Von Stalin zu Nietzsche oder Wie ich Nietzscheaner wurde (1970-1990)

4.4.24
Hans-Martin Schönherr-Mann
Als Marxist war Nietzsche schon ein frühes Ärgernis. Doch mit der Nietzsche-Renaissance in den Achtzigern kam ich nicht mehr an ihm vorbei. Dann entdeckte ich Nietzsche als innovativen Denker. - Teil II der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der sich unsere Stammautoren vorstellen.

Als Marxist war Nietzsche schon ein frühes Ärgernis. Doch mit der Nietzsche-Renaissance in den Achtzigern kam ich nicht mehr an ihm vorbei. Dann entdeckte ich Nietzsche als innovativen Denker. - Teil II der Reihe „Was bedeutet Nietzsche für mich?“, in der sich unsere Stammautoren vorstellen.

I. Der wildgewordener Kleinbürger

Durch die Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 politisiert, dann durch Sartre philosophiert, war ich 1970 in einer Sympathisantengruppe der KPD/ML und somit Maoist. Die chinesischen Kommunisten waren Stalinisten, womit ich meinerseits doch haderte und was mich dort wieder aussteigen ließ. Dass 20 Millionen Menschen für die Revolution sterben dürfen, war ein nicht verdauliches Argument. Nur darf man en passant einwenden, dass Staaten ihre Menschen regelmäßig millionenfach in Kriegen opfern, ist Stalin nur einer unter ganz vielen, zu denen selbstredend auch Demokratien zählen. Und schuld sind immer die anderen. Trotzdem blieb ich noch ein paar Jahre revolutionärer Marxist.

1970, also noch als Maoist, sah ich mich zum ersten Mal mit Nietzsche konfrontiert. In der 12. Gymnasiumklasse wurde ein Philosophiekurs angeboten, an dem meine linksradikalen Klassenkameraden und ich begeistert teilnahmen. Wermutstropfen war der an sich sehr sympathische Lehrer, der sich als von Hermann Hesse inspirierter Nietzscheaner outete – ein damals verbreiteter Werdegang von Unpolitischen – und mit uns den Zarathustra las, den zu verstehen ich mich als Leninist freilich weigerte.

Den ersten Zusammenstoß über Nietzsche hatte ich um diese Zeit mit einer Teilnehmerin dieses Kurses, die im Raucherzimmer des Gymnasiums im Militärparka auf der Fensterbank sitzend und rauchend – versteht sich – den Zarathustra las. Ein Ärgernis für mich und ich fauchte: „Nietzsche – ein wildgewordener Kleinbürger!“ Sie fauchte zurück: „Marx ist ein vielschlimmerer wildgewordener Kleinbürger.“ Es dauerte noch ca. zehn Jahre, bis Dagmar Allendorf mich in die freie Liebe einführte, genauer mich zur offenen Beziehung zwang. Danach wurde sie zu einer jahrzehntelangen guten Freundin und ich hatte von ihr die Vorzüge offener Beziehungen gelernt, wozu Nietzsche sicher nur von ferne beigetragen hatte und wenn, dann vom Individualismus zum Feminismus.

II. Der leidende Nietzscheaner

Während ich zwischen 1979 und 1982 über praktische Philosophie bei Kant und Hegel promovierte, schrieb ein anderer Weggefährte – ebenfalls bei jenen Maoisten und in besagtem Philosophiekurs gewesen – auch bei Manfred Riedel über Nietzsche seine Dissertation. Damit konnte ich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht mehr entgehen.

Reinhard Knodt war denn auch mit seiner Nietzsche-Dissertation dem Zeitgeist der frühen achtziger Jahre näher als ich mit Kant und Hegel als Background für Marx. Denn seit der Colli-Montinari-Ausgabe erlebte Nietzsche eine Renaissance, nicht nur in Frankreich und Italien, wo der Poststrukturalismus sich schon seit den sechziger Jahren verbreitet und die Postmoderne-Diskussion gerade begonnen hatte.

Als zwischenzeitlich gemäßigter Marxist schrieb ich meinen allerersten Aufsatz nach der Promotion gegen diese Nietzsche-Renaissance, der freilich nie veröffentlicht wurde. Viele Linke interessierten sich plötzlich für Nietzsche, was ich als frustrierte Fluchtlinie verstand, nachdem der Stern von Marx während der späten siebziger Jahre verblasste. Wie konnten Linke nur in den siebziger Jahren gegen die Atomkraft sein, geht es Marx doch um den Fortschritt der Produktivkräfte! Bis Harrisburg 1979 war ich Befürworter der Atomenergie.

Wie konnten sich linke Intellektuelle mit einer solchen schillernden Figur wie Nietzsche beschäftigen, der das wissenschaftliche Wissen in Frage stellt, auf dem schließlich die Produktivkraftentwicklung beruht! Reinhard Knodt hatte über Die ewige Wiederkehr des Leidens promoviert. Anstatt gegen das Leiden etwas zu tun, stellt man es als unvermeidbar dar, gibt sich ihm hin und leidet aufmerksamkeitsheischend wie Nietzsche. Damit verbunden ist das verbreitete Lamento von Intellektuellen über mangelnde Resonanz in Politik und Gesellschaft wie bei Nietzsche, obwohl man doch so klug ist, wie man es im Ecce Homo lesen kann.

III. Zu Nietzsche durch schwaches Denken

Anfang der achtziger Jahre erschien es mir langsam unabdingbar, das Problem der Naturzerstörung philosophisch auf den Begriff zu bringen. Im Anschluss an meine Dissertation entwickelte ich dazu ein Fortschrittskonzept der Rationalisierung: Im 18. Jahrhundert beginnt die Rationalisierung des Staates, im 19. die der Ökonomie und im 20. die des Naturverhältnisses – Rechtstaat, Sozialstaat, Naturstaat.

Der Düsseldorfer Philosoph Rudolf Heinz, bei dem ich Mitte der siebziger Jahre drei Semester studiert hatte, brachte mich vom Rationalisierungskonzept ab, indem er mich auf die französische Philosophie rings um die Poststrukturalismus hinwies. Wiewohles dabei zunächst noch nicht um Nietzsche ging, begann ich für das Problem der Naturzerstörung einen vernunftkritischen Ansatz zu entwickeln. Durch Vermittlung von Rudolf Heinz veröffentlichte ich 1985 mein erstes Buch nach der Doktorarbeit, Philosophie und Ökologie. Philosophische und politische Essays, in dem Nietzsche noch kaum vorkommt und im Literaturverzeichnis nur auf die Schlechta-Ausgabe verwiesen wird.

Der Blick auf Nietzsche intensivierte sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, als ich Gianni Vattimo kennenlernte, den italienischen Hauptvertreter der postmodernen Philosophie, dessen hermeneutischer Ansatz mir damals näher lag als die poststrukturalistischen Konzeptionen von Foucault, Derrida und Lyotard. Er hatte bereits 1974 das Problem der Befreiung mit Nietzsche verbunden: Il Soggetto e la Maschera. Nietzsche e il Problema della Liberazione („Das Subjekt und die Maske. Nietzsche und dasProblem der Befreiung“). Just diese Verbindung hatte ich noch wenige Jahre zuvor kritisiert.

Zwischenzeitlich aber verließ ich langsam die kommunitarischen Pfade des Marxismus und kehrte zuden Anfängen vor dem Maoismus zurück, wurde schließlich die Außerparlamentarische Opposition der Achtundsechziger-Zeit auch antiautoritäre Bewegung genannt und hatte ich mit Sartres Individualismus damals das Philosophieren begonnen. Doch zu einer Rückkehr zu Sartres Existentialismus war die Zeit noch nicht reif. Das wird erst gegen Ende des Jahrtausends der Fall sein.

Zunächst lernte ich bei Vattimo Nietzsches Hermeneutik als Kritik an den Wissenschaften und der modernen Technik zu verstehen, er hatte 1984 das Buch Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik publiziert. Und just Naturwissenschaften und Technik erschienen mir damals und heute immer noch als der eigentliche Hintergrund der Naturzerstörung, weniger der Kapitalismus. Heute glauben dagegen die Klimaradikalen mit den Naturwissenschaften und den Technologien das Naturverhältnis ins Lot bringen zukönnen. Für mich waren und sind diese indes nicht die Lösung, sondern das Problem, heute umso mehr, wenn sie unverfroren propagieren, die Welt richtig zuerfassen – ein religiöser Habitus.

Hierzu war die Wissenschafts- und Technikkritik Nietzsches an der Mathematik, die Edmund Husserl 1936 in seiner Krisis der europäischen Wissenschaften wiederholen wird, an der Kausalität, die beim späten Wittgenstein wiederkehren wird, und am Handlungsbegriff, die Hannah Arendt ausbuchstabieren wird, hilfreich. Naturwissenschaften und Technik erfassen die Natur nicht, wie sie wirklich ist, sondern interpretieren sie undentfalten dadurch ihren Willen zur Macht, den heute die Experten repräsentieren.

In diesem Sinne hatte Vattimo die Geschichte des Denken nicht als einen Prozess der immer besseren und adäquateren Erfassung der Welt interpretiert, der die Welt immer präziser beherrscht, sondern als eine Geschichte der zunehmenden Einsicht darein, diesen Prozess als einen der Schwächungen der Erkenntnis wie der Ethik zubegreifen – en passant darf man neben Husserl auf Einsteins Relativitätstheorie, die Grundlagenkrise der Mathematik, Heisenbergs Unschärferelation und das Scheitern der Begründung einer gegenstandsadäquaten Wissenschaftssprache im logischen Konstruktivismus der Erlanger Schule verweisen.Von all dem will man in den Wissenschaften gar nichts mehr wissen.

So entwickelte Vattimo daraus 1983 die Theorie des „schwachen Denkens“ – Il pensiero debole –, an das ich in meinem zweiten Buch zur Naturzerstörung 1989 anschloss: Die Technik und die Schwäche. Ökologie nach Nietzsche, Heidegger und dem ‚schwachen Denken‘. Damit war ich definitiv Nietzscheaner geworden. Vattimos programmatischen Aufsatz Dialektik, Differenz, schwaches Denken übersetzte ich und publizierte ihn in dem von mir 2000 herausgegebenen Sammelband Ethik des Denkens.

IV. Von der negativen Ökologie zur Lebenskunst

Im gleichen Jahrbrachte ich das noch auf einen Begriff, der sich mehr an Adornos negativer Dialektik als an Nietzsches Nihilismus anlehnte, aber von letzterem umso stärker beseelt wurde. Ich veröffentlichte zunächst ein kleines programmatisches Buch unter dem Titel Von der Schwierigkeit Natur zu verstehen. Entwurf einer negativen Ökologie. Die Quintessenz lautet: Zwischen Wissenschaften und Natur besteht eine Differenz, die sich nicht überbrücken lässt. Just deswegen ist im Umgang mit Natur Vorsicht geboten.

1990 habe ich das Konzept ausgearbeitet und es durch Lyotards Widerstreit erweitert: D. h., dass sich das Problem auch nicht politisch lösen lässt,weil Politik der Ort des Widerstreits der Diskursarten ist. Der Titel lautet Negative Ökologie. Politische Philosophie im technischen Zeitalter. Das sollte meine Habilitationsschrift werden. Sie blieb liegen und als ich es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zur Grundlage einer Vorlesung machen wollte, musste ich entdecken, dass mich das besorgte Pathos um die zerstörte Natur verlassen hatte, so dass ich das Manuskript seither auch nicht mehr veröffentlichen wollte.

So war Nietzsche anfänglich ein Ärgernis, gegen das ich mich zur Wehr setzte, bis ich begriff, dass seine Philosophie viel innovativer und inspirierender war als das, was die Philosophie meiner akademischen Lehrer zu bieten hatte. Und erkenntnistheoretisch kann man von Nietzsche etwa so viel lernen wie von Wittgenstein: Der heute vorherrschende Szientismus ist eine Ideologie, der man so wenig glauben muss wie Religionen.

Heute will das niemand hören. So bleibt man mit Nietzsche Außenseiterin, Bohémienne, Intellektuelle, Lebenskünstlerin gemäß meinem Buch Der Übermensch als Lebenskünstlerin. Nietzsche, Foucault und die Ethik (2009). Wenn man mit Nietzsche dagegen in den Mainstream gerät, hat man ihm diebösen Zähne gezogen, was Arthur C. Danto empfiehlt, um Nietzsche demokratiekonform zu machen.

Obendrein lernte ich von Nietzsche vieles über den Individualismus, wiewohl er den auf das Genie beschränkt. Man kann und muss sein Leben selber gestalten und sich gegen alle Versuche wehren, sich dergleichen von den „letzten Menschen“ vorschreiben zu lassen. Derart hat Nietzsche eine Ethik des Individuums entworfen, die mich zumeinen antiautoritären Anfängen bei Sartre zurückbrachte. Also sprach Zarathustra:

Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort wo der Staat aufhört, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?1

Fußnoten

1: Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen.