Der Sinn ist gefallen, doch ich träume noch

Der Sinn ist gefallen, doch ich träume noch

2.12.25
Giulia Romina Itin
Dieser Essay widersetzt sich der Leere einer Welt, die zu Gunsten der Funktion ihren Sinn verloren hat. Mit Nietzsche, Camus und dem Schatten des Sisyphos im Rücken, suche ich nach dem Wilden, nach dem Träumerischen, nach jenen, die sich nicht fügen und sich weigern, zu verstummen. Ich schreibe über die modernen Barbaren: Über Menschen, die das Nichts sehen und dennoch weiteratmen, weiterschreien, weiterträumen. Dieser Text ist meine Hymne an den Trotz, an das Ungeformte, an den Mut, die Sinnlosigkeit nicht zu fürchten. Denn selbst ohne Sinn werde ich nicht verstummen. Nicht jetzt, nicht in dieser Welt. Und eine andere gibt es nicht.

Dieser Essay widersetzt sich der Leere einer Welt, die zu Gunsten der Funktion ihren Sinn verloren hat. Mit Nietzsche, Camus und dem Schatten des Sisyphos im Rücken, suche ich nach dem Wilden, nach dem Träumerischen, nach jenen, die sich nicht fügen und sich weigern, zu verstummen. Ich schreibe über die modernen Barbaren: Über Menschen, die das Nichts sehen und dennoch weiteratmen, weiterschreien, weiterträumen. Dieser Text ist meine Hymne an den Trotz, an das Ungeformte, an den Mut, die Sinnlosigkeit nicht zu fürchten. Denn selbst ohne Sinn werde ich nicht verstummen. Nicht jetzt, nicht in dieser Welt. Und eine andere gibt es nicht.

Der Essay entstand als Antwort auf die Preisfrage des diesjährigen Eisvogel-Preises (Link). Wir zeichneten ihn nicht aus, doch publizieren ihn dennoch als wichtigen Beitrag zum Thema der «neuen Barbaren» aufgrund seiner ausserordentlichen literarischen Qualität. Wer ihn lieber anhören möchte, findet ihn zusätzlich eingelesen von Caroline Will auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie (Link) oder auf Soundcloud (Link).

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Die verlorene Welt und die Suche nach den neuen Barbaren

«Wo sind die Barbaren?», fragte Friedrich Nietzsche. Meine Stimme hallt der seinen nach wie ein Echo. Ja, wo sind sie denn, die anderen Barbaren? Denn ich bin einer von ihnen und stehe hier. Nicht mit einem Schwert, nicht mit Feuer, sondern mit einem Traum in der Hand, einem Traum, der so vergänglich wirkt wie die Wolken am Horizont. Doch ich kann und werde ihn nicht loslassen. Ich werde mich ihnen nicht fügen. Die Welt hat sich eingerichtet: Ihre Werte sind glatt und ihre Gedanken steril. Dennoch bin ich hier und rufe, doch niemand hört mich, und sehen wollen sie auch nicht. Alles hat einen Platz in dieser traurigen Welt, ausser das Wilde und das Ungeformte.  

Nihilismus und die Geburt der Träumer

Der Nihilismus, von dem Nietzsche sprach, war nicht bloss eine Warnung, nein, es war der Untergang der Welt selbst. Die Werte sind wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Schuld daran ist nicht die Evolution, nicht der Lauf der Zeit, sondern der Mensch selbst. Denn wir sind müde geworden und haben unseren Kampfgeist verloren. Daraus entstand eine Welt, die sich mit dem Schein von etwas Fundamentalem zufriedengibt. Technik ersetzt die Neugierde, Fortschritt ersetzt den Willen und alles hat eine Funktion, doch nichts hat einen Sinn. Und irgendwo inmitten dieser funktionalen Wüste stehen wir, die Träumer. Wir werden als unbrauchbar abgestempelt, denn wir fühlen zu viel, wir brechen zu leicht und wir wollen die Uniform nicht anziehen. Vielleicht sind wir die neuen Barbaren. Nicht, weil wir zerstören, sondern, weil wir nicht gehorchen, und das scheint den grössten Schaden überhaupt anzurichten.  

Die lautlose Invasion der Leere

Die Leere kam also nicht mit einer Fanfare. Sie kündigte sich nicht an mit einem: «So, hier bin ich.» Nein, sie war plötzlich da, still und selbstverständlich, und wir haben es nicht einmal gemerkt. Jetzt ist es zu spät. Die Leere ist längst unter uns verteilt; sie sitzt in unseren Körpern, sie ist in unsere DNA geschrieben. Wir leben in einer funktionalen Welt, in der alles möglichst simpel sein muss, denn jeder Gegenstand, ja, selbst jedes Lebewesen erfüllt eine bestimmte Funktion. Wir sind geprägt vom Gedanken, dass wir die Welt optimieren müssen, dass das menschliche Leben praktischer werden soll, dass alles schneller und immer schneller funktioniert. Doch mir wird übel auf dieser Achterbahn.

Sisyphos, unser alter Freund

Funktion wird als Sinn missbraucht, weil wir den Gedanken nicht ertragen, dass unsere Existenz vielleicht gar keinen Sinn hat. Ich denke an den Mythos des Sisyphos. An jenen Mann, der von den Göttern dazu verdammt wurde, einen Stein den Berg hinaufzurollen, nur um ihn immer wieder hinunterstürzen zu sehen, für alle Ewigkeit. Sisyphos’ Aufgabe war sinnlos und damit auch funktionslos. Was bringt sie ihm schlussendlich? Genau: Nichts. Und doch er tat es, aus Trotz gegenüber den Göttern. Er wollte ihnen die Genugtuung seiner Niederlage nicht gönnen, also machte er weiter, auch ohne Ziel und ohne Ertrag. Ich denke auch an Albert Camus, der diesen Mythos als Ebenbild der menschlichen Existenz betrachtete: Das Leben ist sinnlos, und doch leben wir weiter, einfach so, weil wir es können. Wir tanzen auf dem Grab der Sinnhaftigkeit, nicht weil wir glauben, sondern weil es uns Freude macht. Die heutige technische Welt tut so, als kenne sie weder Camus noch Sisyphos, und wer weiss, vielleicht kennt sie die beiden wirklich nicht. Sie ist zu verbissen darin, Fortschritt zu machen. Zu verbissen darin die grösste Erfindung des Jahrhunderts zu vollbringen. Und wofür? Genau, für einen angeblichen Sinn. Doch diesen Sinn gibt es nicht, und etwas anderes zu behaupten wäre eine Lüge.  

Technik als Religion des Fortschritts

Nietzsche warnte einst vor einem Nihilismus, der den Willen des Menschen zerstören würde. Doch seine Angst war nur ein Bruchteil von dem, was wirklich eingetreten ist: Die Menschen sind nicht nur müde geworden, sie leben eine Lüge. Technik, und das Streben nach dem Sinn, den sie verspricht, ist der neue Gott.  

Widerstand der modernen Barbaren

In dieser Welt, die alles braucht, Zahlen, Tempo, Ziele, und nicht weiss wozu, gibt es Körper, die zu weich sind, Seelen, die zu langsam träumen und Ziele, die nichts weiter sind als Bilder über den Wolken. Vielleicht sind sie es, die Widerstandsfreudigen, die den Nihilismus stürzen wollen, auch wenn er längst eingetreten ist. Sie erkennen den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe, doch sind sie bereit, mit ihren Ideen das Menschliche, das Wilde und das Träumerische zurückzuholen. Ich nenne sie die modernen Barbaren.

Randfiguren des Systems

Die modernen Barbaren werden ausgestossen. Denn die technische Welt, längst vom Nihilismus wie eine Seuche befallen, ist bequem geworden, und niemand will sie hergeben. Die Barbaren stören. Sie erinnern. Sie hinterfragen. Also drängt man sie an den Rand, denn sie sind in der Unterzahl. Man nennt sie «verrückt», «gestört», «krank im Kopf». Und erneut findet eine Umkehrung der Werte statt, eine, wie sie Nietzsche einst voraussah, unfreiwillig Prophet. Die Barbaren sind das Abbild des Übermenschen: Jene, die verstanden haben, worum es geht, was wirklich zählt, und die keine Angst haben vor der Sinnlosigkeit. Der Rest aber? Die sind Sklaven. Sklaven, die sich blind von einem Pseudo-Sinn treiben lassen. Eigentlich sind sie schwach, doch Technik macht sie stark. Die Technik, diese Pseudo-Funktionalität, wirkt wie Waffen in einem Videospiel, und die Sklaven sind nichts als Charaktere. Avatare mit Namensschild. Nur dort in ihrer Scheinwelt sind sie stark. Nur dort, gemeinsam, als Allianz der Armen. Sie selbst würden sich nie arm nennen, nein, denn in ihrer Welt ist alles bedeutungsvoll: Sie glauben, sie existieren wegen des Urknalls, weil der Zufall es so wollte. Sie gehen morgens zur Arbeit, weil sie «einen Unterschied machen» wollen. Sie kaufen Stocks, denn Reichtum ist das Ziel. Doch die Wahrheit, die sie nicht hören können, oder nicht hören wollen, ist diese: Das alles ist eine grosse Lüge. Einen Sinn hat es nie gegeben. Aber wer würde schon den Barbaren glauben? Die passen ja nicht ins System. Die stören nur. Die sind doch sowieso krank im Kopf. Und im Rennen um die Funktionalität ist für sie kein Platz vorgesehen.

Nützlichkeit als Zwang

Wer morgens nicht aufstehen will, ist depressiv. Wer keinen Ehrgeiz zeigt, gilt als behandlungsbedürftig. Wer zu leise oder zu sensibel ist, der ist falsch und passt nicht rein. Niemals wird die Welt hinterfragt, sondern immer nur der Mensch, der an ihr zerbricht. Doch es heisst nicht «Warum bricht er?», sondern: «Deshalb sollte er nicht brechen.» Und schon sitzt der Barbar mit einer Diagnose in einem zu hellen Raum und wundert sich, warum seine Augen brennen.  

Denn alles, was den Fortschritt der Technologie stoppen könnte, alles, was eine Gefahr für die robotisierten Menschen darstellen könnte, wird eingesperrt. Nicht Heilung ist das Ziel, nicht das Wiederherstellen eines Wohlbefindens, sondern eine Notlösung: Die Barbaren sollen funktionsfähig werden. Nutzbar und anpassbar. Daraus entsteht eine Zwangsnorm, in der Individualität und Menschlichkeit keinen Platz mehr haben. Am Ende zählt also nicht, ob es einem Menschen besser geht, sondern nur, dass es weitergeht.  

Simulation, Scheinwelt und der Hunger nach Echtheit

Die Welt ist schon lange nicht mehr echt, sie ist effizient. Und das reicht den meisten. Doch nicht den Barbaren. Sie sehen, dass der Mensch den Sinn verloren hat, und trotzdem suchen die Barbaren weiter danach. Alles, was man ihnen dafür anbietet, sind Klicks und Geräte. Die ganzen Avatare merken längst nicht mehr, dass sie in einer Simulation leben, denn es ist bequem und es gibt Belohnungen, wenn sie mitmachen. Genau wie Gott einst das Paradies versprach. Die Barbaren sehen, dass die Welt brennt und dass sie dringend Hilfe benötigen. Doch sind ihnen die Hände gebunden und als Trost wird ihnen Bluetooth angeboten. Es ist alles fort.  

Die letzte Rebellion

«Es ist alles fort», flüstere ich vor mich hin und betrachte die Gestalt im Spiegel. Sie ähnelt mir sehr, doch ihre Augen sind müde und ihre Seele wirkt leer. Auch ich werde langsam müde, denn Barbarin sein, ist anstrengend. Es gibt Tage, da möchte ich einfach dazugehören. Da will ich morgens aufstehen und in das System passen. Ich sehe die Uniform, die über meinem Stuhl hängt, und stelle mir vor, wie es wäre, zu lächeln, wenn sie es erwarten. Ich wünschte, meine Gedanken wären einfacher, doch ich kann sie nicht ausschalten und ich will es auch nicht, denn ich glaube noch an das Wilde. Ich glaube an die Traumwolken, die ich selbst erschaffen habe, mit meinen eigenen Werten, mit meinem eigenen Sinn. Nicht, weil ich die Sinnlosigkeit nicht aushalte, sondern, weil ich die Kraft habe, etwas zu schaffen, genau wie Sisyphos. «Wo sind die Barbaren?», fragte Friedrich Nietzsche. Meine Antwort hört er längst nicht mehr, doch spreche ich sie aus: «Ich bin hier.» Meine Beine sind noch nicht so müde, dass sie mich nicht mehr tragen würden, und in meinen Armen trage ich noch genug Kraft, um meine Träume zu halten. Ich habe der Welt nichts zu bieten, nicht wirklich; aber ich gebe nicht auf. Und vielleicht ist das meine letzte Form von Rebellion: Nicht still zu werden. Denn selbst, wenn ich verliere, ich bin eine Barbarin. Und das schreibe ich mit Stolz.

 

Giulia Romina Itin wurde 2007 in der Nähe von Luzern geboren und studiert derzeit Philosophie und Geschichte an der Universität Basel. In ihren Texten setzt sie sich mit existenziellen und gesellschaftskritischen Fragen auseinander: Sinn und Sinnlosigkeit, Auflehnung, Identität, das Träumerische und der Widerstand gegen das Vorgeformte. Ihr Denken wird vor allem von Friedrich Nietzsche und Albert Camus geprägt, deren Perspektiven auf Freiheit, Revolte und Absurdität ihren Blick für die Brüche der Gegenwart schärfen. Neben dem Studium schreibt Giulia Lyrik und Prosa, um in einer sinnleeren Welt nicht innerlich zu verstummen. Schreiben bedeutet für sie, weiterzufragen, wo andere schweigen.  

Das Artikelbild stammt von der Autorin. Sie schreibt dazu: «Ich habe es im Januar 2025 selber fotografiert, irgendwo zwischen Madeira und Teneriffa auf offenem Meer. Ich habe dieses Bild gewählt, weil es dieselbe Stimmung trägt wie mein Text: Schwere Wolken, Lichtbrüche und ein Himmel, der zugleich droht und träumt. Diese Wolken erinnern mich an die ‘Traumwolken’, von denen ich im Text spreche. Jene, die ich mir selbst erschaffen habe, trotz einer Welt, die Sinn verloren hat. Das Foto zeigt eine Wirklichkeit, die dunkel, aber nicht hoffnungslos ist, und genau aus dieser Motivation heraus existiert mein Text.»