa, der Freitod, um nur ein Beispiel zu nennen, genießt bei Nietzsche uneingeschränkte Affirmation. Er stellt ihn in starken und eindeutigen Kontrast zum vom ihm kritisierten geistigen und körperlichen Dahinsiechen, das im natürlichen Tod sein Ende findet. Eine Gegenthese hierzu sucht man vergebens.

Einige Aussagen müssen auf eine Weise biographisch verstanden werden, dass sie praktisch aus Nietzsches Philosophie heraus subtrahiert werden können. Das alte Weiblein, das Zarathustra den wenig charmanten Ratschlag gibt, eine Peitsche mitzunehmen, wenn Mann zu Frauen geht, sei beispielsweise nur eine Persiflage auf Nietzsches Schwester Elisabeth. Aus der Stelle ließe sich folglich keine etwaige misogyne Einstellung ableiten. Aber selbst wenn dies stimmte, steht eine Philosophie erst einmal für sich selbst, und wir Interpreten studieren die Perspektiven, die sich aus ihr ergeben, und nicht Nietzsches wie auch immer geartete Psyche. Die Psychologisierung, die als Strategie zunächst dazu diente, sich einen gefälligeren und runderen Nietzsche zu erschaffen, führt, konsequent angewendet, zur Nivellierung seiner Philosophie, da praktisch jede Aussage biographisch und psychologisch gedeutet werden kann. Dann allerdings muss man schließlich zur Einschätzung gelangen, dass sein gesamtes Werk nur als Denkbiographie zu würdigen ist, die philosophisch irrelevant ist, weil sie für niemanden gilt, außer für die Einzelperson, die sie verfasste.

Der philosophische Sprecher lässt sich in unzählige Experimentalfiguren zerlegen. Ausgehend vom berechtigten Einwand gegen voreilige Deutungen die Zarathustra schlicht mit Nietzsche gleichsetzten, und der Erkenntnis, dass nicht ohne Weiteres Experimentalfiguren wie der „tolle Mensch“ mit Nietzsche identifiziert werden können, hat sich die Praxis etabliert, einem kohärenten „Sprecher-Ich“ ganz den Boden zu entziehen. Ist dieses „Ich” tatsächlich der Philosoph Friedrich Nietzsche oder spricht da ein philosophischer Typus, eine Versuchsfigur oder gar ein Zerrbild? Gibt es vielleicht gar so viele Nietzsche wie Ichs in seinen Texten? Nun, dann können wir jeden Versuch einer auch nur halbwegs kohärenten Nietzschedeutung den Rücken kehren, weil es eine nietzschesche Philosophie, die sich anhand von Inhalten charakterisieren ließe, schlicht nicht gibt. Dieser Strategie kann man durchaus Beifall zollen, sie ist filigran und schlau. Jede Vereinnahmung von Nietzsche lässt sich damit zerschlagen, da man seiner so kaum habhaft werden kann. Warum aber sollten wir die Zeit einem Philosophen widmen, der nur Positionen ausprobiert hat, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu bedenken? Ausgehend von einer spannend schillernden Ambiguität rutscht Nietzsches Philosophie in eine Beliebigkeit, an der man achselzuckend vorbei gehen kann.

Gewisse Aussagen sind ironisch gemeint. Das ist durchaus naheliegend, bedarf allerdings auch einer interpretatorischen Begründung wie dem Aufzeigen mehrerer Indizien. Und wenn sie diese erhält, muss nicht zwangsläufig ein unüberbrückbarer Widerspruch entstehen. Nietzsche könnte beispielsweise die Würdigung des „souverainen Individuums“2 ironisch gemeint haben, weil er es nur mit einer einzigen Fähigkeit ausstattete, nämlich versprechen zu können. Diese „Freiheit“, sich selbst auf etwas festzulegen, ging allerdings aus dem schlimmsten Zwangssystem – der harten körperlichen Bestrafung desjenigen, der seine Versprechen bricht – hervor. Ja, die Ironie besteht darin, dass das souveräne Individuum, das sich seiner Freiheit brüstet, vergessen hat, aus welch dunkler, barbarischer Zeit sie geborgen wurde. Und doch ist es eine Freiheit, die für Nietzsche ganz unironisch einen neuen Entwicklungsschritt des Menschen markiert. Die Ironie erweist sich hier also nicht als unauflöslicher Gegensatz, sondern als Metaperspektive desjenigen, der beides sieht – ihren dunklen Grund und ihr stolzes Angesicht.

Und zuletzt haben wir noch die feinsinnige Interpretation, welche auf Begriffe, die Nietzsche scheinbar natürlich, alltagsverständlich benutzt, seine eigene Kritik anwendet. Dies hier behauptet er als Wahrheit? Aber hat er nicht dem Wahrheitsbegriff selbst die Grundlage entzogen? Er spricht von einer Rangordnung der Perspektiven, aber wer ordnet ihren Rang? Er sagt, die Natur, die Welt sei an sich unmoralisch – wo er doch alle Aussagen „an sich“ bereits über den Haufen geworfen hat?  

Integrative Kraft

Und genau hier sollten wir eben nicht Halt machen und lediglich lapidar feststellen, dass ein gewisser widersprüchlicher Charakter integraler Bestandteil von Nietzsches Philosophie sei, sondern versuchen, die scheinbaren und die tatsächlichen Widersprüche, die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zueinander in Beziehung zu setzen und sie zu gewichten. Wie viel kann unsere Deutung von Nietzsches Philosophie integrieren, dies könnte ein Maßstab zu ihrer Beurteilung werden. Vorsichtig und misstrauisch gegen uns selbst sollten wir allerdings werden, wenn tatsächlich eine runde, in sich geschlossene Philosophie dabei entsteht, in der man plötzlich und in guter alter Tradition behauptet, dass sich alle Widersprüche als nur scheinbar erweisen, wenn  man nur eben jenen einen Schlüssel zu ihrer Interpretation benutzt. Irgendwann endet die bloße Nietzscheinterpretation und es sind unsere eigenen Argumente, die mit gewissen Aphorismen ringen. Es sind unsere eigenen Positionen, Geschmäcker, Perspektiven und Wertschätzungen, die wir durch ihn angegriffen sehen und die wir versuchen zu verteidigen, nicht zuletzt mit den von ihm gelernten Strategien. Wir sind im Dickicht einer Philosophie angekommen, mit der wir, wenn wir es wagen, ringen können und vielleicht sogar einen Ausgang finden. Dass dieser Ausgang uns hinaus in unsere Freiheit führt und nicht zu Herz und Hirn des Philosophen, macht das Denken erst zu dem Abenteuer, das es in Nietzsches Sinne „eigentlich“ ist.

Literatur

Tucholsky, Kurt: Fräulein Nietzsche (1932). In: Mary Gerold-Tucholsky & Fritz J. Raddatz (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 3. Frankfurt am Main 2005, S. 994.

Fußnoten

1: Tucholsky, Fräulein Nietzsche, S. 994.

2: Vgl. Zur Genealogie der Moral, II, 1–3.

Nietzsche dingfest machen

Hat Nietzsche eindeutige philosophische Lehren? Mit Nietzsches Vieldeutigkeit wird bis heute gekämpft. Wann meint er, was er sagt? In ihrem Essay geht Natalie Schulte der Frage nach, wo inmitten von assimilierender Vereindeutigung durch weltanschauliche Programme einerseits und akademisch versierte Zerstreuung von Nietzsches Gedankenbauten in zahl- und zusammenhangslose Fragmente und Perspektiven andererseits die heutige Auseinandersetzung mit Nietzsche ihre entscheidenden Herausforderungen zu verorten hat. Zwischen den Gefahren der Vereindeutigung seiner Philosophie und der grenzenlosen Relativierung seiner Thesen sucht sie nach einem fruchtbaren dritten Weg, mit der Frage nach dem „eigentlichen Nietzsche“ umzugehen.

Das Pfeifen im Walde, der Schrei nach Liebe

Nietzsches Echo in der Heavy-Metal-Musikszene

Das Pfeifen im Walde, der Schrei nach Liebe

Nietzsches Echo in der Heavy-Metal-Musikszene

1.7.24
Christian Saehrendt

Wie kaum ein anderer Philosoph hat Friedrich Nietzsche Spuren in der Populärkultur hinterlassen – weniger im gefälligen Unterhaltungsmainstream, dafür eher in Subkulturen und in künstlerischen Positionen, die als „edgy“ und „dark“ gelten. In dieser „Underworld“ sind Nietzsches Aphorismen, Schlagworte, Parolen und Invektiven weit verbreitet – etwa in den auf gesellschaftliche und ästhetische Provokation fixierten musikalischen Genres von Heavy Metal, Hardcore und Punk. Woran liegt das?

Wie kaum ein anderer Philosoph hat Friedrich Nietzsche Spuren in der Populärkultur hinterlassen – weniger im gefälligen Unterhaltungsmainstream, dafür eher in Subkulturen und in künstlerischen Positionen, die als „edgy“ und „dark“ gelten. In dieser „Underworld“ sind Nietzsches Aphorismen, Schlagworte, Parolen und Invektiven weit verbreitet – etwa in den auf gesellschaftliche und ästhetische Provokation fixierten musikalischen Genres von Heavy Metal, Hardcore und Punk. Woran liegt das?

In Fachkreisen wird seit einigen Jahren darüber diskutiert, was Nietzsche und die Heavy-Metal-Subkultur miteinander verbinden könnte. So wies der Kunstwissenschaftler und Heavy-Metal-Experte Jörg Scheller darauf hin: „Bezeichnenderweise wird kein Philosoph so häufig im Heavy Metal zitiert wie Nietzsche.“1 Die Website loudwire.com erstellte 2018 eine Liste von „11 Nihilistic Songs Inspired by Nietzsche“ [„11 nihilistische, von Nietzsche inspirierte Songs“] darunter “God is Dead” [„Gott ist tot“] von Black Sabbaths Album, „13“, Orange Goblins Stück „Ubermensch” und „Beyond good and evil“ [„Jenseits von Gut und Böse“] von der Band At The Gates.2 Die Website lebmetal.com zählt eine Reihe von Bands auf, die von Nietzsches Nihilismus stark beeinflusst worden seien, wie Gorgoroth, Beherit, Burzum, Emperor und Limbonic art.3 Zahlreiche weitere Beispiele könnten genannt werden, wie etwa die nietzscheanische Inspiration der Band Slipknot (Musikvideo)4 oder die ukrainische Band The Nietzsche, die dem Genre des Mathcore zugerechnet wird und die sich direkt nach dem Philosophen benannt hat (Musikvideo).

Nietzsche-Aufkleber. Schriftzug im Metal-Design. Online-Handel, Screenshot 31. 3. 2024.

Was also haben Nietzsche und Black Metal bzw. ähnlich „laute“, „harte“ und provokante Musikrichtungen gemeinsam? Vorab sei festgestellt: Diese Musikrichtungen wurden und werden ganz überwiegend von heterosexuellen jungen Männern aus den Mittelschichten westlicher Industriestaaten geprägt. Sie kamen in den 1980er Jahren mit dem Eintritt geburtenstarker Jahrgänge ins Erwachsenenleben auf und wurden vom damaligen pessimistisch-apokalyptischen Geistesklima beeinflusst, wo Medien-Themen wie Waldsterben, Wettrüsten und Atomunfälle mit dem konkret erfahrbaren Niedergang der Industrie und der hohen Jugendarbeitslosigkeit korrespondierten und der jungen Generation ein wenig ermutigendes Zukunftspanorama boten. Auf der Grundlage dieser Prämisse lassen sich vier Verbindungen zwischen Nietzsche und der Heavy Metal definieren: Das männliche Gefühlsleben, das Verhältnis zu den Frauen, der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und der Bezug zum Christentum.

Erstens: Sowohl bei Nietzsche als auch bei Heavy Metal herrscht das Prinzip „Harte Schale, weicher Kern“. Nicht selten verbergen sich hinter der Härte und ästhetischen Radikalität der Musik sensible Künstler. Die Musik mit ihrer übersteuerten Lautstärke, der Brüll- und Schreigesang, die wilde Kostümierung in Leder und Metall, Masken und Make-Up – all dies dient als Panzerung des jungen Mannes, der an der Brutalität und Ungerechtigkeit der Gesellschaft verzweifelt. Gewisserweise handelt es ich dabei auch um ein Rollenspiel im Rahmen eines Initiationsritus: Der erwachsen werdende junge Mann erkennt die harte gesellschaftliche Realität und sieht die Schwierigkeiten eines Aufstiegs vor sich. Er spielt den „Wilden Mann“, um seine Zweifel und Schwächen zu überdecken und um gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu generieren. Er pendelt dabei zwischen dem Refugium schallisolierter Übungskeller und grell beleuchteten, mit imposanten Boxentürmen dekorierten Bühnen. Seine Musik gleicht dem Pfeifen im Walde. Dies kommt auch in vielen Texten von Heavy Metal, Hardcore und Punksongs zum Ausdruck, die von Kapitalismuskritik und pessimistischen Gesellschaftsvisionen geprägt sind. Überspitzt formuliert hieße das: Sensibelchen hören Hardcore, Folterknechte lieben Schlager und Musikantenstadel. Härte und Lautstärke sind somit auch Ausdruck von Leid und Angst, wobei die Parallelität zu Nietzsches Persönlichkeit und seiner kompensatorischen Radikalität deutlich wird. Auch er war ja bekanntermaßen ein lautsprecherischer Feingeist.

Zweitens: Die Abwesenheit der Frauen. In der Regel pflegen junge Männer die Liebe zu den harten Musikstilen, bevor sie die Liebe zu einer Frau entdecken. Heavy Metal wird nach dem Eintritt der Geschlechtsreife relevant und verliert mit Partnerschaft und Familiengründung an Bedeutung. Dies deutet darauf hin, dass die harten Musikrichtungen und die damit verbundene Pose des „Wilden Mannes“ jungen Männern helfen, mit Emotionen umzugehen, bzw. diese mit Selbstbildern der Stärke, Abgebrühtheit und Macht zu überblenden. Gefühle auszuleben, könnte, so fürchten junge Männer, als Schwäche ausgelegt werden und die angestrebte männliche Identität in Frage stellen. In diesem Sinne wären Heavy Metal und Hardcore jenen männlichen Körperpanzerungen gleichzustellen, die durch Kampfsport, Bodybuilding oder Tätowierungen eine schützende die Aura der Gefährlichkeit herstellen sollen. Nietzsches Persönlichkeit wurde durch den Mangel an stabilen sexuellen Beziehungen sicherlich stark beeinflusst. Seine überstürzten Heiratsanträge und Ansichten über Frauen im Allgemeinen dürften von entsprechenden Frustrationen und Unsicherheiten motiviert worden sein.

Drittens: Der Wunsch, anerkannt zu werden und sich durchzusetzen. Ästhetisch, politisch, religiös: Auf mehreren Ebenen fordern die harten Musikstile die anerkannten Autoritäten heraus – schließlich handelt es sich um Aktionsfelder junger Männer, die sich selbst verwirklichen wollen, sich als Repräsentanten einer Generation verstehen und gesellschaftliche Relevanz erkämpfen wollen. Protest und Aufstiegsambition gehen dabei eine Einheit ein. In diesem Sinne fordern sie: Freie Bahn dem Individuum! Keine Einschränkung durch Regeln und Moral! Hier werden sie bei Nietzsche fündig. Zudem gehört die demonstrative Verachtung einer „christlichen Sklavenmoral“ zur Selbstdarstellung als hart und cool, passend zum Körperpanzer.  

Viertens: Das Christentum als Referenz. Das Spannungsverhältnis Nietzsches zum Christentum, in dessen Geist er erzogen worden war, und vor allem sein bekanntes Bonmot „Gott ist tot“ machen ihn in Augen mancher Heavy-Metal-Anhänger zum Advokaten eines provokativen Satanismus. Aus der Perspektive säkularer Europäer ist die Metalszene, vor allem die amerikanische, geradezu besessen vom Thema der Religion, wobei es neben den „Antichristen“ und Satanisten auch Spielarten christlichen Metals und Hardcores gibt („White Metal“ u. ä.). In jedem Fall ist der Referenzrahmen häufig das Christentum, was daran liegt, dass es in der amerikanischen Gesellschaft noch viel prägender und gegenwärtiger ist als in Europa und somit viel mehr Reibungsfläche für rebellische Geister bietet. Dazu bemerkte Jörg Scheller:

Einerseits hielt Heavy Metal die Symbolwelten der christlichen Kirche am Leben, andererseits zeigte er auf, welche Scheinheiligkeit sich mitunter dahinter verbirgt, man denke an Slayer. Heavy Metal hatte dahingehend einen aufklärerischen Impetus, er stand – wissentlich oder unwissentlich – in der Tradition radikaler Religionskritiker wie Diderot oder Nietzsche. Nietzsche war überzeugt, dass das Christentum ein Dekadenzsymptom sei, dass es einen Kult der Schwäche betreibe und Tugenden wie Stolz und Freiheitswillen beschädige. Folglich predigte er das Extrem – und das Extrem ist der Kern von Heavy Metal, das betonen alle Metal-Musiker, unabhängig von ihrer jeweiligen ideologischen Ausrichtung.5  
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Die Konferenz „Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture“ [„Aus Tragödie wird Pop! Nietzsches ewige Wiederkunft in der Populärkultur“] untersuchte 2015 an der ZHdK Zürich erstmals auf breiter Front das Fortleben von Nietzsches Denken in der Populärkultur. Lukas Germann widmete sich dabei der Resonanz Nietzsches in der norwegischen Black-Metal-Szene.6 Das Genre definierte er prägnant:„Black Metal ist ein zivilisiertes, weil in Formen und Regeln der Kunst, des Scheins, des Bildes gehaltenes Spiel mit dem geheimen und verdrängten Wunsch nach dem Zusammenbruch aller Zivilisation.“ Bezogen auf das Subgenre des Black Metal, dessen Name auf ein 1982 erschienenes Album der Band Venom zurückgeht, sprach Lukas German von weltweit mittlerweile mehr als 33.000 Bands. In seiner Untersuchung steht die norwegische Musikszene der frühen 1990er Jahre im Fokus, in der zwei Morde, ein Selbstmord und Dutzende von Kirchenbrandstiftungen für Aufsehen sorgten. Norwegische Black-Metal-Bands wie Mayhem und Emperor nannten Nietzsche als wichtige Inspirationsquelle, die Band Gorgoroth benannte mehrere Alben nach Nietzsches Buchtiteln: „How to philosophize with the Hammer“ [„Wie man mit dem Hammer philosophirt“], „Antichrist“, „Twilight of the Idols“ [„Götzen-Dämmerung“]. Generell waren die Nietzsche-Bezüge in den meisten Fällen eher oberflächlich, stellte Germann fest, und ein wichtiger Aspekt von Nietzsches Philosophie blieb unverstanden: „Die vor allem beim späten Nietzsche zelebrierte Feier des Lebens bleibt dem Black Metal fremd. Und auch musikalisch gehen die meisten Black-Metal-Bands nicht eigentlich nietzscheanische Wege.“ Zwar gab es in der norwegischen Black-Metal-Szene den Impuls, Leben und Kunst zu vereinen, indem ein radikaler Lebensstil gepflegt wurde und die Grenzen der Kunst gewalttätig überschritten wurden. Da die dionysische Kunst über sich hinaus, in die Praxis, ins Leben, dränge, könne man, so Germann, die Exzesse, die im Norwegen der früher 1990er Jahre ihren Anfang nehmen, durchaus als dionysischen Rausch definieren. Der Metal-Szene sei es aber nicht gelungen, „die dämonisch-dionysische Rauschhaftigkeit von Musik und Ästhetik als Öffnung zu verstehen, als abgründiges Meer von Möglichkeiten.“ Stattdessen suchte man neue Grenzen, definierte sich über eine exklusive Identität und Feindschaften, kultivierte die Verachtung anderer. „Die Freude am Bösen, an der Kreativität der Verachtung und Vernichtung erstarrt zur Überzeugung“ – Überzeugungen seien aber, so Nietzsche, „gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen“7, weil sie zu Engstirnigkeit, Unversöhnlichkeit und Fanatismus führen und das freie Spiel der Gedanken und Argumente beenden.  

Ohne Zweifel ist die wissenschaftliche Nietzsche-Rezeption heute differenzierter geworden und stempelt ihn nicht mehr pauschal als amoralischen Darwinisten und Vordenker des Faschismus ab. Doch in der Breite der Gesellschaft, einschließlich ihrer Subkulturen, ist diese Differenzierung noch nicht angekommen. Hier wirken noch weithin die herkömmlichen düsteren Nietzsche-Assoziationen nach: Ablehnung der Moral, Abwertung der Frau, Verachtung der Kirche, Wille zur Macht. Nietzsche umgibt noch immer eine Aura des Brutalen, Unheimlichen und Rücksichtslosen. Er wird als Pate eines extremen Individualismus und eines grenzwertigen dominanten Freiheitsstrebens aufgerufen. Diese stark vereinfachte und einseitige Interpretation seines Werks führt dazu, dass sich mitunter merkwürdige Menschen als Nietzsche-Fans gerieren – vor allem Männer, deren Verhalten man heute unter dem Begriff „toxische Männlichkeit“ verbuchen würde, im Extremfall sogar solche, die als Gewalttäter und Killer aktiv wurden, wie etwa im Chicagoer Mordfall Leopold & Loeb aus dem Jahre 1924. Nathan Leopold und Richard Loeb, zur Tatzeit 19 bzw. 18 Jahre alt, planten gemeinsam die Entführung eines Menschen mit anschließendem Mord, nachdem sie bereits erfolgreich kleinere Straftaten gemeinsam begangen hatten. Ein achtjähriger Junge wurde ihr Opfer. Die beiden Täter aus wohlhabenden deutsch-jüdischen Familien waren hochbegabt, Leopold las Nietzsche, insbesondere Also sprach Zarathustra, wobei ihn vor allem die Idee des Übermenschen faszinierte. Barbet Schroeders Kriminalthriller Murder by Numbers (2002) mit Ryan Gosling und Michael Pitt in den Hauptrollen griff diese Geschichte wieder auf. Im Film ist Nietzsche die Inspirationsquelle für den hochbegabten Schüler Justin (Michael Pitt), der in der Highschool ein Referat zum Thema Freiheit hält. Dabei äußert er die provokative These: „Freiheit ist Verbrechen, denn wer wirklich frei sein will, handelt radikal egozentrisch, stellt sich selbst über das Wohl der Gemeinschaft.“ Mit seinem Mitschüler Richard (Ryan Gosling) beschließt er, ein perfektes Verbrechen zu begehen, um diesen Freiheitsbegriff in die Praxis umzusetzen. Sie ermorden eine ihnen unbekannte Frau, werden aber am Ende überführt. Die Überzeugung, durch Intelligenz und Willenskraft berechtigt zu sein, sich über Moral und Gesetze stellen zu können, mag auch die realen Highschool-Attentäter von Columbine oder den norwegischen Massenmörder Anders Breivik zu ihren Taten bewegt haben.8

Nicht jeder Nietzsche-Leser wird zum Killer, doch besonders anfällig für einen brutalisierten und missbräuchlichen Einsatz von Nietzsches Gedankengut sind ledige junge Männer, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen und sich dabei kämpferischer, provokanter Methoden bedienen. Im intellektuell-künstlerischen Kontext sind dies vor allem Männer, die für sich gerne die Aura der Gefährlichkeit in Anspruch nehmen und sich auf dem Feld der Subkultur inszenieren, als Künstler, Schriftsteller oder Musiker. So ist beispielsweise im Black Metal heute die Aura der Gefährlichkeit Teil des ästhetischen Erlebnisses. So lange Nietzsche in diesem Kontext lediglich als Pate einer „Ästhetik des Bösen“ fungiert, ist alles noch im ‚grünen Bereich‘. Schwieriger wird es, wenn das so verherrlichte Böse die Schwelle der Fantasie überschreitet und ins reale Leben, in die Praxis gelangt. Während im Black Metal Nietzsche die Lizenz zum Böse sein zu erteilen scheint, bringt ihn Madonna im Namen der Liebe ins Spiel. 2015 schmückte sie ihr Musikvideo zum Song „Living for Love“ mit einem Nietzsche-Zitat, in dem der Philosoph die Bösartigkeit des Menschen beklagt. Während es rote Rosen auf die Sängerin regnet und Applaus aufbrandet, wird auf Englisch ein Zitat Nietzsches eingeblendet: „Man is the cruelest animal. At tragedies, bullfights and crucifixions he has felt best on earth; and when he invented hell for himself that was his very heaven.“ Auf Deutsch: „Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier. Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden.“9

Nietzsche-Tattoo bei einem Fan von Agnostic Front (Zürich 2024)

Fußnoten

1: https://norient.com/stories/war-nietzsche-metalfan (24. 3. 2024).

2: Vgl. https://loudwire.com/songs-inspired-by-german-philosopher-nietzsche/?utm_source=tsmclip&utm_medium=referral (1. 8. 2018).

3: Vgl. https://lebmetal.com/2010/03/metal-and-nietzscheism/ (3. 3. 2010).

4: Vgl. https://andphilosophy.com/2018/12/01/nietzsche-and-slipknot-challenge-you-to-all-out-life/ (1. 12. 2018).

5: https://norient.com/stories/war-nietzsche-metalfan (24. 3. 2024).

6: Lukas Germann: Der Rest ist bloß die Menschheit! Black Metal und Friedrich Nietzsche, Vortrag bei der Konferenz Pop! Goes the Tragedy. The Eternal Return of Friedrich Nietzsche in Popular Culture (ZHdK Zürich 23./24. 10. 2015).

7: Menschliches, Allzumenschliches I, 483.

8: Vgl. zu den Attentätern von Columbine: „Ich liebe einfach Hobbes und Nietzsche“ (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/columbine-massaker-ich-hasse-euch-leute-1354954.html [31. 7. 2006]). Zu Breivik: In seinem Manifest 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung erwähnt er Nietzsche an zehn Stellen (vgl. http://de.danielpipes.org/blog/2012/07/breiviks-mentale-welt [22. 7. 2012]).

9: Also sprach Zarathustra, Der Genesende, 2.

Nachweis zum Artikelbild

Nietzsche muss Piano. Gemälde von Else Gabriel, Berlin 2019.

Das Pfeifen im Walde, der Schrei nach Liebe

Nietzsches Echo in der Heavy-Metal-Musikszene

Wie kaum ein anderer Philosoph hat Friedrich Nietzsche Spuren in der Populärkultur hinterlassen – weniger im gefälligen Unterhaltungsmainstream, dafür eher in Subkulturen und in künstlerischen Positionen, die als „edgy“ und „dark“ gelten. In dieser „Underworld“ sind Nietzsches Aphorismen, Schlagworte, Parolen und Invektiven weit verbreitet – etwa in den auf gesellschaftliche und ästhetische Provokation fixierten musikalischen Genres von Heavy Metal, Hardcore und Punk. Woran liegt das?

Nietzsche bedeutet nichts, er lebt

Nietzsche bedeutet nichts, er lebt

24.6.24
Estella Walter

Im letzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der unsere Stammautoren in den letzten Wochen ihr jeweiliges Verständnis von Nietzsche kurz vorstellten, erzählt Estella Walter von ‚ihrem‘ Nietzsche als Kritiker jedweder Totalität im Namen der namenlosen Wirklichkeit des Werdens.

Im letzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der unsere Stammautoren in den letzten Wochen ihr jeweiliges Verständnis von Nietzsche kurz vorstellten, erzählt Estella Walter von ‚ihrem‘ Nietzsche als Kritiker jedweder Totalität im Namen der namenlosen Wirklichkeit des Werdens.
Diejenigen aber, die kritisieren, ohne zu erschaffen, die sich mit der Verteidigung des Erschöpften begnügen, ohne daß sie ihm die Kräfte zu neuem Leben verleihen können: sie sind das Wundmal der Philosophie. Sie sind vom Ressentiment getrieben.1

Nietzsches Werke sind berüchtigt für ihre konsequente Ablehnung schwerfälliger Philosophietraditionen – gegen Platon und das Christentum als „Platonismus für’s ‚Volk‘“2, gegen Hegel und die Dialektik, gegen Kants kategorischen Imperativ und alsdann auch gegen Schopenhauers Wider-Willen. Diese vermeintliche Anti-Haltung wirkt anziehend, endlich gibt es einen Repräsentant für all jene, die nicht der großen Masse angehören. Einen für all die missverstandenen, einsamen Genies, die die Bürden der verkannten Großartigkeit tragen, einen David gegen Goliath; die Negativschablone, die sich durch das definiert, was sie eben nicht ist oder sein kann.  

Die Ironie wie auch potenzielle Gefahr eines solchen Gebrauchs Nietzsches ist offensichtlich. Es stimmt schon, er mag von Zeit zu Zeit wider seiner eigenen Agenda weinerlich und trotzig sein, allerdings geht es ihm vor allem und in erster Priorität um die Selbstaffirmation des Lebens. Der Wille zur Macht, die Liebe zur griechischen Antike, die ewige Wiederkehr, sie alle stehen im Dienste des Lebens, der Wirklichkeit. Doch, und in dieser Missinterpretation liegt die Quelle der faschistischen Tendenz, besteht der Kern des Lebens keineswegs aus einem vergessenen Ursprung, von dem wir uns entfremdet haben und zu dem es zurückzukehren gilt, noch aus eine höhere, letzte Weisheit (Religion), selbst wenn diese immanent wird (Wahrheit, Kapital, Staat). Das Wirkliche ist vielmehr eine Bewegung, es trägt sich selbst immerzu fort im Prozess seiner Neuschöpfung. Es ist produktiv, vervielfältigt sich ziellos, trägt Schicht für Schicht dem Leben neue Materie auf. Es leistet Widerstand gegen jeden Stillstand, jeden sich aufheizenden Leerlauf der Fleißigen und Frommen, gegen den Versuch einen Damm des Absoluten, des Dogmatischen, der Totalität inmitten der reißenden Ströme aufzubauen. Der Kern des Lebens ist des Kernes eigene Auflösung, die Überwindung des Bestehenden also, der ewige Aufbruch in noch zu erschaffende Welten. Großartigkeit ja, aber eine kollektiv-unpersonale, die sich nicht um ihre Anerkennung zu scheren braucht. Eine, wie ich finde, sehr hoffnungsvolle Philosophie, die den Rahmen des Möglichen sprengt.

So lesen sich Nietzsches Zeitdiagnosen als grundlegende Kritik der Moderne. Denn, so seine Beobachtung, die europäische Gegenwart triftet im Nichts. Dem Christentum, hat es einmal seinen Gott getötet, bleibt nichts als seine Werte – lebensfeindliche Werte, verkleidet im Mantel des Atheismus, die ihre Wurzeln im Ressentiment haben. Die Menschheit braucht keinen Gott, gut, aber doch Moral und Vernunft, die dem selbstverschuldetem Subjekt zeigen, wo es langgeht, wo die Hoffnung auf Reinwaschung der klebrigen Ursünde noch nicht gestorben ist. Der Lehrer, der Chef, der Psychotherapeut, die Bourgeoisie mit ihrer blinden Staatstreue sind die Priester der Gottlosen. Ihre Botschaft: „[E]s ist eine Schande, glücklich zu sein!“3, also knechtet euch, baut den Strömen einen Damm, auf dass sie zum Rinnsal werden. Nachdem sich der Mensch von göttlichen Imperativen befreit hat, legt er sich selbst erneut in Ketten. Doch fand er im Glauben an einen wahrhaften Gott, an die Erlösung nach dem Tode zumindest Gewissheit und Trost, so sieht er sich nun vor dem trüben Stumpf der Glaubensüberzeugungen stehen, in dem ein jeder Wert zur relativen Sache wird – „Ja, wie solltet ihr glauben können, ihr Buntgesprenkelten! – die ihr Gemälde seid von allem, was je geglaubt wurde!“4. Beraubt jeder großen Wahrheit, begnügt sich die Menschheit mit einem Minimum an Leben, wagt nicht über das Bestehende hinauszugehen. Die Moderne ist das Zeitalter des Nihilismus.  

Das Zeitalter des Nihilismus ist das der kapitalistischen Gesellschaft. Die Arbeitskraft als grundlegender Treibkraft menschlichen Lebens, zuvor gebunden an eine bestimmte Tätigkeit, deren Gegenständlichkeit den Wert der Arbeit ausmachte, wird zur abstrakten Arbeitskraft, die gegen Lohngeld als flüssiges Abstraktum verkauft wird. Die produktiven Kräfte verlieren ihren unmittelbaren Bezug zur von ihnen geschaffenen Wirklichkeit, Arbeit wird zur bloßen Notwendigkeit für die basale Reproduktion, die auf monetäre Mittel angewiesen ist. Das Leben steht still, die gewaltigen Neuschöpfungen und Werdensprozesse werden im Keime erstickt, denn wer hat dafür noch Zeit oder Geld? Zuerst das täglich Brot, dann die Revolution – doch hat man dabei vergessen, dass auch das Brot eine revolutionäre Erfindung war. Der Mensch hat auf der Stelle zu treten, wird seines Willens und dessen Früchte beraubt, seine Wirklichkeit wird ihm fremd, er ist entfremdet. Nicht das Leben ist Bedingung für die Arbeit, sondern zuallererst ist die Lohnarbeit Bedingung für das Leben – ein ewiger Kreislauf vom Typus einer Zentrifuge, die die unbrauchbaren Reste nach außen schleudert und den produzierten Mehrwert im Inneren konzentriert. Dort thront das Kapital, wird immer gesättigter und doch nie satt. Es ist sowohl Ausgangslage als auch Endzweck: Geld – Ware – Geld; und dabei durch und durch unproduktiv aber doch ausgestatten mit Vampirzähnen, die es nur in die Produktivkräfte reinzuhauen braucht. Die wahre Zecke ist das Silicon Valley, nicht der Punk auf der Straße.  

Das Zeitalter des Nihilismus hat sich einem neuen Meister verschrieben, ohne es zu merken. Das Kapital ist ein verheerender Gott, der, im Gegensatz zu den Göttern der Erde, die noch vielmehr als Motor der Schöpfung dienten, die produktive Kraft aufsaugt, indem er zur Projektionsfläche wird von allem, was je geglaubt wurde.  Die Wirklichkeit verdampft vor dem Auge in heiße Luft, nur um in abstrakter Warenform als Wirbelsturm über die residuale Wüste der Realität zu toben. Zurück bleibt das entfremdete, nackte Subjekt, dem lediglich übrig bleibt zu Wundpflastern zu greifen, die allesamt notwendig reaktionär, weil machtlos sind: die Privatisierung des Menschen unter dem Ideal eines souveränen Individuums, die fantastischen Versprechungen einer Karriere, der Trost des Konsums im Schoß kolonialer Ausbeutung, die ideelle Installation einer vermeintlich besseren Vergangenheit, die Liebe zum Gesetz und zur Ordnung, die Flucht in die politische Identität, die ihren Ursprung in Marginalisierung und Unterdrückung hat, die totalisierende Moral als Waffe im Kulturkampf, der weit entfernt der materiellen Verhältnisse ausgefochten wird – die Ohnmacht und das daraus resultierende Ressentiment haben sich tief eingegraben.

Auf der theatralischen Bühne einer zynischen, weil künstlichen Wirklichkeit, lenkt Nietzsche den Blick auf die Theaterproduktion. Das Schauspiel mit all seinen tragischen Leiden und komödiantischen Ekstasen mag seichte Unterhalten bieten, jedoch auf Kosten der realen Lebensbedingungen. Also, so Nietzsches Plädoyer, gilt es das Theater in die Luft zu sprengen, sich neue Werte zu schaffen, die sie Steigerung des Lebens ankurbeln, die Wüste befruchten. Nietzsches Stimme ruft zur Selbstüberwindung, jenseits von Gut und Böse, wo das Ego zur Randfigur und die produktive Selbstbejahung des Werdens zur Protagonistin wird. Wer die Philosophie nicht als Hammer nutzt, sondern als Zeitvertreib für die Genügsamen, als Narkotikum für die Leidenden oder als Religion der Ungläubigen, hat sich zum Zeitpunkt der Sprengung besser auf der Bühne aufzuhalten.

Was bedeutet Nietzsche also? Zu Zeiten ist er willkommen heißender Rückzugort, an dem das Denken sich frei entfalten kann und das Staunen am menschlichen Reichtum uns zum erneuten Aufbruch treibt. Und auch, wenn er selbst kein expliziter Kapitalismuskritiker war, so ist er doch Waffe im Kampf gegen jede Totalität, auch der des Kapitals, gegen die Absurdität der Gesprenkelten, die sich zynisch Werten verschreiben, an die sie doch nicht glauben können. Seine Kritik an seiner Zeit ist eben keine reaktionäre Kraft, sondern bejahender Wille zur Befreiung, der die Turbinen anheizt und uns herausfordert den großen Schritt ins Unbekannte zu wagen. Nicht zuletzt bleibt er treuer Weggefährte für die Herumstreuenden, Abenteuerlustigen, Tanzenden und all jene, die sich von ihm ermutigen lassen, auf die Reise zu gehen.

Literatur

Deleuze, Gilles & Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 2003.

Fußnoten

1: Gilles Deleuze & Félix Guattari, Was ist Philosophie?, S. 36.

2: Jenseits von Gut und Böse, Vorrede.

3: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 14.

4: Also sprach Zarathustra, Vom Lande der Bildung.

Nietzsche bedeutet nichts, er lebt

Im letzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der unsere Stammautoren in den letzten Wochen ihr jeweiliges Verständnis von Nietzsche kurz vorstellten, erzählt Estella Walter von ‚ihrem‘ Nietzsche als Kritiker jedweder Totalität im Namen der namenlosen Wirklichkeit des Werdens.

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins II

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins II

19.6.24
Michael Meyer-Albert

Nachdem Michael Meyer-Albert im ersten Teil seines Textes die, traurige, Geschichte von den Selbstzweifeln der Aufklärung erzählte, berichtet er nun von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ als Gegenentwurf.

Nachdem Michael Meyer-Albert im ersten Teil seines Textes die, traurige, Geschichte von den Selbstzweifeln der Aufklärung erzählte, berichtet er nun von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ als Gegenentwurf.

III. Die Wahrheit der Unwahrheit

Als Hegel nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 den Sieger Napoleon sah, meinte er, er sähe den „Weltgeist zu Pferde”. Dadurch, dass die Politik, nach einem Wort Napoleons, vor allem mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, zum Schicksal geworden ist, ändert sich auch das Konterfei des Weltgeistes. Aus dem Sieger hoch zu Ross wird der nachdenkliche Spaziergänger. Die prototypische Szene dafür: Lise Meitner und ihr Neffe Otto Frisch, die 1938 im schwedischen Exil auf einem Winterspaziergang die Antwort auf eine physikalische Frage fanden, die Otto Hahn, der in Dahlem die Spaltung von Uran erforschte, an Meitner in einem Brief stellte. Ihnen wurde klar, welche Implikationen die Spaltung von Uran hatte. Hahns Versuche zeigten die Möglichkeit zum Bau einer Atombombe. Mit dieser Erkenntnis begann die dunkle Globalisierung als die Möglichkeit einer menschengemachten Apokalypse. Aus dem Weltgeist als militantem Revolutionär wird ein Athlet des Sorgens um das Sein.

In Nietzsches Philosophie kündigt sich nicht nur der Strukturwandel des Weltgeistes an. In seinem Denken zeigt sich ein Sinn für die Tiefenstrukturen von Kulturen, aus denen weiterhin zu lernen wäre, wie die erzwungene globale Kooperation in zivilere Bahnen rücken könnte. Nietzsches stärkste Intuition ist, dass sich das Verständnis für Wahrheit in der abendländischen Kultur im Umbruch befindet. Er sah daher massivste Turbulenzen in Folge des Verlustes des Glaubens an Wahrheit voraus. Er sah aber auch, dass es zu einer Instrumentalisierung dieser Kulturkrise kommen wird. Und das nicht primär im Sinne eines politischen Eigeninteresses. Die Krise spielt für Nietzsche vor allem eine Rolle im Hinblick auf die psychologische Ökonomie. Wenn die selbstverständlichen Wahrheiten ausfallen, beginnen die Teilnehmer einer Kultur sich an Erfindungen von Wahrheit zu halten, die ihre mentale Fitness schützen und animieren. Aus der Not der fraglichen Wahrheit wird die Tugend der erdichteten Wahrheitskonstruktion.

Kunst als Lebenskunst entsteht aus dem reflektierten Willen zum Schein. Dieser nimmt als unreflektierter eine toxische Form an. In der Gestik des Absoluten wird das Leid der Wahrheitskrise umgestimmt in eine Kampfbereitschaft, die klare Schuldige benennt und so die Aussicht auf eine – vermeintliche – Lösung der Krise bereithält. Daher erfinden sich „Nothsüchtige“1 Dramen von Kämpfen mit übertriebenen Ungeheuern, vorzugsweise als Verschwörung von bestimmten Klassen, Rassen, Geschlechtern. Da aber die Wahrheit nur so lange gewährleistet ist, wie der Kampf mit den Fiktionen andauert, darf die permanente Vergeltung nicht aufhören: „[U]nd so malen sie das Unglück Anderer an die Wand: sie haben immer Andere nöthig! Und immer wieder Andere!“ (Ebd.) Der absolute Geist der agitierenden Not findet seine Wahrheit in der Moral des Unglücks. Lebenslust wird für ihn Arroganz und Lebenserfolge werden Ausbeutungen. Der unreflektierte Wille zum Schein vitalisiert sich in dem Schlechtmachen von Erfolgen und in dem Eintrüben von Lebenslust. Nietzsche nennt diese psychologische Weltmacht „Ressentiment“. Das gute Leben des Ressentiments wird zum Angriff auf das gute Leben.

Das psychologische Genie von Nietzsche erkennt aber in dieser Entwicklung nicht nur eine vertrackte Form einer toxischen Identitätspolitik, die sich um den Typus von „Selbst-Apostolat[en]“2 formiert, die die kritische Masse an Desorientierten zu Frustrierten anreichern. Nietzsches Hyperempathie versteht die Wahrheit in der ausgedachten Wahrheit der „Nothsüchtigen“ darin, dass sich in ihr ein Schein artikuliert, der das Leben motiviert. Nicht von der Wahrheit, aber vom Leben her gesehen, haben die Verschwörungstheoretiker recht. Die Wahrheit des Scheins ist die Lebendigkeit, die sie als eine „Betäubung von Schmerz durch Affekt3, als „Affekt-Medikation“4 gewährt. Heftige Gefühle der Vergeltung, der Rache, der Empörung schaffen es, das belastende Zwielicht einer unklaren Wahrheit aufzuhellen. Im „Lichtzwang“ (Paul Celan) der Anklage mit ihrem selbstsicheren „Entrüstungsgebell[s]“5 löst sich die moderne Ambivalenz auf. Eine leisere Form der moralinen Haltung findet sich in den stilvollen Negativismen Adornos, vor denen sich alles Identische im Lichte der seligen  Unerreichbarkeit des „Nichtidentischen“ verdunkelt und zum unsafe space wird. In beiden Fällen wird das Leiden an der fehlenden Wahrheit von einer Narration der Schuld kompensiert und damit in Sinn umgemünzt. Die Wunde wird Wahrheit. Aus ihrem Schmerz wächst die Wut. Die Parole des aktivistischen Ressentiments lautet: Die Welt wurde genug interpretiert, es kommt darauf an zurückzuschlagen. Das elende Kurierleben gewinnt eine königshafte Qualität in der Weitergabe von Meldungen, die eine versteckte Wahrheit entschleiern. Endlich können die ehemals entgeisterten Kuriere sich selber wieder wichtig nehmen als Sendboten einer universellen investigativen Ermittlung.  

IV. Kontingenztraining

Nietzsche begriff, als ehemaliger Wagnerjünger, der von einer „heiligen Theokratie des Schönen“ (Hölderlin) beseelt war, am eigenen Leib, dass die moderne Welt von einer Umformatierung ihres Wahrheitshaushaltes erschüttert ist. Der Schmerz der Unsicherheit, der daraus erwächst, ist nicht zu verleugnen. Fest steht für den postkunstreligiösen Nietzsche aber auch, dass die Tragik als Wahrheit nur eine Phase ist. Sie wird vorübergehen. Die Frage ist nur, wann es soweit sein wird: „Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln?“6

Nietzsches Vorschlag für eine Umstimmung der modernen Verstimmungen, die dem anonymen Advent des Endes aller Adventshoffnungen entgegenarbeitet, mündet in Skizzen, Ideen und Tönen für eine vornehme Art des Scheins, dessen Wahrheit das Leben immer wieder neu verklärt, für sich und für andere. In Nietzsches Denken wird daher „gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht“7, das eine neue Struktur der Wahrheit einübt. Aus der Tragik der fehlenden Wahrheit wird so kein Mythos einer universellen Verschwörung. Nietzsche versucht als „freier Geist“ den Humanismus als eine Art Gegenverschwörungs-Verschwörung neu zu animieren. Dass Gott tot ist, heißt auch, dass der Mensch auf eigene Faust in eigenen bedeutungsvollen Beziehungen leben und das Leben säkular heiligsprechen kann. Zumindest sollte er den Anstand und die Rechtschaffenheit besitzen, den Verführungen durch das allgegenwärtige Verlangen nach Ressentiment nicht nachzugeben. „Wohlan!“

Nietzsche Unterfangen schreckt aber durch den Anspruch ab, den es voraussetzt. Die Sinnkrise der Moderne wird darin nicht aufgelöst. Vielmehr soll das Absurde zum „Himmel Zufall“8 werden, in der der freie Geist seine Flugkünste als säkularer Engel der Postapokalypse absolvieren soll. Aus den Anfängen davon und aus der Verachtung für die ressentimen Erdungen entsteht eine andere Normalität. Die Krise des Sinns ist die Normalität der Kuriere, die genug haben von den allzubanalen Elendstönen der anderen Boten und von den ideologisch verklärten Aggressionen der ángeloi, die sich als Könige aufspielen. Für die königslosen Kuriere wurde Nietzsche zum Erzboten. Die letzte Utopie für Menschen, die mehr sein wollen als „letzte Menschen“: Kontingenz als Luft, die einen atmen und fliegen lässt. Dass darin ein Ethos des „gefährlich leben9 steckt, zeigte Nietzsches Schicksal. Er wurde zum Ikarus eines unlebbaren Übermenschentums.

Nietzsches Umstimmung der Wahrheitsverstimmung expliziert sich philosophisch, wenn eine ontologische Kehre im Verständnis von Wahrheit stattfindet, die sich in neuen Konzepten und Gefühlslagen auszudrücken lernt. Der Grund dafür liegt in der Deformation der Wahrheit durch das Konzept von Wahrheit als ein Geflecht, das eine absolut wahre Mitte kennt, die zu den Rändern hin ausstrahlt. Wahrheit als absolute ist das Unwahre. Mit Nietzsche über Nietzsche hinausgehen hieße, die Wahrheit des Scheins als ein Ausblenden von deprimierenden Wahrheiten und als eine Sinngebung des Schmerzes ontologisch expliziter zu formulieren. Wenn keine Mitte und kein Verlust einer Mitte eine vornehme Orientierung bietet und das Dasein nicht zur Freiheit als ewige Peripherie verurteilt ist, ist zu fragen, wie dichte und bedeutungsvolle Vitalität zu denken wäre. Kafkas elende und desorientierte Kuriere haben sich dafür selbst als faszinierende Innenwelten, als „Seele als Subjekts-Vielheit“10 zu entdecken, die ihre eigenen Netzwerke von Kurieren und Königen unterhält. Für die Kultivierung der Innenwelten sind die Begegnungen mit lebensbereichernden, postmonarchischen Mitkurieren essentiell. Das heißt, dass die Funktion der Mitte neu ersetzt wird. An ihre Stelle rücken Verdichtungen und starke Beziehungen. Dabei wird der Hang zum Absoluten enthärtet durch Ironie. Aus der Hierarchie von Mitte und Peripherie wird ein Rhizom von Rhizomen von pluralen Erregungszentren, die sich in ausdifferenzierten Sympathien stimulieren können. Die Kontingenz der Existenz kann dann als „Luxus der Kräfte“ angesehen werden, in der der Mangel an Evidenzen, Überzeugungen und Motivationen als „Laxität der Bestimmung“ die Bedingung der Möglichkeit für ein Erspielen von Wahrheiten darstellt.11 Damit kollabieren die mächtigsten alteuropäischen Wahrheiten. Das Sein als eine überfließenden Emanation einer optimalen Seinsmitte hin zu immer kläglicheren Rändern vergeht. Und es vergeht auch die Geschichte als Advent eines gerechten Heils in einer Endzeit. Dass Gott tot ist, heißt, dass die Geschichte und das Sein zu Ende sind. Nietzsche versucht eine neue frohe Botschaft in die Welt zu setzen. Sein alternativer Kosmos ist ein fluktuierendes, schöpferisches Vakuum, eine Wahrheit als eine sich selbst widerlegende Wahrheit, die, man höre und staune, im Jargon der heideggerschen Gelassenheit artikuliert wird: „Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall.“12  

Stabilisiert wird diese Pluralität der Azentralität durch eine Aktualisierung der Kardinaltugenden: Eine existenzielle, zu einer gütigen Selbstverachtung fähige Ironie, eine empathische Revisionierbarkeit, eine diplomatische Besonnenheit und ein nicht nur wirtschaftlicher Unternehmergeist halten das System der ausdifferenzierten Sympathien am Laufen. Zentral dafür ist ein neues Bildungsideal als philosophische antiressentime Redlichkeit, die sich immer wieder zu einer „Lust am Ungewissen, am Ungewagten“13 überreden kann. So wird aus dem Sorgenkind Erde eine Bühne von unwahrscheinlichen königlichen Erfahrungen, durch die es zur wahren Königin gekrönt wird, von der die intelligenten Kuriere nicht genug bekommen, sich Meldungen zuzurufen. Und die gekonntesten Meldungen werden selbst wieder zu Königen, von denen Meldungen erstattet werden. Das Prinzip der verantwortungsvollen Bewunderung lautet: Lebe so, dass die Wirkungen deiner Handlungen die Permanenz erzählenswerten Lebens auf Erden steigert.

Teil des neueuropäischen Kurierwesens zu werden ist allerdings, folgt man Nietzsche, an einen psychologischen Numerus clausus geknüpft. Er legt fest, dass die Qualifikation für königslose Kuriere, die den „Entschluss zum Lebensdienste“ (Thomas Mann)14 gefasst haben, darin besteht, sich selbst aufzuraffen zu einem interessanten, weitererzählbaren Leben. Neben einem guten Willen zu taktvollen Verklärungen von sorgenvollen Abgründen, ist dafür auch die Kunst der produktiven Selbstverachtung zu lernen. Ihre Kernkompetenz besteht darin, die „ekelhafte Fadheit meines disponiblen Daseins“15 auf eigene Faust antiressentim umzustimmen. Kontingenz ist keine Beraubung oder ein wesenhafter Mangel. Niemand ist letztlich vollends schuld daran, dass man von dem Gefühl durchzogen ist, jenseits aller Zugänge zu einer wesentlichen Wirklichkeit zu sein. Der Frust über die Kläglichkeit der eigenen Lage kann nicht mehr auf Andere abgewälzt werden. Statt der toxischen Unterhaltung der Vergeltung kann so die unsichere Suche nach Spuren von intelligentem, sympathischem Leben im All des eigenen Selbst und auf der Welt stattfinden. Aus dem Habitus des kritischen Bewusstseins mit seinen immer ausgefeilteren Verdächtigungen wird die verhaltene Neugier einer Schatzsuche im „disponiblen Dasein“. Der Aufklärungsdämmer könnte so den Schein einer Morgenröte erhalten, die noch nicht geleuchtet hat. „Wind kommt auf, versuchen wir zu leben.” (Paul Valéry) Was bleibt aber, stiftet das Trainieren und Flanieren.

Quellen

Sartre, Jean-Paul: Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1983.

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Zürich 1998.

Fußnoten

1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 56.

2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 256.

3: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 15.

4: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 16.

5: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 14.

6: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.

7: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 18.

8: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnen-Aufgang.

9: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 283.

10: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 12.

11:  Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 27. Brief, S. 527.

12: Also sprach Zarathustra, Der Genesende 2.

13: Also sprach Zarathustra, Von der Wissenschaft.

14: Vgl. zu diesem Motiv auch schon den Artikel Der Entschluss zum Lebensdienste auf diesem Blog (Link).

15: Sartre, Die Wörter, S. 131.

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins II

Nachdem Michael Meyer-Albert im ersten Teil seines Textes die, traurige, Geschichte von den Selbstzweifeln der Aufklärung erzählte, berichtet er nun von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ als Gegenentwurf.

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins I

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins I

16.6.24
Michael Meyer-Albert

Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.

Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.
„O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große verloren· so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln.”

(Hölderlin, Hyperion)

I. Im Schatten Gottes

Ein zeitgenössisches Denken besitzt die Form des Flanierens. Die Arbeit des Begriffs wird dabei beurlaubt und eine teilnehmende Wahrnehmung tritt an seine Stelle. Flanieren ist ein aktives Vergessen der Texte, dem sich, wenn es glückt, die Welt als der Versuch zu einem Essay neu entdeckt. Mitunter stößt man dabei aber auch auf wortwörtliche Funde. So wurde der Verfasser auf seinen aphilosophischen Weltstreifzügen neulich von einem Graffito überrascht. Auf einer wenig ansprechenden Leipziger Hauswand stand der folgende Spruch:

„Gott ist tot.“ (Nietzsche)
„Nietzsche ist tot.“ (Gott)

Man könnte diese tiefsinnige Lakonie auf Nietzsches legendärste Formulierung als eine elegant-trotzige anti-atheistische Antwort abtun, wenn darin nicht auch eine statistische Wahrheit stecken würde. Derzeit leben etwas mehr als acht Milliarden Menschen auf dem Planeten. Von ihnen gehören etwa 2,4 Milliarden der christlichen, zwei Milliarden der islamischen und gut eine Milliarde der hinduistischen Religion an. Knapp eine Milliarde Menschen sind überzeugte Atheisten. Rein statistisch gesehen müsste daher der dominierende Wahrheitsbegriff der Menschheit metaphysisch konstituiert sein. Auch im Jahr 2024 nach Christi Geburt sollte, folgt man den Daten, der Ausspruch von Jesus „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“1 zumindest eine Viertelwahrheit für die Menschheit bedeuten.  

Es lässt sich aber bestreiten, dass ein Verbleiben in den offiziellen Bindungen einer Religion gleichzusetzen wäre mit der Wirkungsmacht einer Religion. Für die westliche Hemisphäre und die Bereiche ihrer kulturellen Einflüsse hat sich ein anderer Wahrheitsbegriff etabliert. Nicht mehr eine religiöse Offenbarungswahrheit trägt hier die Kultur. Entscheidend ist einerseits die seit dem 17. Jahrhundert aufkommende Ausrichtung an wissenschaftlich geprüften objektiven Beobachtungsdaten und ihrem Siegeszug in technischen Apparaturen und andererseits das sich durch verschiedene Formen regulierende Gespräch der Subjekte als Mitsprache im öffentlichen Raum.

Diese Wahrheit jenseits einer göttlich formierten Wahrheit stellt allerdings einen epochalen Umbruch dar, dessen Wirkungen Symptome einer Krise zeigen. Den „transzendental obdachlos“ (Georg Lukács) gewordenen Subjekten zeigt sich die Welt als, wie Max Weber sagte, „entzauberte“. Nietzsche weist mit Blick auf den gesamten Zeitraum der Neuzeit daher auf eine sich beschleunigende Dezentrierung des Humanen hin, in der sich das Gefühl des Nihilismus ausbreitet: „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“2

Der Grund für den postkopernikanischen Nihilismus liegt für Nietzsche in den unausgestandenen und meist nicht einmal verstandenen Entwertungen von tragenden Verständnissen, die metaphysisch konstituiert waren: „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“3

Diesem Befund Nietzsches lassen sich unterstützend zwei weitere dunkle Wahrheiten anfügen. Die Wissenschaft zeigte sich spätestens mit den Atombombenabwürfen im August 1945 als verführbare Magd der Politik. Ihre seit der Neuzeit vollbrachten Leistungen, die negativ in der Neutralisierung von aufgeheizten theologischen Dogmenkämpfen bestand und welche sich positiv in der Entdeckung der Welt als erforschbarer Raum von Komplexität manifestierte, werden davon überschattet. Und auch der Glaube an die Wahrheit des Diskurses wurde eingetrübt. Seit den demokratischen Massenagitationen im Tugendterror der Französischen Revolution richtete sich gegenüber dem Wahrheitsbegriff der räsonierenden Öffentlichkeit der Verdacht der Herrschaft des Mobs auf. Alexis de Tocquevilles Wendung von der „Tyrannei der Mehrheit” und Heideggers Formulierung „Diktatur des Man“ weisen auf die irreversiblen illiberalen Potenziale auch der demokratischen Wahrheitsprozeduren hin.

Damit liegt über der Epoche der Globalisierung ein epistemologisches Zwielicht. Gott, die Wissenschaft und das Gespräch mögen nicht tot sein. Sie sind aber alle in der Stellung einer unhinterfragbaren Autorität angeschlagen. Die Zeit ist verurteilt zu einer unsicheren Gedankenfreiheit, die sich über kompetente Autoritäten selbst informieren muss. In ausdifferenzierter Komplexität wächst der Zwang, ein Experte in der Auswahl von Experten zu sein, die einen halbwegs über das informieren können, was ist. Was bleibt aber, stiften die Medien, denen man Glauben schenkt.

II. Könige und Kuriere

In den Tagebuchaufzeichnungen von Franz Kafka findet sich folgende aphoristische Parabel: Sie wurden vor die Wahl gestellt, Könige oder Kuriere zu sein. Nach Art der Kinder wollten sie alle Kuriere sein, deshalb gibt es lauter Kuriere. Und so jagen sie, weil es keine Könige gibt, durcheinander und rufen einander selbst ihre sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.4

Die Situation, die Kafkas kleines Stück beschreibt, verdeutlicht die Situation der chaotisch synchronisierten Medialwelt im globalen Zeitalter mit einer diskreten Erinnerung daran, was Medien in ursprünglichen Sinn waren. Damit ist nicht nur gemeint, dass Kafka das Verständnis von Medien von der Fixierung auf technische Apparaturen aufweicht. Technische Medien sind primär nur Verstärkungen der humanen Medialität. Menschen sind Boten, Abgesandte – altgriechisch „ángeloi“ – von Informationen und Passionen.

Kafkas Text zeigt aber auch, wie zentral für eine intakte mediale Hemisphäre der Glaube an die Teilnahme an Wesentlichem ist. Das moderne Vorurteil über diese Teilnahme liegt darin, dass sie unter einem kulturkritischen Verdacht steht. Das ist plausibel im Hinblick auf die hierarchische Ordnung der ältesten medialen Formationen. Kulturen waren von Anfang an geprägt durch Autoritäten, die mit dem Anspruch auftraten, dass durch sie das Göttliche rede. In der Form eines Priesterkönigtums legitimierten sie weltliche Macht durch geistige Nähe zum Überirdischen. Medien waren die Sendboten der objektiven Wahrheit und herrschten so von Gottes Gnaden.

Platons Konzept der Wahrheit besitzt insofern eine subversive Kraft, als es von den weltlichen Gottmedien verlangt fähig zu sein, ihre starke Beziehung nach ganz oben durch logische Kohärenz zu bezeugen. Statt der kryptischen Orakelworte und ihrem vermeintlich hohen Sinn versucht der philosophische Strukturwandel der Öffentlichkeit mediale Autorität durch Evidenz zu gewinnen. Statt der sozialen Macht soll der kompetente Sachverstand herrschen. Platons Philosophie beklagt den Fachkräftemangel in der Wahrheitswirtschaft. Kompetenteste Kompetenz solle daher dem „Philosophenkönig“ zugesprochen werden. Dieses Resultat des platonischen Nachdenkens weckt allerdings den Verdacht, etwas allzu pro domo zu sein. Darin liegt wohl einer der Gründe, warum es sich mit seiner politischen Marktreife schwer tat. Die erste Akademie wurde daher außerhalb der Stadtmauern Athens errichtet. Dass sie immerhin beinahe 1.000 Jahre (etwa 386 v. Chr. bis 529 n. Chr.) Bestand hatte, spricht für einen Standort der universitären Wahrheit als ferne Nähe zur Urbanität. Die Wahrheit der Agora und die Wahrheit der Akademie geraten durch eine wohltemperierte Distanz voneinander in eine produktive Spannung.

Kafkas tiefsinnige Parabel vergegenwärtigt nun eine Situation, in der Platons Konzept an seinem Erfolg zugrunde ging. Sie zeigt die Lage, die entsteht, wenn der emanzipatorische Schub von Platons Vorrang der Evidenz eine Autonomie freilegt, die die Kritik an allen höheren Autoritäten soweit treibt, dass das Konzept „Autorität durch Wahrheit“ insgesamt erschüttert wird. Keiner der Kuriere traut sich mehr zu, Sprachspiele von der Form „Königsworte“ zu spielen. Keiner will das Sagen haben, weil keiner ein hinreichender Experte ist. Ein Zuviel von philosophischer Reflexion lässt einen Abstand nehmen von der Idee eines Königtums, eines Philosophenkönigs und schon gar von einer Machtergreifung durch Selbstkrönung. Vollendeter Platonismus ist antinapoleonisch.  

Für die Erschütterung des Glaubens an Wahrheit gibt es plausible Gründe. Die Aufklärung zwang alles vor den Richtstuhl der Vernunft. Sie zersetzte dadurch den kanonischen Bestand an klassischen Orientierungen. Vererbt wird so nicht mehr eine traditionell aufgespannte Welt, sondern der Impuls, durch das autonome Denken selbstständige Welten zu erschaffen. Mit den Deformierungen, die in der Wissenschaft und in der Wahrheitsfindung der Öffentlichkeit im Laufe der Zeit zu Tage traten, kam die Vernunft nun selbst wieder vor den Richtstuhl der Vernunft.

Im Hinblick auf den Tugendterror links des Rheines versuchten die teutonischen Denker schon wenige Jahre nach der Französischen Revolution eine Neuausrichtung der Aufklärung anzudenken. Dabei erlangte die Kunst die Rolle einer Ergänzung des kalt kalkulierenden Verstandes. Nur sie löse die soziale Frage, wie die Aufklärung vor ihrer Verwirklichung in terroristischer Willkür zu immunisieren wäre. Schiller etwa war davon überzeugt, „dass man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“5 Erst eine erweiterte Charakter-Bildung macht aus Jakobinern Bürger. Die Veredlung des Menschengeschlechtes solle als ästhetisch forcierte „Ausbildung des Empfindungsvermögens“6 voranschreiten. Schillers Idee einer umfassenden Ästhetik mündete in dem Konzept einer schönen Politik. Verdorben wurden diese allzuschönen Ideen aber durch den realexistierenden Ästhetizismus des erhabenen Staates. Schiller war enthusiasmiert von der Möglichkeit einer sozialen Synthese durch die Freude: „Bettler werden Fürstenbrüder“ (An die Freude). Die Ernüchterung folgt durch die Realität, in der die Ernstfälle eine Mitsprache verlangen. Wenn eine Ernstfallpolitik regiert, dann kippt die Ästhetik des Sozialen in eine kitschige „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann). Im Mittelpunkt steht hier die heroische Aufopferung für das große Ganze. Im 20. Jahrhundert wütete in der Gestalt des Sozialismus und des Faschismus eine unschöne Politik des Erhabenen als neue Religion, die Aufklärung als letale Revolution verstand. Aus der Freude als Metaverfassung jedes Gemeinwesens wurde nun ein aggressiver Universalismus.

Mit diesen traurigen Resultaten begann die Aufklärung an sich selber zu zweifeln und zwar so sehr, dass sie sich selbst in Frage stellte. Weil die neuen Könige nur wieder Befehle und nicht Wahrheiten verbreiteten, flüsterten die Kuriere sich pausenlos die Botschaft zu, dass die da oben wohl alle nur Betrüger wären. Und zugleich verbreiten einige Kuriere das Gerücht, dass womöglich jedes Worthaben immer nur als herrische Macht und nicht als Macht der Kompetenz zu verstehen sei. Diese unfrohen Botschaften ersetzten das Königswort und gaben eine niederschmetternde, aber immerhin Halt verleihende Teilhabe an Wahrheit. Die Aufklärung fand so in immer feineren Kritiken an sich – zur Freude aller Fanatiker und Charismatiker des Autoritären – eine neue Sicherheit: „Aufklärung ist totalitär.“7 Komplementiert wurde diese dunkle Wahrheit durch eine negative Ästhetik, die die Erfahrung des „Nichtidentischen“ als einzigen Ausweg andeutet.

Nietzsches Denken versucht, diese Aufklärungsdämmerung in eine Philosophie der Morgenröte umzuwerten. Dafür setzt er an bei einer Rehabilitation von Schillers Idee einer Wahrheit der Kunst. Sein Ansatz liegt darin, dass er die Aufklärung über die Aufklärung um eine weitere Reflexionsstufe vorantreibt. Wenn Vernunft sich selbst vor den Richtstuhl der Vernunft stellt und sich in immer neuen hermeneutischen Zirkeln des Verdachtes immer hermetischer demontiert, warum nicht diese Spirale des Selbsthasses umkonfigurieren? In Nietzsches Denken wird so das Stellen der Vernunft vor den Richtstuhl der Vernunft insgesamt wieder vor den Richtstuhl der Vernunft gestellt. Kunst als „Kultus des Unwahren“ gewinnt als „gute[r] Wille[] zum Scheine“7 eine Bedeutung, die der Aufklärung neues Leben einhauchen soll. Auch wenn niemand mehr ein König ist, so gibt es immer noch das Königliche als Effekt einer noblen Lüge zur Vitalität. Wenn der Glaube an alle großen Wahrheiten verloren ist, so kann das Glauben an die Größe des intelligenten Lebens zu einer erhaben-schönen Wahrheit werden. Darin liegen politische Implikationen: Die Heroik des Erhabenen wird in einer ausbalancierten Sozialästhetik zu einer Bildungsoffensive entschärft, die an sich selbst arbeitet. Und die Politik der Freude findet ihren Realismus in einem Engagement für ein Ganzes als ein kooperatives System, das Freiräume eröffnet. Was wird aus Kurieren, wenn es keinen König und keinen Selbstmord braucht, sondern eine epistemologische Form der Ironie, damit sich ihr elendes Leben ändern kann?

Link zu Teil 2

Quellen

Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2004.

Kafka, Franz: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: Max Brod & Hans Joachim Schoeps (Hg.): Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass. Berlin 1931, S. 225 – 249 (online).

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Zürich 1998.

Fußnoten

1: Mt. 11, 27; Joh. 10,9; Röm. 5,1; Hebr. 10,20.

2: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 25.

3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 108.

4: Vgl. Kafka, Betrachtungen, S. 234.

5: Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 2. Brief, S. 405.

6: Ebd., 8. Brief, S. 430.

7: Adorno & Horkheimer, Dialektik, S. 12.

8: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 107.

Aufklärungsdämmerung

Nietzsches Wahrheit des Scheins I

Nietzsches bekannteste Formulierung, wonach Gott tot sei, zeigt nicht nur eine antireligiöse Stoßrichtung. Sie weist vor allem darauf hin, dass in der Moderne konstitutive Selbstverständlichkeiten keine traditionelle Geltung mehr besitzen. Indem das kulturelle Verständnis von Wahrheit ins Wanken geraten ist, ist nicht nur diese oder jene Wahrheit fraglich geworden, sondern das Verständnis von dem, was überhaupt Wahrheit ist. Damit gerät die Aufklärung unter den Druck, die Fragen zu finden, auf die sie die Antwort sein soll. Es ist dieser Abgrund einer unheimlichen Fraglichkeit, aus dem Nietzsches Denken versucht, Auswege zu zeigen, die lebbar sind. Im ersten Teil seines Textes Aufklärungsdämmerung erzählt Michael Meyer-Albert vom aufgeklärten Zweifel der Aufklärung an ihr selbst.

Nietzsche und die Musik

Nietzsche und die Musik

9.6.24
Christian Saehrendt

Für kaum einen anderen Philosophen hatte die Musik eine so große Bedeutung wie für Nietzsche. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“1, schrieb er. Christian Saehrendt geht für Nietzsche POParts der Frage nach, wie sich diese hohe Wertschätzung der Klangkunst in seinem Leben und Werk manifestierte. Er kommt dabei auf Nietzsches eigene Kompositionen ebenso zu sprechen wie auf einen der ikonischsten Aspekte seines Lebens: seine Freundschaft mit Richard Wagner. Er zeigt, dass die Musik für Nietzsche eine geradezu erotische Bedeutung hatte – und er in dieser Hinsicht gar nicht so „unzeitgemäß“, sondern ein typisches Kind seiner Zeit war.

Für kaum einen anderen Philosophen hatte die Musik eine so große Bedeutung wie für Nietzsche. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“1, schrieb er. Christian Saehrendt geht für Nietzsche POParts der Frage nach, wie sich diese hohe Wertschätzung der Klangkunst in seinem Leben und Werk manifestierte. Er kommt dabei auf Nietzsches eigene Kompositionen ebenso zu sprechen wie auf einen der ikonischsten Aspekte seines Lebens: seine Freundschaft mit Richard Wagner. Er zeigt, dass die Musik für Nietzsche eine geradezu erotische Bedeutung hatte – und er in dieser Hinsicht gar nicht so „unzeitgemäß“, sondern ein typisches Kind seiner Zeit war.

Zwischen Philologie und Kunst, zwischen Wort und Musik hin- und hergerissen, ist auch Nietzsche nicht gefeit vor der zeittypischen sakralen Überhöhung der Kunst. Er wird Fan von Richard Wagner und versucht sich selbst zeitweilig als Hobby-Komponist. Für Nietzsche, den „nicht zustande gekommenen Komponisten“ – eine Gustav Mahler zugeschriebene Bezeichnung – war die Musik zwar ein wesentliches Thema seines Lebens, doch als Berufung, als Waffe und Werkzeug wählte er dann doch das Wort.

Kunst und Künstler standen im Mittelalter und zum Teil bis in die Neuzeit im Dienst der Religion. Die Kirche fungierte als Auftraggeberin, die Künstler und Musiker hatten Klöster und Kathedralen mit Bildwerken auszuschmücken oder den Gottesdienst mit Kompositionen zu bereichern. Der Künstler war demgemäß ein (anonymes) Werkzeug Gottes. Je besser ihm seine Werke gelangen, umso größer war die Gottesliebe, die in ihnen zum Ausdruck kam. Die Ansicht, dass alle große Kunst Lobpreisung Gottes sei, ist sogar noch bis in die Moderne hinein vertreten worden, etwa von dem katholischen Schriftsteller Marcel Proust. Auch Nietzsche sieht in jungen Jahren die Musik vor allem als Geschenk Gottes:

„Ewig Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuß uns darbiete“, schrieb Nietzsche 1858 als knapp Vierzehnjähriger:

Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach oben geleitet werden. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann erheben, sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften, wehmütigen Tönen das roheste Gemüth zu brechen. Aber ihre Hauptbestimmung ist, daß sie unsre Gedanken auf Höheres leitet, daß sie uns erhebt, sogar erschüttert.2

Musikalische Schulzeit Nietzsches: Blick in den Innenhof von Schulpforta. Foto: Christian Saehrendt 2015.

Die neue Kunstreligion im 19. Jahrhundert

Die Lobpreisung Gottes ging in der Zeit der Romantik in eine hymnische Verehrung von Natur und Kunst über. In der Verehrung von historischen und gegenwärtigen Meisterwerken huldigte man nun einem zwar menschlichen, aber in unerreichbarer Ferne weilenden Genie. Kunstandacht und Kunstenthusiasmus waren jetzt Ausdruck einer quasi-religiösen Kunstverehrung. Ein bekanntes Beispiel dafür bildete die Aufsatzsammlung Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenröder und Ludwig Tieck. Sie erzählten die Lebensgeschichten „der großen gebenedeiten Kunstheiligen“ im Stile von Hagiografien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch als Folge der Französischen Revolution, verbreitete sich die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Gemeinschaft. Das Vertrauen auf emotionale Verbundenheit führte zu einer neuen Wertschätzung der Gefühle. Schon in der Endphase des Ancien Régime war eine Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung entstanden. In Deutschland „Sturm und Drang“ genannt, wendeten sich die Romantiker gegen höfische Autorität und steife formale Traditionen und stellten stattdessen das persönliche Fühlen und Erleben in den Vordergrund. Man zelebrierte nun die Innigkeit und die schwärmerische Wohlgewogenheit als treibende Kräfte des Privatlebens und der Freundschaft. Die Liebesheirat wurde zum bürgerlichen Ideal, aber auch befreundete Männer umarmten und küssten sich innig, schrieben sich sentimentale Briefe und schworen sich ewige Treue. Was in der aristokratischen Hofkultur nach französischem Vorbild noch undenkbar gewesen wäre, kam in den folgenden Jahrzehnten in Theater, Musik und Literatur groß in Mode. In der damaligen großen Popularität der Oper ist laut Nietzsche der Protest des Laien „gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen“, die mit der „wiedererweckten Polyhymnia“ wieder eine Seele bekommen sollte: „Ohne jene tiefreligiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst erregten Gemüts wäre die Musik gelehrt geblieben.“3 So bildeten die Kultivierung der Gefühlswelt, eine nunmehr ausdrucksstarke, authentische Sprache und eine spirituell grundierte Kunstverehrung die Grundlagen der neuen ‚Kunstreligion‘ des 19. Jahrhunderts. In ihr übertrug sich das spirituell-religiöse Bedürfnis des Bürgertums auf die Künste, allen voran Oper und Symphonie, in zweiter Linie Theater und Ballett, gefolgt von der Dichtung und bildenden Kunst. Nietzsche erkannte die Tragweite dieser historischen Tendenz: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selbst tiefer, seelenvoller …“ Nach Nietzsche ist die Religion aber stärker als die Kunst, nicht umgekehrt, wie manche säkularen Kulturmenschen es sich wünschen: „Der zum Strome angewachsene Reichtum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern.“ Zum Schwemmland der Religion, gehöre, so Nietzsche, neben Politik und Wissenschaft eben vor allem die Kunst: „Überall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuten, daß Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängengeblieben sind.“4

Im Rahmen jener zeittypischen religiösen Ergriffenheit, die das Kulturleben erfasst hatte, avancierten Oper und Theater in ‚Gesamtkunstwerk‘-artiger, multisensualer Inszenierung zu den künstlerischen Königsdisziplinen. Renommierte Komponisten und Virtuosen wurden als Genies verehrt wie Stars behandelt. Parallel zu dieser schwärmerischen Stimmung im Kultur- und Gesellschaftsleben veränderte jedoch ein knallharter Kapitalismus die Welt. Die Naturwissenschaften, vor allem die Biologie und die Medizin, erlebten einen starken Aufschwung. Gegen die nun rasch fortschreitende Profanisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlicher Bereiche wurde die neue Kunstreligion ins Feld geführt. Einer ihrer Propheten war Richard Wagner. Bald polarisiert der Wagnerianismus als neue quasi-religiöse Bewegung die Öffentlichkeit, und der junge Nietzsche schließt sich begeistert an. Nach einem Konzertbesuch im Herbst 1868 – das Tristan-Vorspiel und die Meistersinger-Ouvertüre standen auf dem Programm – wechselt Nietzsche gänzlich ins wagnerianische Lager. Nietzsche lernt Wagner in Leipzig persönlich kennen, und er besucht ihn in seinem Haus bei Luzern innerhalb der nächsten drei Jahre 23 (!) mal – Hochphase jener „Sternenfreundschaft“, auf die Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft anspielte.5 Auch Wagner schätzt den 31 Jahre jüngeren Verehrer. 1872 resümiert er: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt.“6

Möglicherweise hat Wagner seinen jungen Fan von Beginn an und mit langfristigem Kalkül instrumentalisiert. Nach Werner Ross heuert Wagner Nietzsche de facto als akademisches PR-Zugpferd an und sorgt dafür, dass er eine Professur in Basel erhält. Wagner braucht einen Intellektuellen, der die Hochwertigkeit seines musikalischen Projekts beglaubigt. Er nutzt seine junge Frau Cosima, um Nietzsche durch viele und lange Briefe bei Laune zu halten. Nietzsche lobt in Vorträgen und in seiner ersten Publikation Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Wagner in den Himmel, sieht ihn als einen mit Luther vergleichbaren „Reformator“ und Erneuerer der dionysischen griechischen Kultur. Wagner sieht sich selbst in einem Brief an Nietzsche als „verhinderten Philologen“, während er Nietzsche als „verhinderten Musiker“ beschreibt. Wagner diktiert Nietzsche die Arbeitsteilung der beiden: „Nun bleiben Sie Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigieren zu lassen.“7 Nietzsche erfüllt den Auftrag, indem er postuliert, das griechische Drama sei aus einer ursprünglichen dionysischen Musik entstanden. Diese sei zwar durch Sokrates und Co. zerstört worden, doch dank Wagners Genie sei es nun nach 2.000 Jahren möglich, an diese ursprünglichen Traditionen wieder anzuknüpfen. Die Geburt der Tragödie, das erste bedeutende Werk Nietzsches, enthielt ein Vorwort an Richard Wagner und war ihm explizit gewidmet. Nietzsche stellte ihn damals als möglichen Neubegründer einer der griechischen vergleichbaren Kultur dar und distanzierte sich als bekennender Wagnerianer zugleich von der wissenschaftlichen Philologie. Dadurch ist seine weitere wissenschaftliche Karriere blockiert – als Philologe ist Nietzsche fortan ruiniert. Die von Anfang an fragile und mit Erwartungen aufgeladene Freundschaft bestand zehn Jahre und schlug schließlich in scharfe Kritik um:

Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. […] Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! […] Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten.8

Musikalische Leistungen und Musikkritik

Die Kunst steigt im 19. Jahrhundert in ungeahnte Sphären, die bislang dem Sakralen vorbehalten waren. Zugleich entfaltet sich aber auch die moderne Musikkritik. Die Musik ist damals möglicherweise auf dem Höhepunkt ihrer historischen Wertschätzung angelangt – sowohl im sinnlichen Erleben wie als Gegenstand analytischen Denkens. Vor diesem Hintergrund ist auch Nietzsches Denken über Musik zu betrachten. Zeitlebens, aber ohne Systematik, befasst er sich mit musiktheoretischen Erörterungen. Auch Wagners Wirken sieht er zunehmend kritisch – und widmet ihm eine glänzende Polemik: „Mein grösstes Erlebniss war eine Genesung. Wagner gehört bloss zu meinen Krankheiten.“9 Auf der praktischen Ebene betätigt sich Nietzsche von Kindheit an als veritabel talentierter Pianist, ebenso startet er Versuche als autodidaktischer Komponist. Neben eher konventionellen Liedkompositionen seiner Jugendzeit sind seine späteren Manfred-Meditationen von Belang, die unter dem Eindruck Wagnerscher Musik entstanden und wohl auch zur Aufführung vor Wagner bestimmt waren. Allerdings machte Nietzsche den Fehler, Hans von Bülow, den Komponisten und Wagner-Dirigenten, um ein fachliches Urteil zu bitten. Dieses fällt unwirsch aus: „Eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis.“10 Tatsächlich zeigen die Kompositionen Nietzsches wenig Innovatives, das auf eine Musik der Zukunft verweisen könnte. Als Musiker bleibt Nietzsche eher konventionell. Es verwundere nicht, resümierte einmal die NZZ,

dass Nietzsche, der sich in Briefen rühmte, es habe noch nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade und bis zu dem Grunde Musiker war wie ihn selbst, durch seine musikalischen Überzeugungen kaum gewirkt hat. Heute, über hundert Jahre nach seinem Tod, ist der Philosoph Nietzsche eine europäische Geistesgrösse von unbestreitbarer Geltung, der „nicht zustande gekommene Komponist“ Nietzsche eine historische Episode.11

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Was hat ihm Musik wirklich bedeutet?

Es gibt zahlreiche Bekenntnisse Nietzsches zur Musik – vor allem in seiner Jugend, aber auch in den letzten bewussten Lebensjahren. Doch wie intensiv Nietzsche die Musik wirklich wahrgenommen hat, bleibt letztlich offen. Was schätzte er an Musik besonders?

War es der reine Klanggenuss, quasi ein rein formales, konkretes Musikerleben? Oder sorgte nicht eher die religiöse Aufladung des Musikhörens für Erhabenheitsgefühle? War also die Verknüpfung des Musikhörens mit Vorbildung, mit Texten (Poesie) und mit geschichtlich-religiösem Kontext entscheidet für den Genuss? „Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres“, schreibt Nietzsche, sondern erst die Poesie habe „so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, daß wir wähnen, sie spräche direkt zum Innern und käme aus dem Innern.“ Erst der Intellekt habe also „die Bedeutsamkeit in den Klang hineingelegt.“12 Manche heutige Autoren mutmaßen zwar, die Musik habe ihm ermöglicht, tiefere Schichten des unbewussten Fühlens zu erreichen sowie auszudrücken.13 Doch diese positive Haltung in seiner Jugend wird aber bald vom Leiden am Gegensatz von Wissenschaft und Kunst überstrahlt. Nietzsche sieht die Notwendigkeit, „sich aus raschen Gefühlswechseln künstlerischer Neigungen in den Hafen der Objektivität zu retten“, wie er in einem autobiographischen Rückblick aus der Zeit um 1868 schreibt.14 An anderer Stelle notiert Nietzsche: „[N]ur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz“15 Er versucht diesen quälenden Gegensatz durch seine Thesen im Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie zu überwinden. „Als Musiker ist Nietzsche gewiss generell Romantiker“, beschreibt Curt Paul Janz Nietzsches Dilemma, doch nachdem er „als Denker die Romantik, die romantische Musikkritik Schopenhauers zu überwinden beginnt, muß er als Musiker verstummen und sich von Wagner entfremden.“16

Von Nietzsches Sexualleben und von seiner sexuellen Orientierung ist wenig bekannt. Es ist durchaus denkbar, dass die Erregung durch Musik bei ihm auch eine erotische Komponente hatte. Einmal notiert Nietzsche ein „Ranking“, was ihm am meisten Lust bereitet. Platz eins: „musikalische Improvisation in guter Stunde“, danach: das Hören bestimmter Stücke von Beethoven und Wagner, drittens: Nachdenken bei Vormittagsspaziergang, als viertes kommt „Wollust“, damit endet die Liste. „Wenn er die Wollust des Geschlechtsaktes – nicht die des Begehrens – fürchtet und flieht, so erlebt er umgekehrt seine Musik und das erfinderische Schweifen seines Geistes wollüstig, mit sinnlicher Intensität,“, folgert Werner Ross in seinem Buch Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos.17  

So sind es offenbar drei Energiequellen, die Nietzsches Liebe zur Musik aufladen und intensivieren: die Religion, die Poesie und der Eros. Musik und die anderen Künste brauchten laut Nietzsche eine besondere „physiologische Vorbedingung“, den Rausch, besonders den „Rausch des Festes“18.  Erst aus dem Zustand der Erregung, in dem das klare Denken, das rationale Bewusstsein ausgeschaltet oder gedämpft wurden, kann sich nach Nietzsche die Kreativität ungehemmt entfalten. Weiter gedacht: Die im Rausch erschaffenen Kunstwerke sind dann besonders gute und gelungene Kunstwerke, wenn sie die Betrachter und Hörer ihrerseits in einen rauschhaften Zustand versetzen können. Nietzsche zeigt sich offensichtlich ganz begeistert vom Rausch und seinen zahlreichen Varianten. Er schwärmt vom „Rausch der Geschlechtserregung“, aber auch vom „Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch in der Zerstörung“. Das Motiv für die auffällige Lobpreisung allerlei dionysischer Ausschweifungen mag in seiner Erziehung zu suchen sein, vor allem aber im Mangel an tatsächlich erlebten „Ausschweifungen“. Hier bot das Musikerlebnis sicher auch eine Möglichkeit der Sublimation. Und so diente ihm das Reich der Musik als Überlaufbecken für die mächtigen Hochwasser der Triebe und Gefühle.

Literatur

O. A.: Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum. Online: https://www.nzz.ch/articleDLWL3-ld.38202.

Figl, Johan: Festtagskult und Musik im Leben des jungen Nietzsche. In: Günther Pöltner e. a. (Hg.): Nietzsche und die Musik. Frankfurt a. M. 1997, S. 7–16.

Janz, Curt Paul: Nietzsches Manfred-Meditationen. In: Günther Pöltner u. a. (Hg.): Nietzsche und die Musik. Frankfurt a. M. 1997, S. 45–79.

Nietzsche, Friedrich: [Aus den Jahren 1868/69]. In: Werke in drei Bänden. München 1954, S. 148–154.

Ders.: Über Musik, in: Aus meinem Leben (1858). Online: http://www.thenietzschechannel.com/works-unpub/youth/1858-fmlg.htm.

Ross, Werner: Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos. Stuttgart 1994.

Fußnoten

1: Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, Aph. 33.

2: Über Musik.

3: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 219.

4: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 150.

5: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 279.

6: Zit. n. https://www.wagner200.com/biografie/biografie-1866-1870-exil.html.

7: Zit. n. Werner Ross, Der wilde Nietzsche, S. 59.

8: Die Fröhliche Wissenschaft, Aph. 279.

9: Der Fall Wagner, Vorwort.

10: Zit. n. Curt Paul Janz, Nietzsches Manfred-Meditationen, S. 52.

11: O. A., Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum.

12: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 215.

13: Vgl. etwa Johan Figl, Festtagskult und Musik im Leben des jungen Nietzsche, S. 12.

14: [Aus den Jahren 1868/69], S. 148.

15: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Abs. 1.

16: Janz, Nietzsches Manfred-Meditationen, S. 47.

17: S. 114.

18: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 18.

Nachweis zum Beitragsbild

Jens Fläming, Es tanzt ein Nie-Na-Nietzschemann. Öl auf Leinwand, 1984. Sammlung Nietzsche-DokumentationszentrumNaumburg. (Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.)

Nietzsche und die Musik

Für kaum einen anderen Philosophen hatte die Musik eine so große Bedeutung wie für Nietzsche. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“1, schrieb er. Christian Saehrendt geht für Nietzsche POParts der Frage nach, wie sich diese hohe Wertschätzung der Klangkunst in seinem Leben und Werk manifestierte. Er kommt dabei auf Nietzsches eigene Kompositionen ebenso zu sprechen wie auf einen der ikonischsten Aspekte seines Lebens: seine Freundschaft mit Richard Wagner. Er zeigt, dass die Musik für Nietzsche eine geradezu erotische Bedeutung hatte – und er in dieser Hinsicht gar nicht so „unzeitgemäß“, sondern ein typisches Kind seiner Zeit war.

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

27.5.24
Lukas Meisner

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.
Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.1

Anhand dieses Zitats wird, entgegen allen hermeneutischen Gerüchten, deutlich, dass sich Nietzsche gut als Kapitalismuskritiker eignet. Mehr noch – und das dürfte die akademischen Geister nun vollends verwirren – verteidigt Nietzsche in ihm die Vernunft gegens Kapital. Der Bankier ist unvernünftig, weil das einstige Mittel, Geld, ihm zum Selbstzweck, Kapital wurde, womit eine Inversion von Mittel und Zweck, kurz: Entfremdung, stattfand. Geld jedoch kann man nicht essen, woran schon der Mythos von König Midas gemahnt; Gewinnstreben folglich wird zum lebensabgewandten Wahn, der kollektiv die Atomisierten befällt. Der Bankier ist damit ein Repräsentant der Unvernunft und der Leibesferne gleichermaßen, wie einstmals nur der Priester es war – was sich auch an den Auswirkungen des Finanzmarkts als neuer Kultstätte ablesen lässt. Die vermeintlich – mit dem Nietzscheaner Max Weber gesprochen – rationalste bzw. rationalisierteste Verkehrsform der Gesellschaft ist für Nietzsche damit im Herzen unvernünftig, eben weil sie gegen das Leben gewandt ist. Weiter mit Weber: Zweckrationales Handeln als solches, das sich von substanzieller Vernunft verabschiedet hat, wird irrational, weil es sich, von der Frage nach Möglichkeit und Ziel abgeschnitten, in der eigenen Funktion verfängt und nur mehr nach Gespenstern jagt. Es ist ersichtlich: Nietzsche war nicht nur Zeitgenosse Marxens, sondern kritisierte auch dieselbe Gesellschaft wie jener, nämlich die kapitalistische. Mehr noch kann er uns heute dazu verhelfen, so manche marxistische Einsicht weiter zu vertiefen. So wies er beispielsweise nach, wie hinter dem vermeintlichen Egoismus seiner Klasse – der Repräsentanten protestantischer Ethik – letztlich das Super-Ego der Ichschwäche steckt, und wie der zur Schau gestellte Luxus der Oberschicht, da diese hinter ihrer Performance alle Persönlichkeit verliert und dergestalt menschlich verarmt, zur Askese herabkommt. Hier, nicht zuletzt, setzte Freuds Rezeption Nietzsches an, die ihn jedoch bürgerlich zurückübersetzte: In die absolute Notwendigkeit des Verzichts für alle Kultur. Nietzsche dagegen steht gerade für eine Kultur des Leibes und eine Kultivierung der Lust statt deren Unterdrückung, wobei diese gleichsam, als „große Gesundheit“ (Nietzsche), Vernunft miteinschließen muss, statt von ihr verstoßen zu bleiben.  

Was im Eingangszitat als die „Dummheit der Mechanik“ bezeichnet wird, lässt sich insofern auch marxistisch als „automatisches Subjekt“ begreifen, als welches das Kapital fungiert. Unter seinem Bann dient nicht die Wirtschaft uns, sondern wir ihr, weshalb wir auch nicht arbeiten, um zu leben, sondern leben, um zu arbeiten. Die Welt kurzum steht Kopf, weil sie kopflos ist, d. h. von anonymer Struktur beherrscht. Das Ergebnis: „Sklavenmoral“ grassiert, und zwar überall, alle betreffend, besonders beherrschend jedoch die Herrschenden, die Erfolgreichen, die Schönen, Mächtigen und Starken, denn die sind am tiefsten verstrickt ins falsche Bewusstsein ihrer Erhabenheit, die, dem ungeachtet, doch bloßer Schein bleibt. Gegen diesen Schein argumentiert das Eingangszitat, dass auch Lohnsklaverei noch Sklaverei ist, dass die Moderne nicht so freiheitlich ist, wie sie sich gibt, und dass Staatsmänner, Kaufmänner, Beamte, Gelehrte – d. h. die „hohen Tiere“ aus Politik, Wirtschaft, Staat und Kulturbetrieb – nicht minder Sklaven sind als ihre einstigen Pendants der griechischen Antike. Die vermeintlich nietzscheanische, im Eigentlichen Schumpeter’sche, Anbetung des Unternehmers als Genie, als Schöpfer, als heroisches Individuum erfährt in Nietzsche selbst somit eine peinliche Widerlegung: Gerade hinter der Feier der Individualität steckt das dividuelle Prinzip, denn die Persona, noch jene der Macht, ist, der lateinischen Wurzel des Wortes entsprechend, bloße Charaktermaske, und impliziert damit die tiefe Ohnmacht jener Menschen, die sie zu tragen haben. Aus diesem Blickwinkel wird Nietzsche zu einem Entfremdungstheoretiker par excellence. Wie gegen seine modernistischen Schüler Freud, Weber oder Joseph Schumpeter muss er, um zu werden, wer er ist, jedoch auch vor seinen anderen, späteren, postmodernen Epigonen verteidigt werden – ganz, wie Adorno einst Bach „gegen seine Liebhaber“ zu verteidigen hatte. Wie es einst, Bataille zufolge, galt, Nietzsche vor den Faschisten zu bewahren, so gilt es heute, ihn vor seiner weiteren Eingemeindung in die postmoderne Ideologie zu beschützen. Dies bedarf durchaus einer rettenden Kritik – hier soll es jedoch vor allem darum gehen, die emanzipatorischen Aspekte des Nietzscheschen Denkens herauszustellen.

Klarzustellen bleibt hierfür, dass, worauf Nietzsche in der Lesart der Poststrukturalisten weitgehend reduziert wurde – Tod des Subjekts, Transhumanismus, Postkritik –, ihn nicht nur massiv verkürzt, sondern vollends verkehrt. Gehen wir die Schwundstufen des postmodernen Nietzscheanismus kurz durch, die jene Verkehrung popularisiert haben. Statt als Totengräber des Subjekts lässt sich Nietzsche, gerade jener der mittleren Periode, weit überzeugender als Individualist, Existenzialist oder Anarchist verstehen, dem, romantisch geprägt, kaum etwas wichtiger ist als qualitative Individualität, selbst-bewusste Resistenz und ichstarke Devianz – d. h. als all das, was Postmoderne verabscheuen, verleugnen bzw. im toten Winkel der Geschichte zu entsorgen versuchen. Ebenso fordert Nietzsche einen neuen Menschen, der sich seine eigenen Ziele selbst steckt, statt, in ein geupdatetes Jenseits zur Menschheit abgeglitten – d. h. transhumanistisch an die Hinter-Welten raunender Theo- bzw. Technokratie und ihrer Theodizee verloren –, den letzten Menschen als ziellosen, willenlosen, frei collagier- und programmierbaren Frankenstein zu vergötzen. Und auch die Postkritiker, die sich auf Nietzsche berufen, sind zurückzuweisen, lassen sich seine Aphorismen doch kaum anders, denn als solche eines begnadeten Kritikers und stilsicheren Polemikers verstehen. Diese Wahl der Form hat überdies inhaltliche Gründe. Die nietzscheanische Affirmation des Lebens schließlich erfordert die Negation eines ganzen Ressentiment-Systems, das nur im Vergleichen, Konkurrieren, Besiegen den eigenen Wert sieht und erst in der Abwertung der anderen die eigene Aufwertung mobilisiert. Wer kurzum das Leben liebt, muss die lebensfeindlichen Kräfte hassen; wer es bejaht, muss diese verneinen; wer leben will, kritisiert. Damit sind Affirmation und Kritik eine Dialektik, statt, wie die fröhlichen Zyniker der Postkritik es sich einreden, Antipoden zueinander. Kurzum, Nietzsche ist kein Totengräber des Subjekts, kein Transhumanist und kein Postkritiker, sondern deren leibgewordene Negation, gerade weil er die Affirmation des Lebens so ernst nimmt.

Entgegen postmoderner Neuformatierungen Nietzsches ist dieser vielmehr als kapitalismuskritischer Entfremdungstheoretiker lesbar, der, zutiefst christlich sozialisiert, damit nicht zuletzt – wie auch Marx – in der Tradition eines Ludwig Feuerbach steht. Nicht trotz, sondern gerade wegen ausgiebigen Hegelrügen dem Junghegelianismus verwandt, sieht Nietzsche in der kapitalistischen Moderne – zu der die Postmoderne als décadence des letzten Menschen und seiner Sklavenmoral selbstverständlich dazugehört – die Metaphysik am Werk, und zwar von der modernen Wissenschaft bis zur modernen Ökonomie. Während erstere sich szientistisch zur einzigen Wahrheit aufspreizt, um ihre positivistischen Verkürzungen zur absoluten Wesensschau des Universums zu deklarieren, ist letztere nie nur politische, sondern immer schon moralische Ökonomie. Denn Schuld und Schulden, finanzielle und ethische Negativbilanz, sind für Nietzsche nicht voneinander zu trennen, wie er in seiner Genealogie der Moral verdeutlicht. Damit ist Kapitalismus als Religion zu verstehen, wie Walter Benjamin betonte, und nicht als schon vernünftiges oder aufgeklärtes System. Moderne Ökonomie und Wissenschaft, Kapitalismus als Religion und szientistischer Positivismus werden darüber hinaus mittels moderner Technologie zur Naturausbeutung verbunden, die innere wie äußere Natur gleichermaßen verheert.

In ihnen allen zusammen sieht Nietzsche eine realnihilistische Gewalt am Werk, deren Negation des Lebens nur die Selbst- und Neubestimmung des Menschen jenseits seiner Entfremdung stoppen könnte. In diesem Sinn denkt er antikapitalistisch, ja, mitunter über den gleichermaßen materialistischen Marx hinaus, da er sich die Frage der Subjektivierung kapitalistischer Objektivität zentral stellt. Nietzsches Antwort: Der Idealismus, seine Realabstraktionen und sein „Identitätsprinzip“ (Adorno), die im Tauschwert des Kapitals und in der Selbstzwecklogik des Kapitals angelegt sind, erzeugen in ihren Subjekten drei Tendenzen – eine zum Positivismus, eine zum Nihilismus und eine zum Moralismus. Alle drei sind erst zusammen zu verstehen, und Kulturkritik gibt es nur als solche, die politische als moralische Ökonomie in sich involviert – d. h. als dezidierte Kapitalismuskritik.

Marxens Version dieser Kritik ist sicherlich die am weitesten entwickelte, komplexeste und wichtigste bis in unsere Zeit. Doch Nietzsche kann sie ergänzen, indem sein Werk zeigt: Auch der Positivismus ist eine Form der Entfremdung, des verdinglichenden Denkens, und zwingt Wissenschaft, indem sie verbürgerlicht wird, in den Szientismus. „Wissenschaftlicher Sozialismus“ erhält so eine andere, eine ambivalentere Bedeutung. Der Nihilismus wiederum lässt sich als Subjektivierungsform des Spätkapitalismus begreifen, nachdem das Kapital die einstigen bürgerlichen Werte unter der eigenen Entwicklung vergrub, sodass sich nihilistische Antibürgerlichkeit – ob nun in modernistischer oder postmoderner Manier – nicht länger gegen den Kapitalismus richtet, sondern in einer ihr selbst unbewussten Wahlverwandtschaft zum Kapital steht. Und auch der Moralismus ist keine wirkliche Alternative zu besagtem Ineinander von Positivismus und Nihilismus, weil hier nicht wirklich das Primat der Politik jenes der Wirtschaft ersetzt. Vielmehr ergibt sich aus der politischen Ohnmacht das moralisierende Ressentiment, das somit in Kontinuität steht zum falschen Sein und kein besseres Sollen mehr aufweist, das dieses noch sprengen könnte.

Ismen waren Nietzsche, als Systemgegner, stets zuwider: das Positive des Lebens fand er erstickt im Positivismus; das kritische Moment der Negation verkommen zur unbelangbaren, weil unbestimmten Apologie des Nihilismus; und Moral, die ihrerseits doch auch dem Schutz der vulnerablen Leiber und der einen Erde, die wir beleben, dienen könnte, verkehrt im Moralismus inquisitorischer Gesten, die nichts aufwerten als die eigene Nichtigkeit zerstreut Vereinzelter. Was im Sinne Nietzsches im 21. Jahrhundert darum zu verfassen wäre, ist eine Genealogie des Moralismus, die gleichsam eine Genealogie des Positivismus und Nihilismus zu sein hat, und als solche eine historische Befragung jener gesellschaftlichen Objektivität, die positivistische, nihilistische, moralistische Subjektivierungsweisen erzwingt – um die Hinterfragung der kapitalistischen Totalität in all ihren Facetten zu leisten.

Nietzsches Werk arbeitet nicht gegen das Subjekt, die Menschen oder die Kritik, sondern gegen das – qua Verwertung entwertende – Prinzip des Kapitals, das Leiber zerstört, Leben nimmt und unseren Lebensraum bedroht. Zumindest lautet so die interessantere Lesart seines Oeuvres, die weitaus emanzipatorischer ist als jene der Postmoderne.      

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Aph. 283.

Nietzsche als Kritiker kapitalistischer Entfremdung

Im vorletzten Teil der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“ kommt Lukas Meisner zu einem auf den ersten Blick überraschenden Resultat: Nietzsche und Marx üben beide fundamentale Kapitalismuskritik und Nietzsche kann dazu dienen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie durch eine nicht minder radikale Kritik der moralischen Ökonomie zu vervollständigen.

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Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Die Apokalyptik der Identität als Projekt. – Furcht und Zittern im Rückzug auf das Partikulare – zirkeln zwischen Sinn und Zwang. Bedingt die Verdrängung der Allgemeinheit die Autoaggression; die Reduktion der Zukunft, die Rückkehr des Tabus – oder umgekehrt? Zur „Republik des Universums“ sprach also der Philosoph des Mythos: „fear knows only how to forbid, not how to direct“.

(Sascha Freyberg)

„Die Waffe gegen dich zum Werkzeug machen, und wenn’s nur ein Aphorismus wird.“

(Elmar Schenkel)

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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