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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

20.5.25
Paul Stephan

In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

III. Von Jütland ins Engadin

Es verwundert nicht, dass sich ähnliche Schilderungen ebenso bei Nietzsche als „Seismograph“ (Ernst Jünger) der Irrungen und Wirrungen der modernen Seele finden und er dabei immer wieder auf die Metapher des Wanderns rekurriert. Auch wenn er ihn nie gelesen hat, beschrieb der staatenlose Pfarrerssohn den modernen Nihilismus in ähnlich drastischer Weise wie der gescheiterte dänische Pfarramtskandidat. Nur mit dem Ausweg ist es für den selbsterklärten „Antichrist“ weniger einfach bestellt.

Den ersten prominenten Auftritt hat das „Wandern“, das als Metapher bei Nietzsche zuvor nur vereinzelt auftritt, in der zweiten Zugabe zu Menschliches, Allzumenschliches, Der Wanderer und sein Schatten, veröffentlicht 1880. Nietzsche beschreibt dieses Werk nachträglich als den Ausdruck einer fundamentalen Krisis – „Dies war mein Minimum: ‚Der Wanderer und sein Schatten‘ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…“1 –, die jedoch zugleich seine „Genesung“, seine „Rückkehr zu mir2 eingeläutet habe. „Wanderschaft“ wird für ihn zur Metapher einer zunächst rein negativen Befreiung vom Gewohnten:

„Lieber sterben als hier leben“ – so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies „hier“, dies „zu Hause“ ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr „Pflicht“ hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth – ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: – dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen[.]3

Es ist also kein einfacher Triumph über das Althergebrachte, sondern mit der Wanderschaft begibt man sich zugleich in die Zone der Gefahr und der Unbestimmtheit. Es droht ein Selbstverlust, der vielleicht noch furchtbarer ist als die alte Gefangenschaft; eine fundamentale Orientierungslosigkeit, der Nietzsche später den Namen „Nihilismus“ geben sollte. Diese Gefahr – seinen „Schatten“ – wird Nietzsche immer wieder als seine eigene Gefahr beschreiben, den Abgrund, mit dem er sich ständig konfrontiert und der ihn immer wieder zu verschlingen droht. Die Wanderung wird manchmal eher positiv als Abenteuerfahrt,4 aber zugleich immer wieder auch als Wagnis beschrieben, als „höchst gefährliche[] Gletscher- und Eismeer-Wanderung“5, die den Wanderer ins Nichts zu führen droht; auch eine Art Kreuzweg, doch ohne Erlösung am Ende.

Nietzsche teilt mit Rousseau die Vorliebe für die Schweizer Alpen, doch es geht hier um eine ganz andere Art der Wanderschaft, auch eine ganz andere Art von Naturerfahrung. Auch wenn man sich den Menschen Nietzsche nicht gerade als Bergsteiger vorstellen darf – er war eher ein Spaziergänger, der die Gipfel vom Tal aus bestaunte –, stößt der Denker zu ihnen vor auf die Gefahr hin zu erfrieren. Kein beschauliches Ausruhen von der Unbill der Zivilisation, sondern gerade die Zuspitzung ihrer Ruhelosigkeit und Entfremdung ist es, die Nietzsche unternimmt:

Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will Nichts mehr „beweisen“; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie „beschreibt“… Dies Alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch, darüber täusche man sich nicht! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick, – ein Auge, das hinausschaut, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? um nicht zurückzuschauen?…) Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen „Wozu?“, „Umsonst!“, „Nada!“ – hier gedeiht und wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoi’sches „Mitleid“. Was aber jene andre Art von Historikern betrifft, eine vielleicht noch „modernere“ Art, eine genüssliche, wollüstige, mit dem Leben ebenso sehr als mit dem asketischen Ideal liebäugelnde Art, welche das Wort „Artist“ als Handschuh gebraucht und heute das Lob der Contemplation ganz und gar für sich in Pacht genommen hat: oh welchen Durst erregen diese süssen Geistreichen selbst noch nach Asketen und Winterlandschaften! Nein! dies „beschauliche“ Volk mag sich der Teufel holen! Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern!6

Um den hohen Preis dieses Heroismus weiß Nietzsche sehr wohl. So heißt es in einem seiner vielleicht berühmtesten Gedichte, Der Freigeist:

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:  
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem‚ der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr‚
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor‚
Was du verlorst‚ macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich‚
Zur Winter-Wanderschaft verflucht‚
Dem Rauche gleich‚
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg’‚ Vogel‚ schnarr’
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck’‚ du Narr‚
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n‚
Weh dem‚ der keine Heimat hat!7

So jedenfalls der erste Abschnitt des Poems. Doch Nietzsche fügt dem unmittelbar danach geradezu trotzig hinzu:

Daß Gott erbarm’!
Der meint‚ ich sehnte mich zurück
In’s deutsche Warm‚
In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!
Mein Freund‚ was hier
Mich hemmt und hält ist dein Verstand‚
Mitleid mit dir!
Mitleid mit deutschem Quer-Verstand! (Ebd.)

Es muss also immer weitergehen. Als einen solchen ewigen Wanderer malt sich Nietzsche auch seinen persönlichen Übermensch Zarathustra aus. Die erste Rede des dritten Buches ist mit Der Wanderer überschrieben und dort spricht der Prophet „zu seinem Herzen“ also: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger […], ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen“8. Wanderung als ein Prozess der permanenten Überwindung immer neuer Gipfel, der letztendlich in der völligen Selbstüberwindung münden muss:

Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und Hintergrund: so musst du schon über dich selber steigen, – hinan, hinauf, bis du auch deine Sterne noch unter dir hast!
Ja! Hinab auf mich selber sehn und noch auf meine Sterne: das erst hiesse mir mein Gipfel, das blieb mir noch zurück als mein letzter Gipfel! (Ebd.)

Aber bedeutet das nicht, auch noch das Ideal des Wanderns selbst zu hinterfragen? Hebt sich die Wanderschaft auf ihrem höchsten „Gipfel“ dann selbst auf und gerät in eine Sackgasse? Der Mythos der „ewigen Wiederkunft“ soll’s am Ende des dritten Buches wohl richten, insofern sich hier der ewige Schweifende als ewig Schweifender selbst bejaht.

Doch auch danach bleiben noch Zweifel, ob diese Selbstbejahung wirklich bruchlos gelingen; anders ausgedrückt: der moderne Mensch sich mit seinem Schicksal wirklich aneignend identifizieren kann. Im vierten Buch stößt Zarathustra entsprechend wiederum auf seinen Schatten. Und der beklagt sein Los in ganz ähnlichen Worten wie Nietzsche in seinem unveröffentlichten Gedicht:

Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht ewig, und auch nicht Jude bin.
Wie? Muss ich immerdar unterwegs sein? Von jedem Winde gewirbelt, unstät, fortgetrieben? Oh Erde, du wardst mir zu rund!
Auf jeder Oberfläche sass ich schon, gleich müdem Staube schlief ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben: Alles nimmt von mir, Nichts giebt, ich werde dünn, – fast gleiche ich einem Schatten.
Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am längsten nach, und, verbarg ich mich schon vor dir, so war ich doch dein bester Schatten: wo du nur gesessen hast, sass ich auch.
Mit dir bin ich in fernsten, kältesten Welten umgegangen, einem Gespenste gleich, das freiwillig über Winterdächer und Schnee läuft.
Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgend Etwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte.
Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach, – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.
Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen. Wenn der Teufel sich häutet, fällt da nicht auch sein Name ab? Der ist nämlich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht – Haut.
„Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als rother Krebs da!
Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham und aller Glaube an die Guten! Ach, wohin ist jene verlogne Unschuld, die ich einst besass, die Unschuld der Guten und ihrer edlen Lügen!
Zu oft, wahrlich, folgte ich der Wahrheit dicht auf dem Fusse: da trat sie mir vor den Kopf. Manchmal meinte ich zu lügen, und siehe! da erst traf ich – die Wahrheit.
Zu Viel klärte sich mir auf: nun geht es mich Nichts mehr an. Nichts lebt mehr, das ich liebe, – wie sollte ich noch mich selber lieben?
„Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben“: so will ich’s, so will’s auch der Heiligste. Aber, wehe! wie habe ich noch – Lust?
Habe ich – noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem mein Segel läuft?
Einen guten Wind? Ach, nur wer weiss, wohin er fährt, weiss auch, welcher Wind gut und sein Fahrwind ist.
Was blieb mir noch zurück? Ein Herz müde und frech; ein unstäter Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochnes Rückgrat.
Diess Suchen nach meinem Heim: oh Zarathustra, weisst du wohl, diess Suchen war meine Heimsuchung, es frisst mich auf.
„Wo ist – mein Heim?“ Darnach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendswo, oh ewiges – Umsonst!9

Was hat Zarathustra dieser Klage zu entgegnen? Gerät die permanente Wanderung aus sich selbst heraus zum permanenten Stillstehen, einfach, weil in ihr jede Bewegung bedeutungslos, gleich–gültig wird? Seine Antwort fällt überraschend defensiv aus:

Du bist mein Schatten! sagte er endlich, mit Traurigkeit.
Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein schlimmerer Abend kommt!
Solchen Unstäten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängniss selig. Sahst du je, wie eingefangne Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie geniessen ihre neue Sicherheit.
Hüte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht nunmehr Jegliches, das eng und fest ist.
Du hast das Ziel verloren: wehe, wie wirst du diesen Verlust verscherzen und verschmerzen? Damit – hast du auch den Weg verloren!
Du armer Schweifender, Schwärmender, du müder Schmetterling! willst du diesen Abend eine Rast und Heimstätte haben? So gehe hinauf zu meiner Höhle!
Dorthin führt der Weg zu meiner Höhle. Und jetzo will ich schnell wieder von dir davonlaufen. Schon liegt es wie ein Schatten auf mir.
Ich will allein laufen, dass es wieder hell um mich werde. Dazu muss ich noch lange lustig auf den Beinen sein. Des Abends aber wird bei mir – getanzt! (Ebd.)

Kann Zarathustra dem „Schatten“ überhaupt etwas erwidern?

Caspar David Friedrich: Frau am Meer (etwa 1818)

IV. Wandern als Tanzen

Kierkegaard wäre aus Nietzsches Sicht wohl einer jener abgefallenen Freigeister, die mutig aufbrachen, um die Höhen der Befreiung am Ende doch nicht auszuhalten und sich von einem „harte[n], strenge[n] Wahn“ einfangen lassen. Die Ziellosigkeit beschreibt er ebenso als Gefahr wie die Wahl eines beliebigen Zieles, weil man sie nicht mehr erträgt.

Kierkegaards Antwort wäre wohl: „Recht verstanden ist es ja nicht so, dass ich das Ziel – den Glauben – gewählt habe, sondern der Glaube hat mich gewählt und aus der Wüste, in die du geraten bist, herausgeführt hat. Gehe in dich, dann wirst du den Ruf auch in deinem Inneren vernehmen.“ Die Metaphorik des „Lebens“10 legt nahe, dass sich Nietzsche den Ausweg aus dem Nihilismus ähnlich vorstellt: Sich einem „etwas“ zu öffnen, das außerhalb der eigenen Subjektivität liegt und einem eine neue Orientierung gibt; dies hat bei ihm nur nichts mit der Hingabe an „Gott“ zu tun, sondern es geht ihm um die Öffnung gegenüber der Vielfalt des Lebens selbst, die zu immer neuen Zielsetzungen inspiriert. Man muss sich das, um im Bild zu bleiben, wohl so vorstellen, dass es darum ginge, sich die Marschroute immer wieder neu von der Umgebung selbst diktieren zu lassen. Es ist nur eine Frage der Perspektive: Man hat sich nicht verlaufen, man ist im Gegenteil schon immer angekommen.

Doch landet damit Nietzsche nicht selbst wieder bei einer Art von Glauben, vielleicht sogar beim abendländischen Gott, den er, nun seltsamerweise in abwertender Weise, als ewigen Wanderer beschreibt: „Inzwischen gieng er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er sass seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der grosse Cosmopolit“11. Ist das nicht Nietzsches eigener Traum, ist sein Gott nicht eigentlich der „Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt“ (ebd.)?

Die Zweideutigkeit von Emphase der Wanderung und Zweifel gehört wohl ebenso zur Existenz des Wanderers wie sein Stab und sein Schuhwerk. Wir können Nietzsches Schriften beide Dimensionen entnehmen und fühlen uns wohl unweigerlich mal zu der einen, mal zu der anderen hingezogen – weil es die Zweideutigkeit unserer eigenen Existenz ist. Wir sollten es vermeiden, eine der beiden abspalten zu wollen – denn was wären wir ohne unsere Schatten?

Der Tanz, zu dem auch Zarathustra seinen Schatten auffordert, bezeichnet eine Existenz, die genau jene Ambivalenz „[z]wischen Heiligen und Huren, [z]wischen Gott und Welt“12 auf sich zu nehmen vermag. Interessanterweise bedient sich auch Kierkegaard dieser Metapher dann und wann, um eine solche gelungene Existenz in der Schwebe, auf „glatte[m] Eis“13 zu bezeichnen. Doch es ist eben, und auch hier sind sich beide Denker einig, ein Seiltanz, einer, der auch die Gefahr des Sturzes impliziert: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“14. – Auf unterschiedliche Art und Weise verlieren beide Denker auf ihrer je eigenen Wanderung die Balance.

Metaphern der Bewegung, so ist jedenfalls zu resümieren, dienen seit jeher der Beschreibung von Grundmodi der Existenz. Im Sinne von Hans Blumenbergs Konzept der „absoluten Metapher“ verdichtet sich in ihnen das Lebensgefühl einer ganzen Kultur und anhand von ihnen lässt sich ablesen, was ihr Weltzugang ist.

Quellen

Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst. In: Der Begriff Angst / Vorworte. Gesammelte Werke und Tagebücher. 11. & 12. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2003, S. 1–169.

Ders.: Furcht und Zittern. Gesammelte Werke und Tagebücher. 4. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2004.

Artikelbild: Caspar David Friedrich: Das Eismeer (1823/24)

Quelle für alle verwendeten Bilder: Wikipedia

Fußnoten

1: Ecce homo, Warum ich so weise bin, 1.

2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches, 4.

3: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 3.

4: Vgl. etwa Morgenröthe, Aph. 314.

5: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 21.

6: Zur Genealogie der Moral, III, 26.

7: Nachgelassene Fragmente 1884, Nr. 28[64].

8: Also sprach Zarathustra, Der Wanderer.

9: Also sprach Zarathustra, Der Schatten.

10: Vgl. etwa Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied und Das andere Tanzlied.

11: Der Antichrist, 17.

12: Die fröhliche Wissenschaft, An den Mistral.

13: Die fröhliche Wissenschaft, Für Tänzer.

14: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 4. Zur (Seil-)Tanzmetapher bei Kierkegaard vgl. etwa Der Begriff Angst, S. 54 und Furcht und Zittern, S. 35.

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 2

In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient. Nachdem er sich im ersten Teil (Link) vor allem mit der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Bewegungsmetaphern und der Metapher des Wanderns bei Nietzsches wichtigem Bruder im Geiste, dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, beschäftigte, wird es nun vor allem um Nietzsche selbst gehen.

„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid. Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid

Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

14.5.25
Lou Wildemann & Paul Stephan

Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?

Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?
„Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.“
(Jenseits von Gut und Böse, Aph. 157)

Die „Sterbemaschine“ Sarco, erfunden von Philip Nitschke. Foto: Ratel (Link)

I. Assistierter Suizid und „Sterbetourismus“

Paul Stephan: Liebe Lou, vielen Dank, dass du dich zu diesem Gespräch bereiterklärt hast, zu diesem doch recht diffizilen und polarisierenden Thema Suizid1. – Dass dieses Thema so stark polarisiert, kann man ja zum Beispiel an den jüngsten Debatten um die vom australischen Arzt und Sterbehilfeaktivisten Philip Nitzschke – „Nomen est omen“, möchte man fast sagen – entwickelte „Sterbekapsel“ bzw. „Sterbemaschine“ Sarco sehen. Nitschke, auch als „Elon Musk des assistierten Suizids“2 bezeichnet, wirbt mit einem schnellen, unkomplizierten Tod durch Ersticken in einer mich persönlich ein wenig an einen Staubsauger erinnernden Plastikkapsel. Obwohl in der Schweiz die Beihilfe zum Suizid prinzipiell nicht verboten ist, sorgte der erstmalige Einsatz dieser Gerätschaft vor wenigen Monaten doch für einige Empörung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt; bislang ohne Ergebnis. Was meinst du, warum ausgerechnet diese Erfindung so besonders vehemente Reaktionen hervorrief?

Lou Wildemann: Ich bin keine Expertin für assistierten Suizid. Auch juristisch kann ich diesen Fall überhaupt nicht beurteilen. Warum das so eine Empörung hervorruft, hat möglicherweise mit dem Aussehen dieses Gerätes zu tun und mit der Tatsache, dass man da im wahrsten Sinne abgekapselt ist und somit sehr isoliert. Man trifft zwar eine mündige Entscheidung, aber auf diese Weise hat die ganze Prozedur fast schon etwas Außerirdisches.

Viel entscheidender sind aber meiner Meinung nach die unzähligen ethischen Fragen, die damit einhergehen. Auf die habe auch ich keine abschließenden Antworten, aber mir ist die Debatte sehr wichtig. Denn das ist eine sehr technisierte Form von Suizid ist und eine Form, die Suizid möglicherweise verwertbar macht, kapitalisiert, monetarisiert. Das ist in einer derart auf Profit ausgelegten Gesellschaft, wie wir sie sind und wie sie es vermutlich noch viel stärker sein wird, ein potentielles Einfallstor für die Frage: Wem wird Suizid, im schlimmsten Fall, irgendwann einmal nahegelegt, weil man nicht mehr verwertbar ist – aus Alters-, Krankheits- oder sonstigen Gründen? Das ist ein Zustand, den wir nicht haben wollen sollten. Aber ja, das ist extrem komplex und mir fällt es schwer, mich auf irgendeine Seite zu stellen. Ich möchte den Leuten, die das für sich in Anspruch nehmen wollen, Betroffenen, die Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung überhaupt nicht absprechen. Zugleich ist die Technisierung eines so existentiellen Schrittes zumindest fragwürdig.

PS: Ich könnte mir auch vorstellen, dass diese Art des Suizids den Leuten sozusagen ein bisschen „zu trivial“ ist. Wobei man diese ganze Angelegenheit auch als eine Art von Kenntlichmachen sehen kann. Was ich zum Beispiel bemerkenswert fand, es wurde davon gesprochen, dass diese Methode sehr „künstlich“3 sei. Diese Wortwahl wirft natürlich die Frage auf, warum denn andere Methoden „weniger künstlich“ sein sollen. Also mir kommt die große Empörung, die sich auf diesen einen Einzelfall bezieht, schon ein wenig übertrieben vor.

LW: Ja, der Begriff der „Künstlichkeit“ ist in dem Zusammenhang natürlich interessant und wahrscheinlich ist damit eher „technisiert“ gemeint. Und das verstehe ich beim Anblick dieser Kapsel. Ob das jetzt „schlimmer“ oder „weniger schlimm“ ist als eine Pille zu nehmen oder sich für eine andere Methode zu entscheiden, möchte ich nicht bewerten. Interessanter finde ich wirklich die Frage nach der Verwertbarmachung. Es scheint ja einen Bedarf zu geben, den ein Markt erkennt und da offenbar rein will. Dass es den Bedarf gibt, hat möglicherweise auch mit der Tabuisierung des Themas als solchem zu tun. Ich frage mich, ob, wenn Suizid weniger oder gar nicht tabuisiert wäre, es dann solche Auswüchse gäbe. Ich weiß das nicht, aber ich finde es interessant, darüber nachzudenken, ob die, wie du sagtest, „Kenntlichmachung“ eigentlich auf ein anderes Problem hindeutet.

PS: Dass ein großer Markt offensichtlich vorhanden ist, kann man auf jeden Fall auch daran sehen – was im Kontext der Debatte um die „Sterbekapsel“ auch diskutiert worden ist –, dass es in die Schweiz mittlerweile einen durchaus erheblichen „Sterbetourismus“, wie man sagt, gibt. Die Gesetzgebung der Schweiz ermöglicht es nämlich nicht nur Schweizer Staatsbürgern, sich beim Suizid assistieren zu lassen, sondern auch Menschen aus anderen Ländern. Zuletzt machten von dieser Möglichkeit 1.700 in der Schweiz wohnhafte und 500 aus diesem Grund angereiste Personen aus dem Ausland pro Jahr Gebrauch.4 Das ist schon viel. Es gibt in der Schweiz nur eine wirklich substantielle Einschränkung, nämlich, dass die Beihilfe zum Suizid nicht „aus selbstsüchtigen Beweggründen“5 geschehen darf.

LW: Was sind „selbstsüchtige Beweggründe“?

PS: Ja das ist halt die Frage, ob es schon als „selbstsüchtig“ bewertet wird, wenn man dafür überhaupt Geld haben möchte oder ob das Kriterium strenger ist. Das scheint mir allein auf Grundlage des Gesetzestextes nicht unbedingt selbsterklärend zu sein.

LW: Ah, „selbstsüchtig“ – meint hier nicht etwa den Betroffenen selbst, der sich suizidiert?

PS: Nein, die Person, die assistiert, darf nicht aus selbstsüchtigen Motiven handeln, das ist sehr eindeutig formuliert im entsprechenden Paragraphen. Bei der „Sterbekapsel“ ist es entsprechend auch so, dass ihre Betreiber im Augenblick kein Geld für ihre Benutzung verlangen bzw. nur die Kosten für das Gas, den Stickstoff, den sie verwenden, erstattet bekommen wollen. Aber ich gebe dir schon Recht, dass diese „Kapsel“ schon allein durch ihr Aussehen nicht zu Unrecht den Eindruck erweckt, dass daraus ein Geschäftsmodell werden könnte. Und genau das wirft natürlich sehr, sehr große Fragen auf: Werden solche Angebote dann irgendwann beworben werden? Wird’s dann irgendwann den „Luxussuizid für Reiche“ geben? Und viele mehr.

LW: Interessant ist auch, ob in der Schweiz die allgemeinen Suizidzahlen, also diejenigen, die nicht assistiert sind, die im Stillen, im Verborgenen passieren, ob die gesunken sind – oder ob durch dieses Angebot die Zahlen eher steigen. Das ist ja eine Kritik, die oft geäußert wird. Diesbezüglich bin ich mir aber nicht sicher.6 Nur weil etwas möglich ist, muss das nicht bedeuten, dass es auch in Anspruch genommen wird. Aber es scheint eine allgemeine Sorge zu geben, dass Suizid geradezu „ansteckend“ sei und Menschen durch diese Möglichkeit oder den Diskurs darum erst auf die Idee gebracht werden. Das kann man aber durchaus hinterfragen. Ich denke, entweder man ist suizidal, oder nicht – aber auch das ist ein heikles Feld.

PS: Genau, du sprichst einen wichtigen Grund an, warum dieses Thema so tabuisiert ist. Ich habe zur Vorbereitung auf dieses Gespräch verschiedene Artikel zu diesem Thema auf philosophischen Internetseiten und dergleichen gelesen und man findet eigentlich keinen Text, wo nicht zumindest am Rand der große Hinweis steht: „Wenn Sie darüber nachdenken, sich umzubringen, suchen Sie sich Hilfe“, und es wird die Telefonnummer einer psychologischen Beratungsstelle angegeben. Kommt dir diese Vorsicht übertrieben vor? Oder findest du, dass solche Hinweise auch hilfreich sein können?

LW: Ja, das ist das nächste große Fass … Da denke ich auch sofort an die „Triggerwarnungen“ und daran, wie inflationär diese derzeit verwendet werden und ob sie dann eigentlich noch das tun, was sie sollen. Da gibt es mit Sicherheit ein breites Spektrum von sehr aufrichtig gemeinten Hilfsangeboten, aber zugleich eben auch eine Art Etikette, der vorauseilend gefolgt wird und solche Artikel oder auch Kunst, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, mit Triggerwarnungen oder derlei Hinweisen versieht. Ob das irgendwem wirklich hilft oder am Problem selbst etwas ändert, weiß ich nicht, aber zumindest sehe ich diesen Trend der Triggerwarnungen kritisch. Das scheint inzwischen eine Art Standard geworden zu sein, der sich reproduziert. Ich frage mich manchmal, auf welchen Zugang zur Welt da draußen das hindeutet – vor der wir ja auch nicht gewarnt werden. Aber ja, immer wieder klarzumachen, dass es Hilfsangebote gibt, ist mit Sicherheit kein Fehler. Mir ist das Hilfsangebot lieber, als die Triggerwarnung – sagen wir so.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

II. MALA – ein Film über den Suizid einer jungen Frau

PS: Wir sitzen hier ja heute vor allem aus dem Grund zusammen, weil du einen Film zu diesem tabuisierten Thema machst – und zwar genau mit dem Anspruch, wenn ich dich richtig verstehe, da genau den Finger auf die Wunde zu legen und das Thema Suizid in durchaus provokanter Weise auf die Leinwand zu bringen. Kann man das so sagen? Ich gehe nach allem, was du bisher gesagt hast, davon aus, dass du deinem Film keine Triggerwarnung voranstellen wirst?

LW: Also erstmal zu meinen Beweggründen, das zu machen. Mein Motiv, diesen Film zu machen, ist nicht zu provozieren oder irgendeinen gesellschaftlichen Impact auszulösen. Mein Motiv ist, ein ganz spezifisches Gefühl zu beschreiben und in eine filmische Form zu bringen. Was ich damit meine, ist die Gleichzeitigkeit eines sehr stark scheinenden Äußeren und eines hoffnungslosen Inneren und einer sehr einsamen Entscheidung, die gefallen ist, bevor der Film überhaupt beginnt. Der Film zeigt nur die letzten wenigen Tage des Lebens einer jungen Frau – nach vielen Jahren des sich Quälens und Abwägens; der Erfahrung, immer wieder an denselben Punkt zu kommen und immer wieder an der eigenen Vergeblichkeit zu scheitern. Ihre Entscheidung steht und wir sehen sie nur noch wenige letzte Vorbereitungen treffen. Sie räumt im wahrsten Sinne des Wortes auf. Das alles tut sie aber, während sie Freunde trifft, ihren Job macht, sehr viel unterwegs ist, und von außen als eine toughe, starke Person gelesen wird. Darum geht es mir: zu zeigen, dass man eigentlich gerade bei scheinbar belastbaren, starken Personen besonders gut hingucken müsste. Weil das genau diejenigen sind, die über ihr eigenes Image stolpern, weil sie es für völlig unmöglich halten, darüber zu reden, wie es ihnen wirklich geht. Die meinen, alles mit sich selbst ausmachen zu müssen, und dann eine sehr einsame Entscheidung treffen. Ihr Umfeld ist dann völlig vor den Kopf gestoßen, weil es das nicht hat kommen sehen. Diese Fälle gibt es zuhauf. Das berichten Angehörige immer wieder, dass sie das gerade bei ihm oder ihr „niemals gedacht hätten“. Darum geht es mir also, das ist mein Motiv: Ein Gefühl zu beschreiben, aus der Perspektive der suizidalen Person, das in dieser Intensität nur Wenige kennen oder sich nur sehr schwer hineinversetzen können. Im Grunde geht es darum, wie es sich anfühlt, wenn man zwar noch teilnimmt am Leben, aber eigentlich abgeschlossen hat. Das ist meine Motivation, das zu machen. Wenn das dazu führt, dass sich Menschen durch diese ehrliche Darstellung provoziert fühlen, ist das nicht mein Ziel. Aber wenn es bewirkt, dass nur eine Person diesen Zustand ein bisschen besser nachvollziehen und dadurch möglicherweise aufmerksamer auf die Menschen um sich herum schauen kann, dann ist es gut. Mich bewegen vor allem persönliche, intrinsische Motive. Provokation und überhaupt eine mögliche Rezeption haben beim Schreiben des Drehbuchs keine Rolle gespielt.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

PS: Zu betonen ist an dieser Stelle, dass der Film ja noch nicht vorliegt. Ihr seid gerade in der Vorbereitungsphase, oder?

LW: Ja, wir sind in der Vorbereitungs- und Finanzierungsphase. Die geht auch schon sehr lange und gestaltet sich sehr, sehr holprig und schwierig. Denn in Deutschland gibt es ein öffentliches Filmfördersystem und man braucht, auch wenn man einen Kinofilm macht, einen öffentlich-rechtlichen Sender, der sich daran beteiligt und den Film später auswertet, nachdem er im Kino lief. Hierfür einen Partner zu finden, der dieses Thema unterstützt, ist schwer und scheitert bisher immer wieder an der Sorge vor Verantwortung. Da werden Dinge vorgebracht wie „Werther-Effekt“ – also Angst vor Nachahmung. Da wurde mir nahegelegt, ich solle doch das Ende nochmal umschreiben, und ob man nicht dasselbe erzählen könne, ohne dass sie sich letztlich suizidiert. Also es gibt auch den starken Wunsch nach einem Happy End, ganz offensichtlich. Das hat alles dazu geführt, dass wir entschieden haben: Okay, wir müssen das jetzt auf eigene Faust finanzieren. Denn wir wollen die Geschichte nicht verändern. Und wenn das in diesem System nicht funktioniert, dann müssen wir das independent machen. Wir tun gerade alles dafür, im Sommer zu drehen, ab August.

PS: Genau, und ihr habt eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, die im Augenblick auch noch läuft (Link). Also wenn man jetzt diesen Film, dieses Projekt unterstützen mag, kann man das gerne noch tun. Wie läuft die Kampagne bislang?

LW: In Wellen. Es gibt immer wieder Tage, an denen es sprungartig ansteigt und dann stagniert es wieder. Das ist unterschiedlich. Aber wir bleiben optimistisch.

PS: Ja, das ist wichtig.

LW: Und das Schöne ist, es gibt Angehörigenverbände und die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, die das Drehbuch gelesen haben und die uns da sehr drin unterstützen und das aus Präventionssicht sogar für ein wertvolles Projekt halten – gerade, weil es so schonungslos zeigt, wie es einer solchen Person gehen kann. Und das ist sowieso eine interessante Beobachtung: Ich arbeite jetzt seit sechs Jahren an diesem Projekt und was ich immer wieder feststelle, ist, dass Menschen, die sich wirklich dezidiert mit dem Thema beschäftigen, da gar nicht so eine Berührungsangst haben wie Leute, die sich damit noch nicht befasst haben. Da ist die Scheu deutlich größer.  Betroffene, Angehörige und Fachleute sind eher dafür, dass eine größere Offenheit entsteht. Denn das Tabu ist noch immer vorhanden.

Still aus dem Teaser zu MALA (2025) (Copyright: Oma Inge Film)

PS: Ja, auf jeden Fall. Du hast ja selbst vom berühmtesten Beispiel für die vermeintliche „Ansteckungsgefahr“ des Suizids gesprochen, dieser Erzählung, dass sich in den 1770er Jahren ganz viele jungen Menschen, die Goethes Werther gelesen haben, das Leben genommen haben. Stimmt das eigentlich überhaupt so, wie man es sich erzählt? Hast du dich damit mal beschäftigt? Und hast du nicht doch die Befürchtung, dass es jemanden geben könnte, der sich durch deinen Film in der Entscheidung, sich umzubringen, bestärkt fühlt, sich diese junge Frau in irgendeiner Form als Vorbild nehmen könnte?  

LW: Also meines Wissens nach ist der sogenannte „Werther-Effekt“ nicht unumstritten. Das ist das eine. Und das andere ist: Ich kann die Sorge vor Nachahmung verstehen, die ist ernst zu nehmen. Gleichzeitig weiß ich, dass mein Drehbuch und die Art und Weise, wie ich den Film erzählen will, Suizid nicht verherrlichen, das ist auch nicht mein Ansatz. Aber ich werde ihn auch nicht moralisch verurteilen. Ich zeige eine individuelle Geschichte einer Person. Und die Geschichte endet… bitter. Für alle Beteiligten ist es bitter, keiner hat so richtig gewonnen. Es hat auch niemand Schuld. Aber Mila, die Hauptfigur, hat aus ihrer Sicht auch keinen Fehler gemacht. Ich bin generell der Überzeugung, dass man ein Publikum nie unterschätzen sollte und dass Leute für sich das mitnehmen werden, was sie mitnehmen wollen. Ich glaube, intendierte Happy Ends, denen man anmerkt, dass sie gerade versuchen eine moralische Botschaft mitzugeben, sind für Betroffene deutlich schlimmer, weil sie sich dann wieder nicht gesehen und nochmal einsamer in ihrem Gefühl oder in ihrem Zustand begreifen, weil ihnen jemand zeigt: Ach, guck mal, und am Ende wird doch alles gut. Das kann die Lage sogar verschlimmern. Die Sehnsucht nach Happy Ends kommt meiner Erfahrung nach eher von denen, die nicht betroffen sind.  

Fakt ist doch: In Deutschland suizidieren sich über 10.100 Leute jedes Jahr. Das heißt, jede Stunde mindestens ein Mensch. Also, während wir hier sprechen, einer oder eine. Und wenn wir danach noch einen Kaffee trinken, noch einer oder eine. Das sind erstmal die Tatsachen. Diese Fälle gibt es und sie gibt es trotz des Tabus. Und das spricht für mich dafür, dass das Nicht-darüber-Reden nicht präventiv wirkt. Ganz offensichtlich nicht. Und deswegen halte ich diese Sorge der Nachahmung, von der wir sprachen, für nicht richtig und finde es auch interessant, auch philosophisch, sich zu fragen, wo diese gesellschaftliche Tabuisierung herrührt. Was hat sie mit religiösem Erbe zu tun, was hat sie auch mit einer Verwertungslogik, auch mit Macht zu tun? Wir alle sollen ja immer weitermachen, wir sollen ja Teil des Systems bleiben, wir sollen uns irgendwie wieder hinkriegen, uns Hilfe holen, uns einen Coach nehmen, Psychopharmaka nehmen – Hauptsache, es ist irgendwie wieder gut am Ende. Wenn man so darauf blickt, ist Suizid natürlich eine Verweigerung. Er ist – vermeintlich – nicht verwertbar und ein Ausstieg aus dem Ganzen. Und ist schon deshalb nicht gewollt. Und während ich das so sage, klingt das, als würde ich eine Brandrede für Suizid halten – das will ich gar nicht. Aber ich finde schon interessant, warum ein so stark verbreitetes Problem – es sind unheimlich viele: mehr als im Straßenverkehr, durch Gewalt und durch Drogen zusammen, jedes Jahr – so unbekannt ist. Kaum jemand weiß das. Fast niemand, mit dem ich über dieses Thema rede, kennt diese Zahlen. Warum ist das so? Warum machen wir so einen Bogen darum? Das kann nicht richtig sein. Und das scheint eben nicht präventiv zu wirken, sonst wären die Zahlen nicht so hoch.

Jacques-Louis David: Der Tod des Sokrates (1787) (Link)

III. Zur Philosophie des Suizids

PS: Dem kann ich auf jeden Fall folgen. Und du sprichst da auch gerade eine wichtige Facette an. Genau, der Suizid ist ja schon seit vielen Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden, ein wichtiges Thema in der Philosophie, über das viel geschrieben worden ist. Was man auf jeden Fall sehr grob sagen kann und was auch von Nietzsche oft thematisiert wird, ist, dass es da einen sehr großen Gegensatz zwischen der vorchristlichen, also der antiken, Sicht und dann der christlichen Sicht gibt. Also, in der Antike war es so, dass es dieses Tabu bezüglich des Suizids eigentlich noch gar nicht gab. Es war im Gegenteil so, dass man durchaus der Auffassung war, dass es unter bestimmten Umständen geboten sein könnte, sich das Leben zu nehmen, um einer Entehrung zu entgehen. Es war eben wichtiger, einen ehrenvollen Tod zu sterben, als irgendwie am Leben zu bleiben, aber unter Umständen leben zu müssen, die als vollkommen unerträglich empfunden worden wären. Man kennt ja zum Beispiel den Suizid von Sokrates: Er ist zum Tode verurteilt worden und sieht sich nun vor die Wahl gestellt, zu fliehen und ins Exil zu gehen oder aber das Todesurteil an sich selbst durch das Trinken eines Giftbechers zu vollziehen. Zum Entsetzen all seiner Freunde, die ihm sehr zureden, dass er doch die erste Option wählen soll, trinkt er eben den Giftbecher genau aus dem Grund, dass er sagt: Naja, ich bin doch von der Stadt mein ganzes Leben lang ernährt worden, meine ganze Identität hängt daran, dass ich eben Bürger dieser Stadt bin, da kann ich doch jetzt nicht weglaufen, wenn die Stadt anderer Meinung ist als ich. Ein weiteres, weniger bekanntes, Beispiel ist der Philosoph Empedokles, der sich der Legende nach in einen Vulkan gestürzt haben soll. – Also ja, das große Tabu ist eigentlich erst durch das Christentum in die Welt gebracht worden. Wie nimmst du es wahr: Würdest du auch sagen, dass unsere Kultur da bis heute noch sehr stark vom Christentum geprägt ist, oder würdest du andere Motive für ausschlaggebender halten?

LW: Ja, ich denke, dass das noch sehr tief greift, die religiöse Idee der Ursünde, die man zu ertragen hat. Und wenn man Buße tut, sich an Gebote hält und so weiter, dann winkt irgendwann das Paradies. In so einem Kontext ist der selbst gewählte Tod natürlich undenkbar. Ich denke schon, dass das noch sehr weitreichende Auswirkungen hat. Und hinzu kommt sicherlich, dass in unserer westlichen Lebensweise, diesem neoliberalen System, es für jedes Problem auch eine Lösung geben soll und eine Form des Funktionierens und Sich-Optimierens. Das macht es schwer für Menschen, die immer wieder an den Punkt geraten, darin eben nicht zu funktionieren. Und die auch mit allen möglichen Hilfsmitteln nicht funktionieren und daran dann kaputt gehen. Ich denke, die Religion, die Idee des Freitods als Sünde, hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen, wie wenig wir heute darüber sprechen. Wie schambehaftet das noch immer ist. Die Rezeption von Gewalt gegen sich selbst und Gewalt gegen andere ist generell erstaunlich unterschiedlich. Gewalt gegen Andere, Machtausübung über Andere, ist derart akzeptiert – und auch medial und in der Kunst völlig normalisiert – aber Gewalt gegen sich selbst ist ein Tabu. Das ist doch sehr erstaunlich.

PS: Schön, du bringt uns jetzt eigentlich von selbst genau an den Punkt, auch über Nietzsche zu sprechen, der, wie, wie ich denke, hinreichend bekannt ist, in dieser Hinsicht, wie in vielen anderen Hinsichten auch, sehr stark versucht, an diese vormoderne Sichtweise anzuknüpfen. Er spricht an verschiedenen Stellen in seinem Werk vom „freien Tod“. Im Zarathustra heißt es zum Beispiel: „[S]tirb zu rechten Zeit!“7. Man soll also auch noch den Tod nicht dem Zufall überlassen, man soll den Zeitpunkt, zu dem man stirbt, selbst bestimmen und man soll ihn so wählen, dass man im Zweifelsfall nicht entehrt wird, also nicht ein Dasein fristen muss, das man nicht verantworten kann bzw. das nicht mehr mit seinem Selbstverständnis vereinbar ist.8 Da grenzt sich Nietzsche natürlich sehr stark vom Christentum, aber auch vom philosophischen Mainstream eigentlich, seiner Zeit ab. Sowohl bei Schopenhauer, der ja sein wichtigster philosophischer Lehrmeister gewesen ist, als auch bei Kant und Hegel, findet man sehr klare und sehr deutliche Verurteilungen des Suizids und Nietzsche versucht das eben umzuwerten.

LW: Was für Verurteilungen?

PS: Aus sehr unterschiedlichen Gründen. Bei Schopenhauer würde man ja auf den ersten Blick denken, dass er den Suizid befürworten würde.

LW: Das hätte ich jetzt auch vermutet.

PS: Ja, es gibt auch einen sehr interessanten Philosophen, den man in dieser Hinsicht nicht unerwähnt lassen sollte, der auch von Nietzsche gelesen worden ist: Philipp Mainländer, der in seinem Hauptwerk – so viel ich weiß auch sein einziges Werk – mit dem Titel Philosophie der Erlösung den Suizid ausgehend von ähnlichen Prämissen wie Schopenhauer geradezu zur Pflicht erklärt. Man soll sich umbringen, um den furchtbaren Willen zum Leben zum Erlöschen zu bringen – und er hat sich auch kurz nach der Vollendung dieses Buches das Leben genommen. Aber Schopenhauer selbst schreibt, dass der Suizid quasi eine unvollkommene Art ist, sich aus dem Leben zu „schleichen“, da die Motive dazu, sich umzubringen, eigentlich noch dem Willen zum Leben entsprechen; also er sieht da eine gewisse Selbstwidersprüchlichkeit des „Selbstmörders“.

LW: Weil das Leiden am Leben noch einen Willen bedeutet?

PS: Genau, also die konsequente Willensverneinung ist für ihn nur die Askese, die auch noch den Schmerz und das Leid auf sich nimmt.

LW: Was würde Nietzsche dem entgegnen?

PS: Ich habe tatsächlich keine Stelle gefunden, wo er sich explizit mit dieser Suizidkritik von Schopenhauer beschäftigt.9 Seine Kritik liegt eigentlich auf einer sehr grundsätzlichen Ebene, weil Nietzsche sagen würde, dass man gar nicht anders kann, als den Willen zum Leben zu bejahen: Auch noch der Schopenhauer’sche Asket ist eigentlich noch jemand, der das Leben bejaht im Innersten, und aus dem Grund funktioniert der Maßstab der Kritik von Schopenhauer für Nietzsche gar nicht mehr.10 Kannst du mir folgen?

LW: Ja, das ist glaube ich der Grund, warum es eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen gibt. Aus einer lebensbejahenden Perspektive ist das schlicht nicht nachvollziehbar.

PS: Wobei für Nietzsche ja der freie Tod des „Herrenmenschen“ gerade ein Ausdruck von Lebensbejahung wäre, gerade keine Verneinung, weil eine heroische, selbstbestimmte Art zu leben einem bloßen Dahinvegetieren oder einem fremdbestimmten Dasein vorgezogen wird.

LW: Das klingt nach einem sehr rationalen Zugang, da scheint es weniger um das Leiden zu gehen.

PS: Ja, genau. Was jetzt aber spannend ist, ist, dass es in den Gedanken von Nietzsche zu dem Thema noch einen weiteren Aspekt gibt. Er würde nämlich eigentlich sagen, dass die gesamte christliche Kultur, also eigentlich die Kultur bis heute, durch den Grundwiderspruch gekennzeichnet ist, dass sie auf der einen Seite sehr lebensverneinend ist,11 es aber auf der anderen Seite genau verbietet, diesen freien Tod zu wählen. An manchen Stellen geht er sogar so weit zu sagen, dass sich die große Mehrzahl der Menschen eigentlich umbringen müsste, sie werden von der christlichen Moral aber abgehalten und quasi künstlich am Leben erhalten.12 Was sagst du zu dieser ja doch recht provokanten Sicht?

LW: Ich muss da an Roberto Espositos Immunitas denken. Er sagt dort: In der Theologie, auch im Recht, und auch auf anderen Ebenen, gibt es dieses Bild der Immunisierung, einer vermeintlichen Immunisierung. Man setzt etwas bewusst ein, im Fall der Religion eine immanente Sündhaftigkeit, die man dem Menschen zuschreibt – um ihn dann durch Regeln und Zwang vor der Sünde zu schützen. Durch Gewalt also, die sich so permanent reproduziert. Aus Machtsicht, aus religiöser Sicht, wird behauptet, dass es nötig sei, mit Normen und Regeln gegen den menschlichen Mangel, die Sünde, anzugehen – eigentlich werden die Menschen aber erst sündig gemacht durch ein Regelwerk, das kein Mensch je vollständig befolgen könnte. Die Gewalt oder Macht setzt den Mangel – das negative Menschenbild – bewusst ein, um ihre Machtposition zu untermauern. Das klang gerade bei mir an, als du von Nietzsche sprachst. Ich finde das sehr nachvollziehbar. Da steckt eine große Unfreiheit drin.

Esposito sagt auch, da schneidet man dem Leben eigentlich ein Stück Lebendigkeit ab. Ein Widerspruch, der schwer zu erkennen ist, wenn man sich den Luxus der Distanz nicht leisten kann. Das passiert permanent, wird geradezu institutionalisiert und gleichzeitig ist aber, wie gesagt, Gewalt gegen sich selbst so ein Tabu. Dieses Paradox interessiert mich wahnsinnig. Gerade in so einer zunehmend individualisierten Welt; den Verhältnissen, in denen wir leben; der Art und Weise, wie wir wirtschaften; wie wir miteinander umgehen; wie wir kommunizieren; welche Technologien wir nutzen und so weiter: Wir beschneiden uns permanent in unserer Lebendigkeit und das scheint okay. Aber wenn jemand sein Leben beendet, dann ist das ein Problem.

PS: Man könnte sogar mit Nietzsche, der genau das schreibt,13 durchaus die Frage aufwerfen, wenn zum Beispiel Soldaten in den Krieg ziehen oder auch sich irgendwelche Märtyrer für ihren Glauben opfern, ob das nicht auch Formen des Suizids sind de facto, die aber nicht als solche geframt werden und als vollkommen okay gelten. Wenn sich die Menschen für irgendwelche von der Gesellschaft gesetzten Ideen aufopfern, dann ist das völlig in Ordnung oder wird sogar gefeiert, aber sobald sie sich genau dem durch Suizid entziehen wollen, ist es plötzlich furchtbar schlimm und die größte Sünde, die man sich überhaupt denken kann.

LW: Und sie soll keine Schule machen! Ich habe ja auch als Journalistin gearbeitet, einige Jahre. Da ist auch der Pressekodex interessant, über Suizid nicht zu berichten – außer, es ist eine sehr prominente Person, dann gilt das komischerweise nicht. Wir berichten über den Massenunfall auf der Autobahn und den Brand, bei dem Menschen umkommen. Über alle möglichen Formen von Gewalt, Kriminalität, über Kriegsopfer. Beim Thema Suizid ist die Begründung darüber nicht zu berichten der Schutz der Angehörigen – der uns in all den anderen Fällen nicht interessiert. Da habe ich immer wieder Fragezeichen, warum das so sein soll.

Louis Mayer: Der Philosoph Empedokles in der Nähe der Gipfel des Ätna (1778) (Link)

PS: Ich möchte, wenn wir langsam zum Ende dieses Gesprächs kommen, auf zwei Probleme hinweisen, die auch Nietzsche betreffen. Ich habe ja davon gesprochen, dass er an verschiedenen Stellen den Begriff vom „freien Tod“ so hochhält. Es gibt so eine Stelle aus dem Spätwerk, wo er in diesem Zuge auch den, vielleicht berüchtigten, Satz fallen lässt: „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft.“14 Dieser Satz entbehrt vor dem Hintergrund, dass Nietzsche nur kurze Zeit später ja selbst zu einem solchen „Parasiten“ wird, natürlich nicht einer gewissen Ironie. Aber was er an dieser Stelle dann schon schreibt, ist genau, dass, wenn man in Gefahr läuft, zu einem „Parasiten“ zu werden, eben durchaus die Pflicht hat, sich umzubringen und sogar die Ärzte sollen einen dann auch quasi dazu bringen, um diesen Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Ist das nicht auch eine große Gefahr an diesem ganzen Diskurs über Sterbehilfe, dass diese Debatte sehr leicht in eine ganz schräge und fragwürdige, durchaus auch neoliberale, Richtung kippen könnte?

LW: Absolut ja, deswegen habe ich das ja am Anfang schon kurz erwähnt. Das Problem, dass eine Art Gewöhnung an diese Möglichkeit besteht, die sich dann Schritt für Schritt, im schlimmsten Fall, zu einer Empfehlung oder Nahelegung, dass es doch jetzt mal so weit sei, weil man keinen Beitrag mehr zur Gesellschaft leistet, entwickeln kann. Weil man nicht funktional ist, aus diversesten Gründen. Das ist eine enorme Gefahr. Von der Frage, in wessen Händen oder Ideologien solche Entwicklungen zur Waffe werden können, ganz zu schweigen. Aber selbst gesetzt den Fall, die politischen Zustände blieben ungefähr, wie sie sind, selbst dann ist der Einfluss eines möglichen Marktes absolut kritisch zu sehen in dem Bereich.

PS: Das bringt mich auf eine Folgefrage. Nietzsche hat diesen ganz starken Begriff vom freien, selbstbestimmten Tod. Aber wo und wie kann man da eigentlich genau die Grenze ziehen? Ist es wirklich möglich, vollkommen selbstbestimmt zu sterben? Oder gibt es nicht doch immer irgendwelche gesellschaftlichen Faktoren, die einen doch sehr subtil zum Suizid treiben könnten? Und wird er dann nicht doch wieder sehr unfrei?

LW: Ja, wir sind ja nicht im luftleeren Raum, natürlich. Wir sind Produkt der Verhältnisse, in denen wir leben. Und können allein an diesen Verhältnissen so stark leiden, dass wir in ihnen nicht länger leben wollen oder können. Das kann ein Beweggrund von vielen anderen sein. Das ist mir auch in der Geschichte, die ich erzähle, ganz wichtig. Dass es nicht den einen, identifizierbaren, nachvollziehbaren Grund gibt. Und dass auch die Figur keine Diagnose hat. Das ist übrigens für bestimmte Förderungen und mögliche Finanziers auch ein Problem – was interessant ist. Es gibt eine große Sehnsucht nach Diagnosen, nach einer klaren Kategorisierbarkeit – Was hat sie denn? Was ist das? – nach dem einen nachvollziehbaren Grund. Wenn man den nicht liefert, und das tue ich sehr bewusst, dann sorgt das für Irritationen. Auch das ist interessant. Aber aus Präventivsicht übrigens genau richtig: eine komplexe Figur, die keine nachvollziehbare Kausalkette liefert.  

Ich bin sehr für geistige Mündigkeit und für Selbstbestimmtheit, aber die findet ja immer in den Grenzen der Verhältnisse statt, in denen wir uns befinden. Man könnte bei jeder getroffenen Entscheidung fragen: War die wirklich selbstbestimmt? Wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem … Wir kommen ja immer wieder an den Punkt: Suizid findet statt, es passiert ja. Und, wie gesagt, vielleicht würde es – These – sogar weniger passieren, wenn es das Tabu nicht gäbe. Weil die Verzweiflung darüber, dass man sich damit so allein und so unverstanden fühlt, gemildert werden könnte.  

PS: Wenn ich noch eine Frage zum Schluss stellen darf: Also was ich mich, ganz abseits von Nietzsche, frage als Philosoph, oder was meine eigene Kritik am Suizid wäre: Du hast ja auch von einer „einsamen Entscheidung“ schon gesprochen; ob das Problem des Suizids nicht eigentlich ist, dass man sich selbst eben vollkommen aus den gesellschaftlichen Beziehungen, in die man verstrickt ist, herausbeamt in gewisser Weise, zunächst mal scheinbar eine Entscheidung trifft, die einen nur selbst angeht, die aber auch zur gleichen Zeit durchaus Auswirkungen auf andere hat. Das ist ja vielleicht doch eigentlich einer der Gründe, warum das Thema so emotional besetzt ist, weil viele Menschen, wahrscheinlich so gut wie alle, in ihrem Bekanntenkreis Menschen haben, die sich umgebracht haben. Was ich sagen will: Dass sich Menschen, die sich umbringen, sich da eigentlich in einer Selbstwidersprüchlichkeit zu bewegen scheinen, also einerseits das ignorieren, dass die anderen trauern werden, sich auch Vorwürfe machen werden und vieles mehr, aber zur gleichen Zeit vielleicht doch diese Nachwirkung einkalkulieren und sich vielleicht in irgendeiner Form rächen wollen an der Nachwelt und die anderen in Trauer und Zweifel stürzen wollen. Also ich will nicht behaupten, dass das bei allen der Fall ist oder auch nur bei der Mehrheit – aber ist das nicht ein Problem?

LW: Das ist bestimmt eine mögliche Sicht, die wahrscheinlich auch recht verbreitet ist. Aber ich möchte der ganz entschieden noch eine andere Perspektive gegenüberstellen: nämlich die, dass Suizid, gerade wenn es viele soziale Verstrickungen und Beziehungen gibt, keine Entscheidung gegen diese Leute ist, sondern das Ende eines teilweise langjährigen Versuchs für dieses Umfeld weiterzuleben und daran aber zu scheitern. Das ist mir sehr wichtig und das ist es auch, was Angehörigenverbände immer wieder betonen: Suizid ist keine Entscheidung gegen jemanden, sondern eigentlich das Scheitern am Versuch für Andere weiterzumachen. Das finde ich eine ganz wichtige Perspektive darauf, die das auf keinen Fall verherrlichen, sondern nur zeigen soll – und darüber kennen wir natürlich keine Zahlen oder so – dass es in der Mehrzahl wahrscheinlich keine leichtfertigen Ad-hoc-Entscheidungen sind, sondern solche, die einen langen, leidvollen Vorlauf hatten. Und dass es sich diese Menschen wahrlich nicht leicht gemacht haben.

PS: Ja, das kann ich auch auf jeden Fall nachvollziehen, dass man das natürlich auch so betrachten kann und in vielen Fällen auch muss. Ja, dann vielen Dank nochmal. Gibt es irgendwas, was du zu diesem Thema noch unbedingt loswerden willst?

LW: Da gibt es bestimmt noch ganz viel, aber ich belasse es mal dabei: Wir sollten alle mehr darüber sprechen.  

PS: Dem kann ich mich auf jeden Fall anschließen und ich glaube, die verschiedenen Stellen bei Nietzsche, auf die wir uns bezogen haben, könnten da auf jeden Fall auch ein gutes Material bieten und sollten definitiv mehr gelesen werden. Was ich vielleicht zum Abschluss noch empfehlen kann, ist der Roman Veronika beschließt zu sterben von Paulo Coelho, der sogar ein bisschen nietzscheanisch ist und mich auch persönlich sehr bewegt hat. Kennst du den?

LW: Es gibt da auch einen Film, ja.

PS: Den kenne ich wiederum nicht. Also ich kann allen, die dieses Gespräch gelesen und vielleicht Suizidabsichten haben, diesen Roman sehr empfehlen – und natürlich auch, Hilfe zu suchen, das ist ja auch klar.

Lou Wildemann ist Autorin und Regisseurin aus Leipzig. Zuvor hat sie einige Jahre als freie Journalistin fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen gearbeitet. Sie hat Politikwissenschaften (BA), Kulturwissenschaften (MA) und Philosophie (MA) studiert.  

Link zur Crowdfunding-Kampagne des Films MALA

Artikelbild: Johann Heinrich Tischbein d. Ä.: Selbstmord der Dido (1776) (Link)

Fußnoten

1: Anm. der Red.: Um die problematischen moralischen Konnotationen des traditionellen Begriffs „Selbstmord“, auf die uns Lou Wildemann im Nachgang des Gesprächs aufmerksam machte – impliziert der Ausdruck „Mord“ doch eine Tötung aus niederen Beweggründen –, zu vermeiden, verwenden wir im Folgenden andere Formulierungen.

2: Vgl. den Eintrag zu ihm auf der englischsprachigen Wikipedia.

3: So Dieter Birnbacher in einem Beitrag für Brisant (Link).

4: Vgl. swissinfo.ch.

5: Art. 115 des Schweizer Strafgesetzbuchs. Es handelt sich also um die Abwesenheit eines Verbots und keine explizite Erlaubnis (vgl. Giovanni Maio im Gespräch mit dem SWR).

6: Anm. d. Red.: Die in Fn. 4 zitierte Statistik registriert einen rasanten Anstieg der Fälle von assistiertem Suizid in den letzten 20 Jahren, fast eine Verzehnfachung. Gleichzeitig nehmen die Fälle von Suizid mit anderen Methoden seit den späten 90ern stark ab, was eine gewisse Korrelation nahelegt. Insgesamt bleibt die Suizidrate relativ konstant (vgl. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium).

7: Also sprach Zarathustra, Vom freien Tode.

8: Vgl. auch Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 185.

9: In einem Nachlassfragment von 1875 (Link) scheint Nietzsche die diesbezüglichen Gedanken Eugen Dührings zu paraphrasieren.

10: So etwa die Quintessenz der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral.

11: „Staat nenne ich’s, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller – ‚das Leben‘ heisst“ (Also sprach Zarathustra, Vom neuen Götzen).

12: In einem an Paul Lanzky gerichteten Briefentwurf von 1884 schreibt er etwa: „Was habe ich mit Denen zu thun, die kein Ziel haben! Mein Leibrezept, beiläufig bemerkt, ist, in Hinsicht auf Solche, – Selbstmord. Aber er mißräth gewöhnlich, aus Mangel an Zucht.“ In einem Nachlassfragment von 1880 definiert er das Christentum genau „als große Pöbel-Bewegung des römischen Reichs […] aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Muth dazu nicht hatten; sie suchten mit Inbrunst ein Mittel, ihr Leben auszuhalten und aushaltenswerth zu finden“. Vgl. auch ein anderes Fragment von 1888.

13: Vgl. zu dieser Selbstwidersprüchlichkeit des Christentums Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 131. In Aphorismus 338 desselben Buches heißt es: „[D]er Krieg ist […] ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen“.

14: Götzen-Dämmerung, Streifzüge 36.

„Stirb zur rechten Zeit!“

Nietzsches Ethik des „freien Todes“ im Kontext gegenwärtiger Debatten über den Suizid

Ein Gespräch mit der Filmemacherin Lou Wildemann

Lou Wildemann ist Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin aus Leipzig. Ihr aktuelles Spielfilmprojekt, MALA, beschäftigt sich mit dem Suizid einer jungen Bewohnerin der Nietzsche-Stadt. Paul Stephan diskutierte mit ihr über dieses provokante Vorhaben und das Thema der Selbsttötung im Allgemeinen: Wieso ist es bis heute ein Tabu? Sollten wir mehr darüber sprechen? Welche Rolle können die Reflexionen Nietzsches, der immer wieder über dieses Thema nachdachte, dabei spielen? Was bedeutet der Suizid in einer immer gewaltvoller werdenden neoliberalen Gesellschaft?

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

5.5.25
Paul Stephan

Wie in unserer Artikelserie „Wanderungen mit Nietzsche“ bereits deutlich wurde, spielt die Metapher des Wanderns in Nietzsches Werk eine fundamentale Rolle. In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient und er damit ein zentrales Leitthema der kulturellen Moderne variiert, das sich u. a. auch den Schriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren wurde, wo er am 11. November 1855 auch verstarb, entnehmen lässt.

I. Das moderne Leben als Wanderschaft über dem Nebelmeer

Metaphern der Bewegung dienen seit jeher der Beschreibung von Grundmodi der Existenz. Im Sinne von Hans Blumenbergs Konzept der „absoluten Metapher“ verdichtet sich in ihnen das Lebensgefühl einer ganzen Kultur und anhand von ihnen lässt sich ablesen, was ihr Weltzugang ist. Insofern die Menschen ihr Leben überhaupt in einer Bewegungsmetapher beschreiben, wäre zu differenzieren zwischen dem Ziel der Bewegung und der Art, wie dieses Ziel erreicht wird. Man denke an die Irrfahrten des Odysseus oder den Kreuzweg Christi als sinnstiftende Erzmythen, an die mittelalterlichen Vorstellungen vom Leben als einer die Passion wiederholenden Pilgerfahrt oder als Seefahrt, die einmal durch alle Stürme und Gefahren hindurch doch in einem sicheren Hafen, dem Himmelreich, münden wird.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in der Moderne, wird es immer weniger plausibel, das Leben als eine Bewegung zu interpretieren, die mit irgendeinem Ziel verbunden ist. Jean-Jacques Rousseau etwa als Vorläufer des modernen Weltempfindens inszeniert sich in seinen Schriften als einsamer Wanderer und Spaziergänger, der „like a rolling stone“ von den Zufällen des Lebens hin- und hergeworfen wird, ohne ernsthaft darauf hoffen zu können, jemals an ein Ziel zu kommen – jedenfalls in dieser Welt. Eine Verschnaufpause erlebt er nur im isolierten Naturgenuss, fernab von der sich entwickelnden industriellen Hektik der Städte; insbesondere am Bieler See, wo er auf der Flucht aus Frankreich einige Wochen verweilt, und in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers davon berichtet, wie ihn dort, auf einem Boot ziellos auf dem Wasser treibend, ein kurzer Augenblick höchsten Glücks ereilt. Etwa 200 Jahre später wird Adorno in dem berühmten Aphorismus Sur l’Eau – „Auf dem Wasser“ – diese Metapher aufgreifen und zum utopischen Leitbild umdeuten: Der Glauben der klassischen Moderne an einen permanenten Fort–Schritt der Menschen hat sich als ewige Hetzjagd, als sinnloses „Vorlaufen in den Tod“ entpuppt, das der Emigrant, ganz im Geiste des „Bürgers von Genf“ und sehr anders als Heidegger, nicht mehr heroisch bejahen möchte, sondern ihm die Vision einer Menschheit entgegenstellt, die nicht mehr zwanghaft irgendetwas nachjagen müsste. Der letzte Traum des modernen Menschen: einfach mal zur Ruhe kommen.

Die Moderne schwankt so zwischen dem Leiden an der ewigen Rastlosigkeit und der gleichzeitigen Sehnsucht nach Stille und ruhigem Dahingleiten einerseits und verschiedenen Weisen der Bejahung dieses Schicksals andererseits; sei es als Fortschrittserzählung – die freilich kein rechtes „Ende der Geschichte“ mehr auszurufen vermag, sondern nur noch die Permanenz immer neuer Stufen –, sei es als nihilistischer Heroismus des beständigen Vorankommens (beide Versionen nähern sich offensichtlich aneinander an), sei es schließlich als ästhetisch-spielerische Bejahung des haltlosen Tändelns und Umherschweifens, etwa in den Figuren des Dandys und des Flaneurs, die die Künstler und Literaten des 19. Jahrhunderts faszinierten.

Der Metapher des Wanders, als Kulturtechnik überhaupt erst im 18. Jahrhundert, u. a. von Schriftstellern wie dem Bergfreund Rousseau erfunden, kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Man denke nur an Caspar David Friedrichs ikonisches Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (siehe Artikelbild; um 1818), das die Cover von zahllosen Darlegungen über Existenzphilosophie ziert. Der auf sich selbst zurückgeworfene Stadtbürger sucht in der Natur nach einer Ordnung, die ihm das Chaos seiner Existenz irgendwie verständlich macht – doch findet nur Nebelschwaden und die bizarren Felsformationen (vermutlich) der Sächsischen Schweiz. Ob sich hier doch der Hauch einer Transzendenz oder das Wirrwarr wabernder Dämonen zeigt, beide Deutungen des Gemäldes scheinen möglich, ist eine Frage, die das Gemälde selbst letztendlich dem Betrachter selbst überlässt. Das Bild dominiert, anders als Landschaftsgemälden früherer Dekaden, nun nicht mehr die Natur, sondern der Mensch, dem sie immer mehr zur reinen Projektionsfläche gerinnt.

Caspar David Friedrich: Die Lebensstufen (um 1835)

II. Wanderungen durch Jütland, Spaziergänge durch Kopenhagen

Nietzsches vielleicht wichtigster geistiger Weggefährte im 19. Jahrhundert, der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, hat in dem tagebuchartigen Roman „Schuldig?“ – Nicht Schuldig?“ mit Quidam den vielleicht ersten „Helden“, wenn man ihn überhaupt noch so nennen kann, der modernen Existenz geschaffen. Einen ewig zweifelnden „dämonischen“ Menschen, der daran zu Grunde geht, sich nicht sicher zu sein, ob er ein „Mädchen“ liebt oder nicht, der gleichzeitig meint, sie lieben zu müssen, aber nicht lieben zu können. Ist er schuldig – oder nicht? Ähnlich wie später K. in Kafkas Protokollen des Normalwahnsinn moderner Individualität vermag er es sich nicht zu beantworten und kreist so im „Adlerhorst“ seiner verlorenen Existenz. Er beschreibt den Blick ins Nichts, den Friedrichs Wanderer wagt, wie folgt:

[N]ach Etwas ausblicken, schärft das Auge, aber nach Nichts ausblicken, strengt es an. Und wenn das Auge lange nach Nichts ausblickt, so sieht es zu guter Letzt sich selbst, d. h. sein eignes Sehen; ebenso zwingt die Leere um mich herum meinen Gedanken wieder in mich selbst zurück.1

Ganz ähnlich wird Nietzsche später schreiben: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“2.

Doch lässt sich diese unstete Lebensform nicht auch genießen, anders als Quidam und K., die verzweifelt nach einem Ausweg suchen? Kierkegaard hat in seinem anderen großen Tagebuchroman, dem Tagebuch des Verführers, als einer der ersten die Phänomenologie eines solchen Dandytums verfasst. Sein Verführer ist davon besessen, immer wieder den Rausch der Verliebtheit zu erleben und inszeniert diese als ästhetisches Spektakel mit immer neuen „Mädchen“ als unfreiwilligen Statistinnen, die er mit manipulativen Methoden in seinen Bann zieht, bis sie ihm verfallen und langweilig werden – das Püppchen hat dann seinen Dienst getan und wird durch eine Nachfolgerin ersetzt.

Man mag sich darin wiedererkennen – oder auch nicht. Der Verführer mag sein Leben genießen, doch Zweifel sind angebracht, ob er in seiner Getriebenheit nicht dem religiösen Quidam in Wahrheit viel ähnlicher ist, als ihm lieb ist. Jener weiß im Gegensatz zu diesem nur nicht, dass er verzweifelt ist – in Kierkegaards Analyse sind sie es beide. In der Einleitung des Diariums vergleicht der fiktive Herausgeber der Schrift, der „Aesthetiker“ A, das unstete Dasein dieses, wenn auch subtiler agierenden, Prototyps der heutigen pick up-artists nicht von ungefähr mit demjenigen eines rastlosen Wanderers:

Gleich wie er andre irregeführt hat, so wird er, denk’ ich, damit enden, selber irrezugehen. Die andern hat er nicht in äußerlicher Hinsicht irregeführt, sondern in inwendiger betreffs ihrer selbst. Es liegt etwas Empörendes darin, wenn jemand einen Wanderer, der des Weges halben ratlos ist, auf verkehrte Pfade lenkt, und ihn dann als Verirrten sich selbst überläßt, und wie wenig bedeutet das doch im Vergleich damit, einen Menschen dahin zu bringen, daß er in sich selbst irregeht. Der irregehende Wandrer hat doch den Trost, daß die Gegend um ihn sich fort und fort verändert, und mit jeder Veränderung erzeugt sich eine Hoffnung, daß er einen Ausweg finden werde; wer in sich selbst irregeht, hat kein großes Gebiet, auf dem er sich bewegen kann, er merkt bald, daß es ein Gehen im Kreise ist, aus dem er nicht herauskommt. Ebenso, denk ich, wird es auch ihm ergehen nach einem Maßstabe, der noch weit furchtbarer ist. Ich kann mir nichts Gequälteres denken als einen intriganten Kopf, welcher den Faden verliert, und nun seinen ganzen Scharfsinn wider sich selbst kehrt, während das Gewissen erwacht und es gilt, sich aus diesem Irrsal loszureißen. Vergebens hat er viele Ausgänge bei seinem Fuchsbau, in dem Augenblick, da seine geängstete Seele bereits glaubt, sie sehe das Tageslicht einfallen, zeigt es sich, daß es ein neuer Eingang ist, und dergestelt sucht er gleich einem aufgescheuchten Wilde, von der Verzweiflung verfolgt, immerzu einen Ausgang und findet immerzu einen Eingang, durch welchen er in sich selbst zurückkehrt. Solch ein Mensch ist nicht immer das, was man etwa einen Verbrecher nennt, oft ist er selbst von seinen Intriguen getäuscht, dennoch trifft ihn eine furchtbarere Strafe als den Verbrecher; denn sogar, daß das Gewissen erwacht, ist, über ihn gesagt, ein zu ethischer Ausdruck; das Gewissen nimmt für ihn lediglich die Gestalt eines höheren Bewußtseins an, welches sich in Unruhe äußert, die ihn noch nicht einmal in tieferem Sinne anklagt, aber ihn wachhält, ihm keine Ruhe gönnt in seiner unfruchtbaren Rastlosigkeit.3

Wie dieser Verzweiflung im Herzen der eigenen Seele, wie dem modernen Nihilismus entkommen? Kierkegaards Lösung: Der „Sprung in den Glauben“; wieder zum Pilger werden, das Leben wieder als Kreuzweg in den Fußstapfen Christi und der Märtyrer betrachten lernen. Diese Bejahung des Lebens als Gewaltmarsch ist es, die Quidam einzig von seiner Desperation befreien könnte; er könnte es dann als göttliche Prüfung begreifen. Doch Kierkegaard betont immer wieder, dass das Subjekt nicht aus eigener Anstrengung in den Glauben gelangen, sondern dazu nur von Gott selbst berufen werden kann. – Eine einfache, allzueinfache Lösung. Man muss halt aufhören zu denken, dann wird’s Leben leicht. Ist das noch ernstzunehmende Philosophie oder schon stumpfester Wahnwitz, rhetorisch ungemein geschickt verpackt? Wohl noch nie hat einer so raffiniert, klug und wortgewandt, so: modern, für die Verblödung argumentiert.

Link zu Teil 2.

Quellen

Kierkegaard, Søren: „Schuldig?“ – Nicht Schuldig?“. Stadien auf des Lebens Weg, Bd. 2. Gesammelte Werke und Tagebücher. 15. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Gütersloh & München 1994.

Ders.: Das Tagebuch des Verführers. Entweder / Oder. Erster Teil, Bd. 2. Gesammelte Werke und Tagebücher. 1. Abt. Übers. v. Emanuel Hirsch. Simmerath 2004.

Quelle für alle verwendeten Bilder: Wikipedia

Fußnoten

1: S. 379.

2: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 146.

3: S. 330 f.

Zwischen Ungeheuern und Abgründen

Wanderungen durch den Nihilismus der Moderne auf den Spuren Nietzsches und Kierkegaards – Teil 1

Wie in unserer Artikelserie „Wanderungen mit Nietzsche“ bereits deutlich wurde, spielt die Metapher des Wanderns in Nietzsches Werk eine fundamentale Rolle. In diesem zweiteiligen Essay untersucht Paul Stephan, inwiefern bei Nietzsche der Wanderer als Personifikation des modernen Nihilismus dient und er damit ein zentrales Leitthema der kulturellen Moderne variiert, das sich u. a. auch den Schriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren wurde, wo er am 11. November 1855 auch verstarb, entnehmen lässt.

Die Affen tanzen unerklärlich. Nietzsche und die zeitgenössische Tanzkultur

Reflexion, Bewegung, Misere

Die Affen tanzen unerklärlich. Nietzsche und die zeitgenössische Tanzkultur

Reflexion, Bewegung, Misere

3.5.25
Jonas Pohler

Neben dem Wandern ist das Tanzen einer der prominentesten Soldaten in Nietzsches „bewegliche[m] Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“. Jonas Pohler geht anhand von Nietzsches Überlegungen zur Bewegungskunst der überragenden Bedeutung nach, die sie in unserer Gegenwart spielt. Ist die Wirkung des Tanzes primär eine sexuelle? Was hat Tanz mit Technik zu tun? Welche Symbolik vermag die tänzerische Geste zu transportieren?

Neben dem Wandern ist das Tanzen einer der prominentesten Soldaten in Nietzsches „bewegliche[m] Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“. Jonas Pohler geht anhand von Nietzsches Überlegungen zur Bewegungskunst der überragenden Bedeutung nach, die sie in unserer Gegenwart spielt. Ist die Wirkung des Tanzes primär eine sexuelle? Was hat Tanz mit Technik zu tun? Welche Symbolik vermag die tänzerische Geste zu transportieren?

Nur kein Aufhebens. Tanzen und intellektuelle Reflexion, sie scheinen sich auszuschließen. Niemand wird die Behauptung bestreiten, philosophisch-technische Gedanken seien das Letzte, was einen zum guten Tänzer macht – aber ist das so? „Die Deutschen sind zu verkopft“, postulierte ein Bekannter, mit dem ich über das Thema sprach. Nietzsche hätte dem wahrscheinlich zugestimmt. In einem außergewöhnlich schönen Aphorismus schrieb er über den Kunstgenuss der Deutschen:

Wenn der Deutsche einmal wirklich in Leidenschaft geräth (und nicht nur, wie gewöhnlich, in den guten Willen zur Leidenschaft!), so benimmt er sich dann in derselben, wie er eben muss, und denkt nicht weiter an sein Benehmen. Die Wahrheit aber ist, dass er sich dann sehr ungeschickt und hässlich und wie ohne Tact und Melodie benimmt, sodass die Zuschauer ihre Pein oder ihre Rührung dabei haben und nicht mehr: – es sei denn, dass er sich in das Erhabene und Entzückte hinaufhebt, [...] – hin nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur Anzeichen dafür, dass sie tanzen  möchten: diese armen Bären, in denen versteckte Nymphen und Waldgötter ihr Wesen treiben – und mitunter noch höhere Gottheiten!1

Ist das der Grund, warum die schlechtere Hälfte der Menschheit sich so oft schwer tut und von Komplexen und Unwohlsein plagen lässt? – Das ist eine andere Geschichte...

I. Tanzen im Internet: Unüberschaubare Landschaften

Die Thematik scheint zeitgemäßer denn je. Das zeigt die Omnipräsenz tanzender Menschen in den sozialen Medien. Vordringlich aus den USA, aber auch durch sie affiziert, aus aller Welt übertragen. Man sieht: „Die Menschheit“ tanzt. Wer sich etwas tiefer mit der Materie beschäftigt, stößt auf Choreografien, Performances und Einblicke in Tanzstudios; stößt auf „Battles“ mit aufputschenden Zwischenrufen. Bewegung nimmt militärische Form an. – Unsinnig daneben: Twerken für das Seelenheil. Für viele kein schlechter Witz mehr.

Das Internet zelebriert seine K-Pop-Stars wie die Bangtan Boys (BTS), gegründet 2010, oder die 1996 geborene Jennie Kim von der ebenfalls südkoreanischen Band Black Pink. Von ihnen ist bekannt, dass diese der „Idole“-Industrie Unterworfenen ein intensives Tanztraining hinter sich bringen, das freilich ziemlich schamlos US-amerikanische Musik- und Tanzstilstrends kopiert. Wahrscheinlich arbeiten amerikanische Choreografen und Plattenfirmen, wenigstens um drei Ecken an den sogenannten „Acts“ mit. Tanzlehrer disziplinieren ihre Klienten nicht nur zur Perfektion, sondern auch zum freien Ausdruck. Ihr Erfolg spricht zweifellos für einen Nerv, den sie beim meist weiblichen Publikum unmittelbar emotional treffen. Der Anschein ist günstig, überall verstehbar und kaum sozialen oder soziostrukturellen Kontrollen unterworfen.

Ich kann nicht verhehlen, selbst von einigen Trends nicht unbeeindruckt gewesen zu sein. Etwa die Tanzperformance des 2002 geborenen Disneysternchens Jenna Ortega in der Netflix-Serie Wednesday (2022), die zu Lady Gagas zum Zeitpunkt schon Jahre zurückliegenden Song Bloody Mary (2011) und den Worten: „I tell them my religion’s you[.] […] We are not just art for Michelangelo to carve / he can’t rewrite the aggro off my furied heart“2, wie eine vorgebliche Autistin, die sie spielt, tanzt.

Musikalisch, wenngleich weniger tänzerisch, hat auch der Hype um und frühe Tod von XXXTentacion mit seiner traurigen Elektroballade Moonlight viele alles andere als kalt gelassen. Auch die fast gewalttätigen Tanzchoreografien von Jade Chynoweth, dem Viva Dance Tanzstudio aus Südkorea, sowie King Kayak & Royal G’s brachiale Performance zu Oil it der Afrobeatgröße Mr. Killa oder der sehr tanzbare Amapiano-Klassiker Adiwéle von Young Stunna, in dem „der Flex“, also die zur Schau gestellte Angeberei, und Tanz ineinander zu fallen scheinen, nötigten mir einigen Respekt ab.

Unvorstellbar, aber wahr: Der Tanz avanciert zu der Ausdrucks- und Kunstform unserer Jahrzehnte und ist vielleicht sogar mehr, Menetekel der Anthropologie eines globalisierten Kapitalismus. Seine anwachsende Bedeutung speist sich dabei aus verschiedenen Faktoren, wobei die undurchsichtigsten und am wenigsten bearbeiteten wahrscheinlich Kunst, Ästhetik und Philosophie sind.

Zweifellos ist eines seiner Erfolgsrezepte seine allgemeine Zugänglichkeit: Was einen Körper hat, kann tanzen und kommt selbst ohne Bildung oder professionelles Equipment aus. Das zweite nicht zu leugnende Element, sowohl für Social Media als auch für die Werbeindustrie, in der wir immer wieder tanzende Körper zu sehen bekommen (freilich mit Produkten, die nun gar nichts damit am Hut haben), liegt in der Tatsache oder dem Anschein, authentische Emotionen oder Affekte zu transmittieren – für die weniger feinsinnigen, den Sex bis hin zur Anmaßung.

Ist das so? Das ist weniger banal, als man vermuten könnte. Wer sexualisiert oder desexualisiert? Der Hüftschwung ist das Symbol für menschliche Sexualität, nur ein Stein könnte da unbewegt bleiben. – Kommt zum Beispiel der Begriff „Sex“ bei Nietzsche überhaupt vor? – Und doch kann ein Tänzchen ganz harmlos sein, wie ein Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches zeigt, in dem die Anschauung eines Kunstwerks einen unmittelbaren Genussüberschuss produziert. Der Text als Stimulans:

Bücher, welche tanzen lehren. – Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei, ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust durchaus tanzen müsste.2

Auch wenn immer wieder versucht wird, den Tanz zu entzahnen, ist die Lösung wahrscheinlich – wie so oft – eine ambivalente. Klar ist: Im Zweifel tanzt man im neoliberalen Pleistozän allein. – Life is what you make it!

II. Technik, Tanz und Popkultur

Dabei veränderte die elektronische Musik das Tanzverhalten fast global gravierend. Vor allem die technische Intensivierung der Bässe und die Erfindung der Rhythmusmaschine können als die gewichtigsten und substantiellsten Interventionen gewertet werden. Es sind technische Neuerungen, die reduzieren, rationieren und gleichmachen – bloßes Verhältnis zum nackten organischen Körper herstellen, weniger ein intellektuelles oder herzliches, wie Symphonieorchester oder Band.  

Davon hätte Nietzsche wahrscheinlich mehr geahnt als gewusst. Die Formen der beschienen kalten Mengen, die wir aus der heutigen Clubkultur mit ihrem elektronischen Kult kennen, konnten ihm noch nicht bekannt sein. Die Tanzkonventionen seiner Zeit sind erst dabei sich zu emanzipieren. Gesellschaftstanz, Volkstanz und das Ballett dominieren die entsprechenden gesellschaftlichen Felder. Die Massenkultur und exotische Popgrößen wie Josephine Baker – obwohl das Varieté bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt – sind erst dabei, Embleme einer sich formierenden popkulturellen Massenbasis zu werden. Zum Varieté hat sich Nietzsche – soweit mir bekannt ist – nicht geäußert.  

Er schreibt über Dionysien und Saturnalien, den Rausch und das Theater. Er ist auf der Suche nach dem Anthropologischen, dem Triebhaften, Instinkt- und Intensiven. Folgen wir der dionysischen Spur: Die ganze Erde ein Tanzlokal? Ein Gesellschaftstanz, am Morgen zur Arbeit, dann bewegungslos wie die Sterne am Himmel und abends sich ins Bett tanzen? Die Welt, das Vexierbild eines Tauben? Tanzlokal der Lebenden? Wie könnten Sterne tanzen? – Das allen bekannte und schon abgeschmackte Nietzschezitat von dem chaotischen Himmelskörper steht zentral in der Vorrede seines Zarathustra – genauer, seiner Rede vom „letzten Menschen“. Im Anschluss an diese tritt der berühmte verunglückende Seiltänzer auf. Die Sentenz erklärt das Chaos im Innern zur Bedingung der Erreichung eines höchsten Ideals. Der Zeitpunkt ist entscheidend: „Wehe! Es kommt eine Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe!“4

In den zu Lebzeiten veröffentlichten Werken der digitalisierten kritischen Ausgabe kommt die Stammsilbe „tanz*“ gerade einmal in 69 von 3287 Textabschnitten vor, und das nur selten in einem explizit analytischen Kontext. In Nietzsches philosophischer Reflexion am prominentesten in der Geburt der Tragödie:  

Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung [...]. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.5

Die Tanz-Metapher ist bei Nietzsche weniger präsent, als mancher vermuten könnte, und fällt im Ganzen vermutlich mit dem Konzept des „Dionysischen“ zusammen, der Wendung zur reflexionslosen, irrationalen Bejahung des Lebens, der körperlichen Überwindung des Denkens:

Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!6

III. Symbol für was? Sprechen wozu?

Da von Symbolik die Rede ist, müssen wir für einen Moment semiologisch werden: Was bedeutet eine Geste, eine Bewegung? Die Zeichenkette eines ordinären Tanzes zu decodieren stellt sich ungeheuer schwierig dar, und ihre Elemente – wie kaum andere Codierungen – sind zugleich anthropologisch und kulturell bedingt. Selbst auf TikTok trägt jeder Trend eine gestische Zeichenkette, die, selbst bei einer Frame-by-Frame-Analyse, sehr unklaren Inhalt transportiert, wobei die Form einer sozialen Beziehung unter Menschen die hervorhebenswerteste Dimension zu sein scheint; etwa die Praktik der Nachahmung oder Einreihung. Das semiologische Problem ist dabei entscheidend mit den unmittelbaren Übergängen, die wir als Bewegung bezeichnen, verbunden, die, wie in einer Symphonie, den guten vom schlechten Tänzer scheiden. Es verhält sich dabei in etwa wie mit dem Pfeilparadoxon von Zenon von Elea, demzufolge eine Bewegung aus unendlich vielen Punkten des Stillstands bestünde und insofern fraglich sei, wie es sie überhaupt geben könne. Für unseren Fall wirft es die Problematik auf, ob die einzelne Geste das sinngebende Element des Tanzes ist oder ihre Veränderung, ohne die Tanz als Bewegung unmöglich wäre.

Nietzsche legte später in Menschliches, Allzumenschliches diese semiotische Dimension explizit offen:

Gebärde und Sprache. – Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können [...]. Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: […]. Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses [...]. – Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Symbolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. – […] [W]ährend zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. [...]7

Tanz ist also doppelt codiert, selbstreferentiell. Hinter dem Code steht ein Code der Konventionen eines entsprechenden medialen und gesellschaftlichen Feldes. Was die Seite der Reflexion betrifft, hat der Tanz zwei Dimensionen, den Freistil und die geübte Bewegung. Der große Tänzer verfügt wahrscheinlich über beides, entspricht aber letztlich dem Freistil. Dahinter die Idee des talentierten Genies, das allein seinem Gefühlsausdrucks halber die Form findet, ein direkter Transistor wird – Lyrik der Bewegung. Darüber hinaus, spekulativ und im Sinne Nietzsches, spricht der Tanz das Unsagbare in anderem, visuellen und subjektiven Code aus. Ein zweites bekanntes Zitat, das diese semiotische Dimension des Körpers zeigt, stammt ebenfalls aus dem ersten Buch des Zarathustra. Nietzsches Prophet verkündet, er „würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.“ Interessanterweise aus einem Abschnitt, der Vom Lesen und Schreiben handelt: „Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. […] Ich hasse die lesenden Müssiggänger. […] Noch ein Jahrhundert Leser und – der Geist selber wird stinken.“8

IV. Tänzer, warum kannst du nicht sprechen?

Wie Sie sehen: Hier gibt es viel mehr Fragen als Antworten. Vielleicht mag hier zuletzt noch auf Elfriede Jelinek hingewiesen werden, die mit ihrer Inszenierung Ein Sportstück (1998) die gesellschaftlichen Bewegungsorganisationen dem Faschismus annäherte. Da ist sicher etwas dran, denn wie jeder gute Versicherungsvertreter weiß: „Je weniger du weißt, desto besser verkauft es sich.“ Ist diese Interpretation haltbar? Im Zuge einer zunehmenden Militarisierung des Sozialen zeigen sich ihre Auswirkungen im Sport, dem Fitnessstudio, dem Tanz, der seine stumme Sprache spricht und nicht immer verstanden wird. Deleuzes’ Kontrollgesellschaft überwand keineswegs die Disziplinargesellschaft Foucaults,9 sondern verbindet sich mit ihr: Wer von Kontrollgesellschaft spricht, muss fragen, wer denn den Schirmherr des Tänzers abgeben soll? Wer ihn diszipliniert, ist eindeutig. Der Tänzer will die eigene Verschließung, den Drill, die Autorität des Tanzlehrers. Aber wer kontrolliert? – Der Weg führt zurück: Es ist wieder der Blick, die Reflexion. Weil der Blick in Social Media anonym ist, aber seine Urteile maschinell gesteuert durch Likes, Shares, Referenzen durch Bewunderer und Hater abgibt, nimmt er die Form eines vieläugigen Phantasmas an, das man als „Gemeinwillen“ bezeichnen könnte.

Da dieser Wille am wenigsten real ist und nur als kollektiver und unsystematischer, als vertraute Einpflanzung existiert – als eine vermeintlich notwendige Verallgemeinerung dessen, was Tanz ist, ausdrücken soll und kann, vor allem, wie er auszusehen hat –  stellt er sich als ein Schutzmechanismus gegen die Angst (der Angst vor dem Kontrollverlust), der die ideellen kleineren oder größeren Gemeinschaften in ihrem dadurch vermittelten real-körperlichen, heißt, tänzerischem Selbstgefühl schützen soll, dar.

Kurz, das Argusauge wacht über den Tänzer, aber dadurch, dass er selbst sein Augapfel wird. (Normalfall der Dressur und Disziplinierung.) Da fällt das Loslassen nicht mehr schwer, ist die Reflexion erst suspendiert.

Unfassbar romantisch und unschuldig dagegen die heiteren Tanzlieder Nietzsches, die den meisten Rezipienten wahrscheinlich nicht im Gedächtnis geblieben sind, gehörten sie doch nicht zu den stärksten der modernen Lyrik. So ist Zarathustras Tanzlied keineswegs wirklich eines – und Das anderes Tanzlied10 am Ende des dritten Buches ohnehin ein zu vernachlässigender lyrischer Erguss –, sondern eine kleine Reflexion über das Leben, „ein Tanz- und Spottlied auf den schweren Geist“:  

In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! […] [S]pöttisch lachtest du, als ich dich unergründlich nannte. „So geht die Rede aller Fische, sprachst du; was sie nicht ergründen, ist unergründlich. […]“ […] Als aber der Tanz zu Ende und die Mädchen fortgegangen waren, wurde er traurig.11

Vielleicht ist diese Idealisierung des Tanzes am Ende erinnerungswürdig und wertvoll für unser Bewusstsein, weil sie zeigt, dass er auch anders sein kann.

Jonas Pohler wurde 1995 in Hannover geboren. Er studierte Germanistik in Leipzig und schloss das Studium mit einem Master zum Thema „Theorie des Expressionismus und bei Franz Werfel“ ab. Er arbeitet jetzt in Leipzig als Sprachlehrer und engagiert sich in der Integrationsarbeit.

Fußnoten

1: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 105.

2: „Ich werde ihnen erzählen, dass Du meine Religion bist. […] Wir sind nicht nur Kunst – für Michelangelo herauszumeißeln [/] – er kann den Ärger aus meinem wütenden Herz nicht umschreiben.“

3: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 206.

4: Also sprach Zarathustra, Vorrede 5.

5: Die Geburt der Tragödie, Abs. 1.

6: Die Geburt der Tragödie, Abs. 2.

7: Menschliches Allzumenschliches I, Aph. 216.

8: Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben.

9: Anm. d. Red.: In dem Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften vertrat Gilles Deleuze 1990 die These, dass das, was Foucault als „Disziplinargesellschaften“ bezeichnet hatte – also Gesellschaften wie die moderne des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, in der Macht vor allem durch individuelle Disziplinierungsmethoden ausgeübt wird (Drill, Training, Ausbildung …) – in seiner Gegenwart durch den Typus der „Kontrollgesellschaft“ ersetzt worden sei, in der es weniger um individuell verinnerlichte Disziplin gehe, sondern die technisch gestützte Überwachung der Bevölkerung, um Grenzübertritte zu ahnden. Dies bringe scheinbar größere Spielräume der individuellen Freiheit mit sich, sei jedoch in Wahrheit nicht weniger repressiv.

10: Also sprach Zarathustra, Das andere Tanzlied.

11: Also sprach Zarathustra, Das Tanzlied.

Die Affen tanzen unerklärlich. Nietzsche und die zeitgenössische Tanzkultur

Reflexion, Bewegung, Misere

Neben dem Wandern ist das Tanzen einer der prominentesten Soldaten in Nietzsches „bewegliche[m] Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“. Jonas Pohler geht anhand von Nietzsches Überlegungen zur Bewegungskunst der überragenden Bedeutung nach, die sie in unserer Gegenwart spielt. Ist die Wirkung des Tanzes primär eine sexuelle? Was hat Tanz mit Technik zu tun? Welche Symbolik vermag die tänzerische Geste zu transportieren?

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

26.4.25
Natalie Schulte

Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Beitrag zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Essay zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Von Tieren als Monstern

Lange bevor es überhaupt nach Südostasien losging, habe ich mich mit dem Thema „wilde Tiere“ auseinandergesetzt. Es war unklar, in welch abgeschiedene Bereiche, in welche Urwälder und Sümpfe wir eintauchen würden. Ich beschäftigte mich also mit der Frage, wie man am besten gegen ein Krokodil kämpft, was bei einem Schlangenbiss zu tun ist oder welches das gefährlichste Tier auf unserer Reise sein würde. Nach meiner Recherche rangierte weit oben, zu meinem eigenen Erstaunen, der Elefant. Dieser träge Dickhäuter mit den schwermütigen Augen und den Augenringen, die mich an lang durchwachte Nächte erinnern, kann in entsprechender Stimmung zum Monster mutieren. Diese Stimmung wird beim männlichen Elefanten ausgelöst durch einen Testosteronschub, welcher die Fortpflanzungsphase einleitet, die als Musth bezeichnet wird. Musth leitet sich aus dem persischen مست (mast) ab, bedeutet so viel wie „unter Drogen“ oder „im Rausch“ und bezeichnet äußerst treffend das Verhalten des Elefanten während dieser mehrmonatigen Periode. Er ist so aggressiv, dass er nicht nur männliche Rivalen attackiert, sondern auch Säugetiere oder unschuldige Gegenstände. Kein Wunder also, dass mich der Gedanke erschaudern ließ, auf einem verschlungenen Urwaldpfad plötzlich einem dicken Elefanten gegenüberzustehen, dem ein schwarzes Sekret an den Schläfen (deutliches Anzeichen der Musth-Phase) herabrinnt. Trotzdem schreckte mich dieses Wissen nicht davon ab, mich weiter in das sonderbare Dickicht detailreicher Artikel vorzuarbeiten.

Gute Unterhaltung

Ich tauchte ein in ein Reich unglaublicher Geschichten, gefährlichster Begegnungen, tödlichster Gifte und ungewöhnlicher Rettungen. Und bald darauf machte ich eine interessante Erfahrung. Selten war in Gesellschaft mein neu erworbenes Wissen so gefragt wie zu dieser Zeit. Jahrelang hatte ich mein Umfeld mit philosophischen Gedanken traktiert, hatte sie zu begeistern versucht für den Unterschied zwischen „transzendent“ und „transzendental“, für die synthetische Einheit der Apperzeption als Bedingung der Erkenntnis oder für die Geheimnisse der ontologischen Differenz. Und dabei hätte ich ihnen einfach etwas über Tiere erzählen müssen, um sie in meinen Bann zu schlagen.

Im Übrigen habe ich keine Entschuldigung, dass ich für diese Erkenntnis so lange brauchte. Zahlreiche Philosophen klagten in ihren Werken über dieses Leid, andere beklagten ihr Publikum. Auch Nietzsche ist bei diesem Thema nicht stumm geblieben. Im Aphorismus 41 der Morgenröthe schlägt er sich sogar auf die Seite des Publikums. So schreibt er, dass die Philosophen gleich den religiösen Naturen immer schon versucht  hätten, „den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerthen, die thätige Hand lähmen“1. Darüber hinaus, gleich den Künstlern, hätten Philosophen einen schlechten Charakter und seien „zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich“ (ebd.). Als wäre das alles nicht genug, brächten die Philosophen aber noch eine dritte schlechte Eigenschaft mit, und zwar die Freude am „Dialektische[n], die Lust am Demonstriren“, womit sie „vielen Menschen Langeweile gemacht“ (ebd.) hätten.

Auch Nietzsche – wir wissen es – ist nicht genug gelesen worden, zumindest nicht bevor er, wie wir Nietzscheforscher es pietätvoll ausdrücken, der geistigen Umnachtung anheimfiel. Dabei hat er doch alles richtig gemacht: Zahlreiche Tiere kommen bei ihm vor, Tiger, Schlangen, Flugtiere, Kamele, Löwen, Katzen, Adler, um hier nur einige zu nennen.

Tiger

Mag sein, am Anfang der Geburt der Tragödie wird nicht wirklich viel über, sagen wir mal, Tiger gesprochen. Tiger und Panther, das sind die dionysischen Begleittiere beim Festumzug.2 Aber nach und nach gewinnt der Tiger einen Charakter in Nietzsches Philosophie. Der Tiger ist das Tier, in dessen Zentrum ein großer Wille wohnt: Eine Spannung unter Druck, stets bereit zum Sprung, zum Kampf, zum Ziel. Der Tiger, ein Einzelgänger, ein Raubtier, grausam und gewalttätig.

Trotz Nietzsches Vorliebe für das Amoralische kommt der Tiger dabei nicht immer gut weg. Zarathustra jedenfalls erklärt, dass ihm Tigerseelen nicht gefallen: „Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich mag diese gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen Zurückgezognen.“3

Und wer, dem Tiger gleich, auf das große Ziel lauert, alles für die eine Tat aufspart, der läuft Gefahr, dass ihm genau diese Tat nicht gelingt. Die höheren Menschen, denen Zarathustra eine Zeit lang zu Rate steht, nehmen sich auf genau diese Art zu ernst. Sie meinen, der eine Versuch sei alles: „Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missrieth: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch bei Seite schleichen. Ein Wurf missrieth euch.“4

In Südostasien gibt es inzwischen nur noch wenige Tiger. In Vietnam, Laos, Kambodscha sind sie bereits ausgestorben. Der einzige Hoffnungsschimmer ist Thailand. Aber wir werden zum Glück keinem begegnen. Und der einzige Hinweis auf Elefanten sind gelegentliche Straßenschilder, die Autofahrer vor den die Straße kreuzenden Dickhäutern warnt. Einmal jagt uns die Lokalbevölkerung in einem Dorf einen tüchtigen Schrecken ein: Wir wollen gerade Abendessen besorgen, als man uns eindringlich warnt, bei Dämmerung bloß nicht mehr durch die Straßen zu fahren. Das Radio hat berichtet, eine Horde wilder Elefanten streife gerade durch die Gegend. Tollkühnheit (und Hunger) treibt uns dennoch zur Suche, aber nachdem wir mit mulmigem Gefühl und ängstlicher werdenden Blicken in den knackenden Urwald rechts und links der Straße zehn Minuten später immer noch keinen Essensstand gefunden haben, radeln wir eilig zurück zur Herberge und trösten unsere leeren Mägen mit Instant-Nudeln. Die Gefahr der Gefahren bleibt für mich – zum Glück – auch an diesem Abend ein Phantom.

Ungeahnte Gefahr

Viel dominanter, das wissen wir nach wenigen Tagen, ist ein weit weniger exotisches Tier: der Hund. Es gibt zahlreiche Hunde in Thailand. Sie sind uneingeschränktes Lieblingshaustier. Daneben gibt es etliche verwilderte Kläffer sowie kleine und große Rudel. Thailands Straßen (genau wie Vietnams und Kambodschas) verfügen selten über einen Bürgersteig. Das Leben findet auf der Straße statt. Frühmorgens begegnen wir den Hunden, wenn sie auf noch leeren Seitenstreifen als Herren des Wegs breitbeinig patrouillieren gehen. Mittags liegen sie dösend im schmalen Schatten. Das einzige, was sie aus ihrem Schlummer und zu einem kurzen, heftigen Sprint zu bewegen vermag, sind: Fahrradfahrer. Nachmittags künden die Kläffkonzerte den jeweiligen Hostelbesitzern von unserer Ankunft. Ihr Gebell ist unser steter Begleiter.  

Die größte Gefahr besteht darin, dass sie ungesehen, da zuvor im Schatten liegend, direkt auf einen zugeschossenen kommen. Der Schreck verleitet dazu, den Lenker herumzureißen und eine gewagte Kurve in den Schnellstraßenverkehr hinein zu unternehmen. Die zweite Gefahr: von ihnen gebissen zu werden. Tatsächlich scheinen die Hunde aber kaum zu wissen, was sie mit uns anfangen sollen, wenn sie uns eingeholt oder gar überholt haben. Solche siegreichen Erfahrungen vergönnen ihnen die sonstigen motorbestückten Zweiräder nun mal nicht. Ihr Gebell wird verhaltener, eine erhobene Hand lässt sie davonschnellen wie von einem Schlag. Erst in sicherer Entfernung verkünden sie wieder den Machtanspruch ihrer lokalen Gang. Und dann schließlich, nach zwei, drei weiteren lauten Bellern, trollen sie sich: „Denen haben wir‘s gezeigt“, raunt der Anführer seiner Gang beim Rückweg zu.

Ein Hundeleben

Nicht nur in Südostasien ist der Hund viel häufiger als der Tiger, sondern auch bei Nietzsche. Das sprichwörtliche Hundeleben ist elend und erbärmlich und dürfte, nebenbei gesagt, dem Leben vieler Hunde in Thailand durchaus entsprechen. Um das Hundeleben im übertragenen Sinn wiederum geht es Nietzsche, denn, wir haben es schon beim Tiger geahnt, Tiere sind bei Nietzsche häufiger Menschen, genauer gesagt, Menschentypen.

Wer ist also der Typus Mensch, der ein Hundeleben führt? Ist er vielleicht gar ein philosophischer Charakter, der, wir haben es gesehen, in menschlicher Gesellschaft manchmal nicht gut ankommt? Ein einsamer Mensch, ein kontemplativer Geist, der „seiner Begabung unvorsichtig die Zügel schiessen lässt“5, dem kann es, so Nietzsche, leicht passieren, „dass er als Mensch zu Grunde geht und fast nur noch in der ‚reinen Wissenschaft‘ ein Gespensterleben führt.“ (Ebd.) Wer am bereits oben erwähnten dialektischen Hang leidet, „das Für und Wider in den Dingen aufzusuchen“ (ebd.), läuft Gefahr, „an der Wahrheit überhaupt irre“ (ebd.) zu werden, sodass er „ohne Muth und Zutrauen leben muss“ (ebd.) und schließlich ausriefe: „es möchte kein Hund so länger leben!“ (Ebd.)

Einem von der Gesellschaft missverstandenen, ausgeschlossenen Menschen empfiehlt Nietzsche dennoch, im Verkehr mit anderen ausgesucht höflich zu bleiben, denn „[d]er Cynismus im Verkehre ist ein Anzeichen, dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund behandelt.“6

Der Hundehalter

Weit häufiger als man selbst sind es aber andere, die einen als Hund behandeln. Und angesichts einiger Zitate Nietzsches ließe sich fragen, ob man sich nicht hauptsächlich einen Hund deswegen zulegt, um ihn als solchen behandeln zu können. Der Hundehalter als Paradebeispiel eines Menschen, der es nötig hat, seinen Zorn an jemandem auszuleben, der sich nicht wehren wird:  

Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können: Solche nämlich, deren Ohnmacht und Feigheit es erlaubt, dass Einer vor ihnen ungestraft erhabene und zornige Gebärden machen kann! – sodass sie die Erbärmlichkeit ihrer Umgebung nöthig haben, um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit zu heben! – Dazu hat Mancher einen Hund, ein Andrer einen Freund, ein Dritter eine Frau, ein Vierter eine Partei und ein sehr Seltener ein ganzes Zeitalter nöthig.7

Der hündische Charakter

Der einsame Hund – möglicherweise ein Philosoph – ist nun jemand ganz anderes als der hündische Charakter. Zwar haben beide vielleicht gemeinsam, dass man sie ungestraft beschimpfen darf. Aber der hündische Charakter ist einer, der seines Herrn bedarf. Solcherlei Wunsch nach Unterordnung kann Nietzsche freilich nicht gutheißen, nein, unter die Hundeliebhaber ist er wahrlich nicht zu rechnen:  

Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine grössten Freuden vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir theilen müsste, – ich will keine Sclaven um mich wissen. Desshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht der Menschen „hündisch“ geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, dass er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein [Schatten][.]8

Nephila pilipes

So wie Nietzsche als Wanderer seinen Schatten als Begleitung vorzieht und einsam über die Waldwege Sils Marias zieht, so lassen wir unsere hündischen Begleiter in der wild-bergigen Umgebung von Khao Hua Chang vorerst hinter uns. Dafür schließen wir Bekanntschaft mit einem weiteren Tier, das zwar nicht unbekannt, aber in dieser Größe doch eine außerordentlich beachtliche Sorte ist – eine Spinnenart, in unserem Fall die Nephila pilipes oder phantasieanregender auf Englisch: giant golden orb-weaver spider. Das mehr als handtellergroße Exemplar, das den Eingang unseres Bungalows bewacht, hat ein gut quadratmetergroßes Netz direkt über unseren Köpfen gespannt. Diese Netze sind so fest, dass kleinere Vögel sogar in ihnen gefangen und von den Spinnen gefressen werden, während die größeren, nachdem sie losgekommen sind, sich einem aufwendigen Reinigungsprozess unterziehen müssen, um die Reste des Netzes, das an ihnen hängen blieb, wieder von sich zu entfernen. Definitiv sollten sich Flugtiere von den Fallen der Nephila lieber fernhalten.

Die Tarantel

Die größte Spinne, der Nietzsche begegnet sein könnte, würde vermutlich aus der Familie der Wolfsspinnen stammen, beispielsweise die Lycosa tarantula (Echte Tarantel). Diese war und ist zwar nicht im Engadin heimisch, aber im Mittelmeerraum, z.  B. in Süditalien und Südfrankreich und damit in einer von Nietzsches bevorzugten Klimazonen, wie zahlreiche Aufenthalte belegen. Die Taranteln, die in Nietzsches Philosophie unter anderem im Zarathustra vorkommen, stehen für jene, die Moral predigen, aber aus Missgunst und Neid handeln: „Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend!“9 Nietzsche beschreibt sie als vergiftete Wesen, die sich für gerecht halten, in Wahrheit aber aus dunklen Trieben agieren. Rechts- und Linksintellektuelle jeglicher Colour darf die geneigte Nietzsche-Leserin mit den Taranteln assoziieren.

Wahre Künstlerinnen

Während die Wolfsspinne zu den Spinnen gehört, die geschickt ohne Netz jagen, ist unsere Nephila eine Artistin der Webkunst. Zwar machen ihre Gebilde einen etwas desolat chaotischen Eindruck, aber sie ist gleich uns Menschen in der Moderne angekommen und darf sich meinetwegen auch künstlerische Freiheit gönnen. Während wir im Morgengrauen durch die menschenleere Hügellandschaft fahren, säumen die Netze der Nephila rechts und links Palmen wie Strommasten. Tausende und Abertausende Spinnen und Spinnennetze, in denen sich das Licht verfängt.

Verfangen in unseren eigenen Spinnennetzen sind nach Nietzsche wir Menschen allesamt. Eingeschlossen sind wir durch unsere menschlichen Sinne und unser menschliches Denkvermögen in einer Wahrnehmungsweise, die uns immer nur einen Teil der Welt überhaupt sichtbar und begreifbar macht. Wir selbst sind die Spinne, deren Netz nur eine bestimmte Art von Beute fangen kann und für alles andere sind wir blind. So leben wir in unserer menschengemachten Welt und haben keine Ahnung, was sie jenseits der menschlichen Wahrnehmung überhaupt ist:  

Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse“, – es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unserem Netze fangen lässt.10

Gefangen und Befreien

Unsere Ideen und Werte und Ideale können ebenfalls als Spinnennetze begriffen werden. Als ihre Denker und Verbreiter basteln wir selber an den Netzen mit, so wie wir als Menschen einer Kultur und einer bestimmten Zeitspanne auch die „Opfer“ der bestehenden sind.  

Indem Nietzsche Zarathustra das Selbstgemachte aller Spinnennetze, aller Ideen – einschließlich Gott – erkennen lässt, fühlt sich dieser von ihnen befreit. Es mag zwar immer noch Netze geben, aber statt eines einzigen Netzes, von dem her überhaupt alles seine Bedeutung empfangen kann, gibt es möglicherweise so viele wie auf der Straße von Khao Hua Chang nach Amphoe Sichon: „Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt“11.

Angesichts der Existenz von so vielen Netzen ist es nach Zarathustras Meinung durchaus angebracht, hin und wieder gründlich aufzuräumen, Ideale zu entstauben und die alten Spinnennetze zu entfernen. Während Zarathustra fleißig seine Seele reinigt: „Oh meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln, ich kehrte Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab“12, mache ich mich, nachdem wir erschöpft in unserem nächsten Zimmerchen ankommen, ganz prosaisch an den Frühjahrsputz.

Chrysopelea ornata

Aber was wäre eine Reise ohne wenigstens ein wirkliches Erschrecken vor einem Tier? In Angkor Wat bin ich einer Schlange begegnet, die so schnell in ihrem Loch verschwand, dass ich mich nicht einmal an ihre Farbe erinnere. Die zweite Schlange macht da schon einen lässigeren Eindruck. Die sich deutlich vom Busch abhebende helle Musterung lässt meinen Blick etwas länger auf dem Schlauch verweilen, der sich im Blätterwerk verfangen hat. Eine hübsche, schlanke Schlange von gelbgrüner Färbung, wie mein messerscharfes Auge nach einem kurzen Moment erkennt. Wir stehen bzw. hängen uns gegenüber, Blick in Blick verhakt, bevor ich, langsam rückwärts weichend, den Rückzug einschlage.

Dass einem Priesterfeind wie Zarathustra Schlangen gefallen, wird wohl nicht verwundern. Die Schlange ist, neben seinem Adler, eins von den zwei symbolischen Begleittieren Zarathustras. Sie steht für die Weisheit und die Wissenschaft, für die Wiederkunft und den Teufel. Nicht selten scheint Zarathustra die Gesellschaft seiner beiden Tiere der menschlichen vorzuziehen und selbst im Vergleich mit den höheren Menschen hat die Schlange einen angenehmeren Geruch.13

Lebensfeindliche Wahrheit  

Aber es wäre wohl kein Buch Nietzsches, wenn es sich gar so eindeutig mit der Schlange verhielte. Es gibt die schwarzen, dicken Schlangen, die sich im Tal des Todes verkriechen, um zu sterben und deren ganze Existenzweise mit einer Form von lebensfeindlicher Weisheit verbunden ist. In einer alptraumhaften Vision sieht Zarathustra eine schwarze Schlange, die einem Hirten „in den Schlund“14 kriecht, um sich dort festzubeißen. Der Hirte droht an der Wahrheit, welche die Schlange symbolisiert, zu ersticken. Die einzige Möglichkeit zu überleben besteht darin, der Schlange den giftigen Kopf abzubeißen. Verschlinge die Wahrheit, die dich zu töten droht, ist ein Aufruf, der sich leichter in symbolischen Bildern als in der Wirklichkeit umsetzen lässt, wie ich befürchte.  

Als ich am Abend auf warmen Steinstufen sitze und in die Nacht hinausblicke, frage ich mich, von welchem Charakter meine Schlange wohl gewesen ist. Das helle, hoffnungsfrohe Grün stimmt mich jedenfalls optimistisch. Es handelt sich bei der gesichteten Schlange um die Chrysopelea ornata, zu Deutsch: Goldschlange. Wenn mich schon dieser Name für sie einnimmt, dann noch mehr die Tatsache, dass es sich um eine flugfähige – na gut, segelfähige – Schlange handelt, die gut und gern 30 Meter per Luft überwinden kann. Eine fliegende Schlange, das ist doch schon fast ein Drache, denk ich mir und nehme sie als gutes Omen.  

Ein klein wenig abergläubisches Spinnennetz, so könnte mir eine Denkerin vorwerfen, muss ich beim Ausmisten wohl vergessen haben.  

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.  

Fußnoten

1: Morgenröthe, Aph. 41.

2: Vgl. Geburt der Tragödie, Abs. 1 & 20.

3; Also sprach Zarathustra, Von den Erhabenen.

4: Also sprach Zarathustra, Vom höheren Menschen, 14.

5: Schopenhauer als Erzieher, Abs. 3.

6: Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 256.

7: Morgenröthe, Aph. 369.

8: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, Schlussdialog.

9: Also sprach Zarathustra, Von den Taranteln.

10: Morgenröthe, Aph. 117.

11: Also sprach Zarathustra, Vor Sonnenaufgang.

12: Also sprach Zarathustra, Von der grossen Sehnsucht.

13: Vgl. Also sprach Zarathustra, Das Lied der Schwermuth, 1.

14: Also sprach Zarathustra, Von Gesicht und Räthsel, 2.

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien III

Thailand

Neun Monate lang reiste unsere Autorin Natalie Schulte mit dem Fahrrad durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. In ihrem vorletzten Beitrag zur Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ sinniert sie über Begegnungen mit wilden Tieren, die sie auf ihrer Reise getroffen hat oder hätte treffen können. Dass dabei Überlegungen zu der Bedeutung der Tiere, wie sie in Nietzsches Philosophie vorkommen, miteinfließen, wird kaum verwundern.

Sternenweh

Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft

Sternenweh

Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft

12.4.25
Michael Meyer-Albert

Am 12. April 1961 glückte dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin das Unglaubliche: Als erster Mensch in der Geschichte verließ er die schützende Atmosphäre unseres Heimatplaneten und umrundete in dem Raumschiff Wostok 1 die Erde. 2011 wurde der Jahrestag dieser „übermenschlichen“ Tat zum Internationalen Tag der bemannten Raumfahrt erklärt. Die Sterne sind nun nicht mehr so weit weg. Mit dem erreichten technischen Fortschritt erhält die Phantasie einer Expansion der menschlichen Zivilisation in den Weltraum eine konkrete Plausibilität. Der folgende Text versucht sich auf diese Ausblicke philosophisch einen Reim zu machen und beschreibt zuletzt den Ansatz eines möglichen Weltraumprogramms von Nietzsche her. Zu seinen Lebzeiten gab es zwar noch nicht einmal Flugzeuge, seine Konzepte lassen sich jedoch auf dieses Thema wie sooft trotzdem in produktiver Weise anwenden.

Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.

Am 12. April 1961 glückte dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin das Unglaubliche: Als erster Mensch in der Geschichte verließ er die schützende Atmosphäre unseres Heimatplaneten und umrundete in dem Raumschiff Wostok 1 die Erde. 2011 wurde der Jahrestag dieser „übermenschlichen“ Tat zum Internationalen Tag der bemannten Raumfahrt erklärt. Die Sterne sind nun nicht mehr so weit weg. Mit dem erreichten technischen Fortschritt erhält die Phantasie einer Expansion der menschlichen Zivilisation in den Weltraum eine konkrete Plausibilität. Der folgende Text versucht sich auf diese Ausblicke philosophisch einen Reim zu machen und beschreibt zuletzt den Ansatz eines möglichen Weltraumprogramms von Nietzsche her. Zu seinen Lebzeiten gab es zwar noch nicht einmal Flugzeuge, seine Konzepte lassen sich jedoch auf dieses Thema wie sooft trotzdem in produktiver Weise anwenden. Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.
„Er hat des Adlers Auge für die Ferne,
Er sieht euch nicht! – er sieht nur Sterne, Sterne!“
Nietzsche, Ohne Neid

I. Earth Now

Einer der bekanntesten Appelle Nietzsches ist, „der Erde treu bleiben“.1 Damit drückt Nietzsche, wie eine moderne, philosophisch gestimmte thrakische Magd2, aus, dass es entgegen der metaphysischen Dynamik, die den Menschen mit dem Wahnsinn einer überirdischen, vermeintlich wahreren Wirklichkeit infiziert, darauf ankomme, das Humane mit dem Diesseits zu befreunden. Die besondere Schwierigkeit bestünde darin, dass es nach all den Jahrhunderten des kulturellen Trainings mit den Glaubenssätzen und Glaubensgefühlen zu einem Entzug führe, wenn dieses Training ausbliebe: „Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“3 Daher wirbt Nietzsche für eine Art philosophischen Gegenwahnsinn gegen den Wahnsinn der religiösen „Hinterwelten“ und als Stütze und Ermunterung für das Durchstehen des Gottesentzugs. Die wahre Enthüllung ist die Offenbarung der Leere und Feindseligkeit der Offenbarung, die den Reichtum des Lebens diffamierte. Solange Gott lebt, muss die Erde tot sein. Erst wenn Gott tot ist, kann die Erde anfangen zu leben. Apocalypse now als earth now.

Abb. 1: Juri Gagarin im Moskauer Kosmonautenmuseum.

II. Erdflucht

Seit einiger Zeit kommt es nun zu einer nachmetaphysischen Form der Untreue zur Erde. Drei Motive lassen sich dabei unterscheiden. Man könnte argumentieren – die Mehr-Wissen-Hypothese –, dass der Drang ins All eine simple Fortsetzung des Forschungsdrangs des Menschen sei. Wenn Aristoteles behauptet, alle Menschen strebten nach Wissen, so wäre das Streben in den Kosmos keine qualitativ andere Form der terrestrischen Versuche Wissen zu schaffen.  

Dass nicht die szientistische, sondern die soziale Deutung der Weltraumfahrt plausibel ist, wird mit dem Hinweis auf die Pläne einer „multiplanetarischen“ Zivilisation, wie sie etwa kreative Unternehmer wie Elon Musk mit seiner Firma „Space X“ beeindruckend erfolgreich vorantreiben, bekräftigt.4  Es lassen sich in den unabstreitbar philantrophischen Intentionen dieser Form der Weltraumkolonisation, die ihren ersten Außenposten auf dem Mars errichten will, auch abgründigere Motive finden. Demnach ist es vor allem ein Fluchtmotiv vor einem Dritten Weltkrieg, womöglich forciert durch den Klimawandel oder aber auch durch die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz, die dazu drängt auf dem Mars – und nicht auf dem zu erdnahen und daher unsicheren Mond – eine Zufluchtsbasis für die menschliche Zivilisation zu errichten. Diese Form der Erdflucht – die Flucht-nach-vorne-Hypothese – ist mit weniger altruistischen Konnotationen belegt, da die Idee einer extraterrestrischen Arche Noah den unnoblen Eindruck macht, womöglich ein Exodus für eine reiche Elite zu sein. Zudem wirft unweigerlich der Schatten der Frage, wer über die Form des sozialen Miteinanders jenseits der Nationalstaaten und Rechtssysteme entscheidet, ein Zwielicht auf die Utopie einer „multiplanetarischen Menschheit“.

Eine dritte Deutung der Abkehr von der Erde – die Wir-wollen-nicht-allein-sein-Hypothese – geht eher von einem psychologischen Motiv aus. Sie unterstellt, dass der Hauptantrieb für die Expansion in die Leere des Alls eine Leere der Psyche sei. Vor allem die Neugier und die Sehnsucht nach anderem intelligenten Leben beflügelt dieses Weltraumverlangen. Das Fermi-Paradox aus dem Jahr 1950 – so viele Jahrmillionen hatte das Leben Zeit und doch empfangen wir keine Signale von anderen hochentwickelten Zivilisationen –, oder auch die Drake-Formel aus dem Jahr 1961 – sie gibt die Variablen an, die die Wahrscheinlichkeit bestimmen, mit der eine Kommunikation einer anderen zur Kommunikation fähigen und willigen intelligenten Zivilisation in unserer Galaxie möglich ist –, sind die prominentesten Beispiele einer theoretisierenden Einsamkeit, die sich nach anderem Leben sehnt. Ein erster konkreter Kontaktversuch bestand in der Arecibo-Botschaft, die Frank Drake zusammen mit Carl Sagan am 16. November 1974 von Puerto Rico aus ins All schickte. Dass derlei Bemühungen aber auch reichlich riskant sein könnten, darauf wiesen realkosmologische Kollegen vehement hin und kritisierten die naive Gesprächsbereitschaft der Arecibo-Botschaft: Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass Außerirdische friedlich seien. Die Weite des Alls sei ein Schutz vor unliebsamen Kontakten. Sie wirke, so grandios veranschaulicht in der zurecht sehr erfolgreichen Trisolaris-Trilogie (ab 2007) von Liu Cixin, wie ein „dunkler Wald“. Egal ob Tragik oder Glück: Die 100 Milliarden Galaxien im All mit ihren jeweils 100 Milliarden Sternen lassen es als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass es irgendwo anderes intelligentes Leben gibt. Zugleich lässt aber die Ausdehnung des Universums es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass eine Kommunikation möglich ist. Auch wenn wir nicht allein sind, sind wir allein.

Dass die Neugier den dunklen Wald zu betreten aber überwiegt, zeigte letztlich das Projekt Breakthrough Starshot, zehn Tage nach der Entdeckung eines erdähnlichen Planeten ausgerechnet in dem erdnächsten Sternsystem Alpha Centauri (4,34 Lichtjahre entfernt) im Jahr 2016 ins Leben gerufen und ironischerweise unterstützt von Stephen Hawking, einem der größten Physiker der letzten Jahrzehnte, der zu den Kritikern der Arecibo-Botschaft gehörte. Ziel ist es bei diesem „Sternenwagnis“ (Sagan), eine Art Kamera so stark zu beschleunigen, dass sie den Exoplaneten in einer relativ kleinen Zeitspanne erreichen kann, um von dort aus Daten zu übermitteln. Vielleicht sind wir dann doch nicht mehr ganz so allein.

Abb. 2: „Let’s go!“ / „Pojechali!“ – Gagarin berühmte letzte Worte vor dem Start seines Raumschiffs auf einem Graffiti in Charkiw.

III. Die Dialektik der Raumfahrt

Am 12. April 1961 gelang dem Kosmonauten Juri Gagarin an Bord des Raumschiffs Wostok 1 in rund 100 Minuten eine Umrundung der Erde. Zwei Jahre später schrieb Adorno in einen Text über Gustav Mahlers Lied der Erde:

Von [der Erde] heißt es [...], dass sie lange – nicht ewig – fest stehe, und der Abschied Nehmende nennt sie gar die liebe Erde, als die im Verschwinden umfasste. Sie ist dem Werk nicht das All, sondern was fünfzig Jahre später die Erfahrung des in großen Höhen Fliegenden einholen durfte, ein Stern. Dem Blick der Musik, der sie verlässt, rundet sie sich zur überschaubaren Kugel, wie man sie mittlerweile aus dem Weltraum bereits fotografiert hat, nicht das Zentrum der Schöpfung sondern ein Winziges und Ephemeres5 […].6

Natürlich muss Adorno als spin doctor einer anonymen Gnosis7 mit formvollendeten Sirenentönen seinen Spekulationen am Ende einen Dreh ins Negative und Entmutigende geben. Er resümiert: „Aber die sich selber ferngerückte Erde ist ohne die Hoffnung, die einst die Sterne verhießen. Sie geht unter in leeren Galaxen. Auf ihr liegt Schönheit als Widerschein vergangener Hoffnung, die das sterbende Auge füllt, bis es erfriert unter den Flocken des entgrenzten Raumes.“8

Gegen Adorno lässt sich aus seinen inspirierenden Gedanken allerdings auch eine philosophisch hoffnungsvollere Botschaft ableiten. Durch das Bedenken der Raumfahrt und nicht nur durch den emotionalen Flug mittels der Musik Mahlers zeigt sich eine „sich selber ferngerückte Erde“ als ephemere Entität. So wird durch den spekulativen Blick des Philosophen die Erde neu entdeckt. Durch das Fernrohr der Gedanken erscheint sie als verwundbare Seltenheit. Das Ganze ist das wahrhaft Verwundbare. Die Erde ist der kosmische safe space. Wenn der späte Heidegger von der Erde als dem „Irrstern“ spricht, so könnte Adorno die Erde als den „ephemeren Stern“ bezeichnen.

Die Dialektik der Raumfahrtprojekte besteht darin, dass ihre Wucht des positivistisch Allgemeinen die basale Fragilität des Lebensraums Erde als schonenswerte Besonderheit offenbart. Die expansive Bewegung ins Unendliche löst eine Besinnung aus, die das Verständnis von Heimat nun in planetarische Maßstäbe setzen kann. Die vollends verlassene Erde strahlt im Zeichen ephemeren Zuhauseseins. Der besinnliche Astronaut kann „unter den Flocken des entgrenzten Raumes“ das Globale als das Lokale denken. Von der ungeheuren atemlosen Kälte des Alls her erfahren wird die Erde zum „global village“ (McLuhan). So gewinnt der Transterrist eine nicht-bodenständige Bodenständigkeit. Sie könnte sich in einem weltoffenen Vorrang für das Autochthone verkörpern. Der Andere wird zum Einheimischen, der seine Fremde behalten darf.

Erst das Curriculum eines zeitweisen Kosmopolitismus befähigt zu einem nicht engstirnigen und nicht formalistischen Kosmopolitismus. Man könnte diesen Erdeignungstest oder terrestrische Matura als „Gagarium“ bezeichnen. Er verlangte für robustere Gemüte eine Flugstunde, für empathische Geiste könnte auch Mahlers Musik oder eine intensivierte philosophische Besinnung ausreichen. In einem so provozierten Jammern und Schaudern wird eine Katharsis ausgelöst: Die in Schrecken versetzende Fremde des bestirnten Himmels um einen gibt einen Sinn für Weltveränderungsideen und ihre strengen Sitten, die zu kategorisch gelebt werden, um für ein allgemeines Dekorum auf der „lieben Erde” zu taugen. Der Stresstest des Im-All-Seins wird so täglich neu bestanden dadurch, dass an Bord des „spaceship earth“ (Buckminster Fuller) alle Systeme nicht nur funktionieren, sondern dass ein ziviles Miteinander herrscht, womit eine Lebendigkeit ermöglicht wird, die sich wieder und wieder übertreffen kann. Nur wer weit weg war, besitzt „die Freiheit, frei zu sein” (Arendt). Erst wenn die „Hausfrömmigkeit“ (Goethe), die nur den Nächsten fördern will, die Weite einer „Weltfrömmigkeit“ erlangt, wird man zum fähigen Kosmonauten in koexistierenden und kokonkurrierenden Mitsprachewelten. Eigentlich hätte Gagarin, könnte man denken, angesichts des autoritären Sozialismus seines Heimatlandes, nach seiner Landung sofort in den liberalen Westen auswandern müssen.

IV. Der „asketische Stern“

Vermutlich wäre für Nietzsche eine zu einer neuen Treue verführende Untreue zur Erde – die Erfahrung des Alls als der Seitensprung, der die offene Ehe mit der Erde bekräftigt – eine verführerische Idee. Andererseits würde er in den Bestrebungen der dreifachen Erdflucht als Wissensdurst, als soziale Fluchtbewegung, als Ausdruck einer Einsamkeit immer noch die metaphysischen Mächte am Werk sehen. Die Dynamik in ein realexistierendes Jenseits auszuwandern, lässt den Reichtum des Diesseits zu unentdeckt. Der expansive Drang ins All zeugt von einer asketischen Sicht auf die irdische, allzuirdische Erden.  

Gegenüber der Aktivität das erdliche Dasein mittels der Raumfahrt zu überwinden, ließe sich Nietzsches Ausbruchsprojekt zu den Sternen als geistige Expedition verstehen. Er ergänzt damit das Gagarium. Ihm kommt es darauf an, die metaphysische Schlacke einer jahrtausendealten Tradition aus den Gedanken und den Gemeinwesen loszuwerden. Nietzsches spekulativer Blick auf die Erde expliziert sie als „asketischer Stern“, als eine planetarische Strafkolonie von ressentimen Gläubigen, die sich das Leben aus metaphysischen Gründen schwer machen:

Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehethun: – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen.9

Gegen diese ressentime Lebensform rebelliert Nietzsches Philosophie. Sie tut dies mit der Methode einer redlichen Reflexion. Diese Antiasketik gewinnt aber wieder eine eigene Asketik. In ihren schonungslosen Analysen wird auch an dem verklärenden Ast gesägt, auf dem man selbst sitzt. Es desillusioniert und deprimiert, wenn man die Masse an „Geist der Schwere“10 innewird, die man selber ist: Immer ist da ein Hoffen auf den Advent11, ein Hoffen auf die ultimative Gerechtigkeit des Jüngsten Gerichts, eine sich aufopfernde Empathie für ferne Ungerechtigkeiten, ein Misstrauen gegen die Werke und die Freiheit des Humanen als Erbsünde, ein kategorisches Verurteilen von Verfehlungen von bestimmten Geboten als absolutes Gutsein, eine tragische Trauer um die Ferne zum wahren Sein.

Abb. 3: Gagarin inspiriert die Raumfahrt bis heute: Die NASA-Astronautin Kate Rubins im Juri-Gagarin-Kosmonautentrainingszentrum in Swjosdny Gorodok, Russland (deutsch: „Sternenstädtchen“).

V. Sternwerdung

Nietzsche reflektiert die beschränkenden Effekte der befreienden Reflexion mit. Weil eine schonungslose Selbstanalyse als Dauerzustand zu einer antiasketischen Asketik wird, die leicht den Blick und das Gefühl auf ein Jenseits des asketischen Sterns verliert, braucht es einen guten „Willen zum Schein“12. Genau dieser Schein erscheint für Nietzsche, wie für Adorno, in der Kunst. Kunst gewinnt allerdings für den postwagnerischen Nietzsche eine erweiterte Bedeutung. Kunst wird Lebenskunst. Und Lebenskunst besteht für den freien Geist darin, sich selbst über das Denken in eine „künstlerische[] Ferne“13 zu sich selber zu versetzen. Philosophie ist die Kunst der Zäsur. Der fähige Denker versteht es, Schluss zu machen mit sich als ein Denken. Ein Mittel dafür ist es auch für Nietzsche, sich über seine kosmische Dimension klarer zu werden. Wie auch Adorno kommt Nietzsche zu der Einsicht, dass das bloße Vorhandensein von Leben in der Form des Menschen an sich schon ein unglaublicher kosmologischer Zufall sei. Die astrale Ordnung, in der wir leben und über das Leben nachdenken können, ist, blickt man auf die ungeheuerliche Weite des Alls um uns, eine Ausnahme.14

Dieser Aphorismus ist allerdings auch eine der Stellen, die eine fatale Ambiguität in Nietzsches Denken erkennen lässt. Einerseits folgt er in seinem mittleren und späten Denken der Marschroute, dass die Fragilität des Lebens geschützt werden muss. Das Sein ist zu hart, um es ohne Schein zu ertragen. Lebenskunst ist nötig, um hell zu leben.  

Andererseits ergibt sich, wie etwas aus dieser kosmologischen Reflexion auch eine Sicht auf die Natur als eine brutale Chaotik, die eine eigene Brutalität als eine quasi naturhafte Handlung verstehen lassen. Wenn das Gesetz des Weltalls kalte Chaotik ist, dann kann ein rücksichtsloser Wille zur Macht als gesetzestreue Handlung begriffen werden. Vor allem der späte Nietzsche substanzialisiert zunehmend die zu verklärende Verletzlichkeit des wahrheitsfähigen Tieres falsch zu einer Ontologie des Chaos, die dann einen letalen Naturalismus der Macht legitimiert.

Nietzsche jedoch nur auf diese Lesart zu reduzieren, zeugt selbst wieder von einem philosophischen Willen zur Macht seiner Interpretation. Man verstellt sich so die Sicht auf Nietzsches zukunftsträchtiges Weltraumprogramm. In diesem geht es um eine existenzielle Umwertung der Werte des asketischen Sterns. Nietzsche hegt in seinem Denken die Hoffnung auf einen innerweltlichen Exodus aus der Welt. Es geht darum, sich selbst so zu erziehen, dass man jenseits von Lebensverdruss und ressentimer Vergeltungsgier für diesen Zustand eine intelligente Lebensfreude entwickelt. Ein bloßer Schutz des Ephemeren auf der ephemeren Erde reicht nicht. Es ist zu wenig, nur wokelinks ein behutsamer safe space für den Anderen zu sein und es ist zu wenig, nur wertekonservativ den beruflichen Verpflichtungen der Tagesforderungen gerecht zu werden. Beides wäre zu langweilig, würde in the long run Missvergnügen hervorrufen, was wieder zu den asketischen Intensitäten einer Moral des Verurteilens disponierte. Das Ephemere ist zu steigern zu einer geistig anregenden Lebendigkeit:

Heil euch, brave Karrenschieber,
Stets „je länger, desto lieber“,
Steifer stets an Kopf und Knie,
Unbegeistert, ungespässig,
Unverwüstlich-mittelmässig,
Sans genie et sans esprit!15

Nietzsches Utopie ist es, dass es einmal „Übermenschen“ gibt, die wie unaugustinische, unplatonische Außerirdische untragisch-munter, bei allem Wissen um die Abgründe die Erde bewohnen und sich gegenseitig mit einer „Mitfreude“ beleben, Lichtjahre entfernt von allen arischen Possen der Kraft. Anstatt zu fernen Sterne aufzubrechen, geht es darum, selber Stern zu werden. „Lass leuchten!“ (Peter Rühmkorf) Die Erde wird zum Lernstern, als Trainingscamp für einen planetarischen Esprit. In einem solaren Humanismus wird der Mensch zur Sonne, für sich und andere. Als Sonnenschein der Erde verwirklichen helle Leben dann paradoxerweise den christlichen Auftrag aus Matthäus 5, das „Licht der Erde“ zu sein. Ihr Ja zum Leben ist verbunden mit dem sicheren Willen, nie wieder auf dem asketischen Stern zu leben:

Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten muss und seine Flügel missfarbig macht! – Nein! Da ist es zu schwer für uns, zu leben: was können wir dafür, dass wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und dass wir am liebsten auf Aetherstäubchen, gleich ihm, reiten würden und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können wir nicht: – so wollen wir denn thun, was wir einzig können: der Erde Licht bringen, „das Licht der Erde“ sein! “16

Ohne eine solche solare Aufklärung wird man bei allen Weltraumexpeditionen – was nicht schwer ist vorherzusehen – immer nur die toxischen Prägungen des „Geistes der Schwere“ exportieren bis sie erfrieren „unter den Flocken des entgrenzten Raumes“17. Ohne eine antiressentime Aufklärung steht die Raumfahrt unter keinem guten Stern. Nur Sterne können zu den Sternen aufbrechen. Weil sie wissen, was sie wollen, besitzt ihr Wollen weniger toxische Nebenwirkungen:

Langsam bis in die Krone verfilzt;
Ausfälle nicht mehr zu leugnen.
Dabei weißt du genau, was du willst:
einmal dich richtig ereignen –18  

Quellen

Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik. In: Gesammelte Schriften Bd. 13. Frankfurt a. M. 1971, S. 149–319.  

Bildquellen

Artikelbild: Sepdet (2018), Quelle: https://www.deviantart.com/sepdet/art/Jurij-Gagarin-743180694

Abb. 1: fiyonk14 (2020), Quelle: https://www.deviantart.com/fiyonk14/art/Yuri-Gagarin-837583118

Abb. 2: V.Vizu (2008), Quelle: Wikimedia

Abb. 3: NASA/Stephanie Stoll (2016), Quelle: https://www.flickr.com/photos/nasa2explore/26685986293/

Fußnoten

1: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.

2: Eine thrakische Magd soll den ersten abendländischen Philosophen, Thales, der Legende nach verspottet haben, weil er bei der Beobachtung der faszinierendn Sterne in einen Brunnen gefallen war.

3: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.

4: Vgl. die Webseite von „Space X“.

5: Anm. d. Red.: Von altgriechisch ephēmeros; nur einen Tag lang dauernd, vergänglich.

6: Adorno, Mahler, S. 296 f.

7: Anm. d. Red.: „Gnosis“ meint die Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Schöpfung Gottes, sondern eines untergeordneten, bösartigen „Demiurgen“ ist.

8: Ebd., S. 297.

9: Zur Genealogie der Moral, 3. Abh, Abs. 11.

10: Vgl. Also sprach Zarathustra, Vom Geist der Schwere.

11: Anm. d. Red: Der Begriff „Advent“ bezeichnet neben der ersten Ankunft Christi seine Wiederkunft.

12: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230.

13: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 107.

14: Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109.

15: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 228.

16: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 293.

17: Adorno, s. o.

18: Rühmkorf, „Lass leuchten!“

Sternenweh

Prolegomena einer Kritik der extraterrestrischen Vernunft

Am 12. April 1961 glückte dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin das Unglaubliche: Als erster Mensch in der Geschichte verließ er die schützende Atmosphäre unseres Heimatplaneten und umrundete in dem Raumschiff Wostok 1 die Erde. 2011 wurde der Jahrestag dieser „übermenschlichen“ Tat zum Internationalen Tag der bemannten Raumfahrt erklärt. Die Sterne sind nun nicht mehr so weit weg. Mit dem erreichten technischen Fortschritt erhält die Phantasie einer Expansion der menschlichen Zivilisation in den Weltraum eine konkrete Plausibilität. Der folgende Text versucht sich auf diese Ausblicke philosophisch einen Reim zu machen und beschreibt zuletzt den Ansatz eines möglichen Weltraumprogramms von Nietzsche her. Zu seinen Lebzeiten gab es zwar noch nicht einmal Flugzeuge, seine Konzepte lassen sich jedoch auf dieses Thema wie sooft trotzdem in produktiver Weise anwenden.

Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.

Eine schrecklich nette Familie

Nietzsche als Hausfreund der Wagners im „Tribschener Idyll“

Eine schrecklich nette Familie

Nietzsche als Hausfreund der Wagners im „Tribschener Idyll“

6.4.25
Christian Saehrendt

Richard Wagner lebte sechs Jahre lang am Vierwaldstättersee. Er hatte das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn, das in schöner landschaftlicher Lage am Tribschenhorn errichtet worden war, im April 1866 mieten können. Nietzsche war in jener Zeit häufig dort Gast gewesen und genoss den Familienanschluss. Es war für ihn eine Episode, die ihn lebenslang prägte, sodass man die Auseinandersetzung mit Wagner – in ihrer ganzen Palette von unbedingter Adoration bis rüder Ablehnung – vielleicht sogar als Herzstück seines Denkens betrachten kann. Heute befindet sich in dem Gebäude das Richard Wagner Museum. Dessen aktuelle Sonderausstellung thematisiert den Antisemitismus des Komponisten.

Richard Wagner lebte sechs Jahre lang am Vierwaldstättersee. Er hatte das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn, das in schöner landschaftlicher Lage am Tribschenhorn errichtet worden war, im April 1866 mieten können. Nietzsche war in jener Zeit häufig dort Gast gewesen und genoss den Familienanschluss. Es war für ihn eine Episode, die ihn lebenslang prägte, sodass man die Auseinandersetzung mit Wagner – in ihrer ganzen Palette von unbedingter Adoration bis rüder Ablehnung – vielleicht sogar als Herzstück seines Denkens betrachten kann. Heute befindet sich in dem Gebäude das Richard Wagner Museum. Dessen aktuelle Sonderausstellung thematisiert den Antisemitismus des Komponisten.
Abb. 1: Die monströse Wagner-Büste im Garten des Wagner Museums. Thomas Hunziker schuf das Werk im Auftrag der Schweizerischen Richard-Wagner-Gesellschaft. (Foto: Saehrendt 2024.)

I. Daddy issues und Manipulation

Wagner vollendete in diesem herrschaftlichen Anwesen die Werke Meistersinger von Nürnberg und Siegfried, er setzte dort die Arbeit an der Götterdämmerung fort und komponierte den Huldigungsmarsch sowie das Siegfried-Idyll. In jenem Landhaus überarbeitete er allerdings auch sein verheerendes Pamphlet Das Judenthum in der Musik. Wenige Wochen, nachdem Wagner in Tribschen eingezogen war, besuchte ihn dort seine Geliebte Cosima von Bülow. Das erste gemeinsame Kind von Cosima und Richard, die 1865 geborene Isolde, hatte Cosima noch ihrem Mann als Kuckuckskind unterschieben können.1 Erst zwischen ihren Töchtern und ihrem Ehemann Hans in München und Wagner in Tribschen pendelnd, übersiedelte Cosima schließlich dauerhaft mit ihren Kindern an den Vierwaldstättersee. 1867 kam hier Tochter Eva zur Welt und 1869 wurde Wagners einziger Sohn Siegfried geboren. Im gleichen Zeitraum hatte Hans von Bülow, ebenfalls ein ergebener Wagner-Fan, in die Scheidung von Cosima eingewilligt, so dass diese Richard im August 1870 in der protestantischen Gemeinde der Matthäuskirche in Luzern heiraten konnte. Als Wagners repräsentatives Domizil entwickelte sich das Landhaus Tribschen nun zum Treffpunkt seiner prominenten Förderer und Bewunderer, hier sind vor allem zu nennen: der bayrische König Ludwig II., Cosimas Vater Franz Liszt und eben – Friedrich Nietzsche.

Die von Anfang an fragile und beiderseits mit hohen Erwartungen aufgeladene Freundschaft Nietzsches mit Richard Wagner bestand zehn Jahre und schlug schließlich in heftige Abneigung um. Genauer betrachtet war es auch keine ebenbürtige Freundschaft, sondern eine Vater-Sohn-Beziehung: Wagner diente als (Ersatz-)Vaterfigur2 und der weit jüngere Nietzsche wurde von dieser Beziehung viel stärker geprägt als Wagner. Nietzsche blickte vor allem anfänglich schwärmend zum „Genie“ Wagner auf, während Wagner Nietzsche auch unter Aspekten der Nützlichkeit betrachtete. In diesem Sinn nutzbringend angelegt war die Gastfreundschaft, die Nietzsche zwischen 1869 und 1872 in Wagners Villa in Tribschen genoss und die ihn zu insgesamt dreiundzwanzig Aufenthalten dort bewegte. Die Wagners hatten ihm im Haus sogar ein eigenes Zimmer eingerichtet. Er hat die Zeit dort im Rückblick als die glücklichste seines Lebens beschrieben.3 Zudem hält sich Nietzsche zu den wenigen Auserwählten, die frühzeitig Wagners Genius in vollem Umfang erkannt haben wollten. Er ist in Tribschen stets willkommen, selbst als Cosimas Entbindungstermin ansteht, soll Nietzsche einen lange zuvor geplanten Besuch nicht verschieben, sondern als Glücksbringer und Pate für den kleinen Siegfried anreisen. Er bekommt engen Familienanschluss und wird von Wagner, der erst spät Vater wurde, quasi adoptiert: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glücklicherweise noch Fidi [sein Sohn; Anm. CS] dazu, aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur Sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel.“4 Cosima und Richard sehen in Nietzsche zeitweilig einen potentiellen Mentor und Erzieher ihres ersten Sohnes, der eine außergewöhnliche Ausbildung erhalten soll. Es erstaunt heute, dass die Geistesgröße Friedrich Nietzsche bei seinen Besuchen auch höchst profane Aufgaben im Haushalt übernimmt wie das Aufstellen eines Puppentheaters oder die weihnachtliche Dekoration der Stube, zudem macht er Besorgungen und Schreibarbeiten für Richard. Doch diese Dienste führt Nietzsche gerne aus, waren sie doch Zeichen seiner Integration in die Familie und des Vertrauens seines Ersatzvaters Richard.

Abb. 2: Das Wagner-Museum wirbt mit Nietzsche: Ankündigungsplakat für Veranstaltungen im Museum, u. a. für den Vortrag Friedrich Nietzsche und Richard Wagner – Stationen einer Sternenfreundschaft von Joachim Jung, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Nietzsche-Haus in Sils Maria. / Das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn am Tribschenhorn. (Fotos: Saehrendt 2024)

II. Verehrung und Verrat

Zu jener Zeit tritt Nietzsche als ergebener Fan Wagners auf und wirbt in seinem Bekanntenkreis für ihn. Werner Ross zufolge heuerte Wagner Nietzsche de facto als akademisches PR-Zugpferd an und sorgte persönlich dafür, dass er eine Professur in Basel erhält.5 Wagner brauchte einen aufstrebenden Intellektuellen, der die Hochwertigkeit seines musikalischen Projekts beglaubigt. Durch die familiäre Einbindung wird der Einfluss auf Nietzsche verstärkt. Dieser liefert prompt: Die Geburt der Tragödie, das erste bedeutende Werk Nietzsches, enthielt ein Vorwort an Richard Wagner und war explizit ihm gewidmet. Nietzsche stellte Wagner darin als möglichen Neubegründer einer der griechischen vergleichbaren Kultur dar und distanzierte sich als bekennender Wagnerianer zugleich von der wissenschaftlichen Philologie. Nach dem akademischen Misserfolg seiner Geburt der Tragödie erwägt Nietzsche zeitweilig, die Universität zu verlassen, um deutschlandweit in Vorträgen für die Bayreuther Festspiele zu werben. Die Wagners raten davon ab und versuchen Nietzsche eher darin zu bestätigen, in der philologischen Akademikerzunft zu bleiben, weil er ihnen als ordentlicher Professor nützlicher zu sein scheint.6 Allerdings blockiert die ablehnende Rezeption der Geburt der Tragödie durch seine akademische Peer Group Nietzsches weitere wissenschaftliche Karriere – als Philologe ist er quasi ruiniert und wird somit als akademischer Kronzeuge für Wagner wertlos. Die erotisch-platonische Lockvogelrolle, die Cosima in Bezug auf Nietzsche spielte, hatte sie zuvor bereits an dem jungen bayrischen König Ludwig II. erprobt. Richard Wagner selbst war es, der die Brieffreundschaft zwischen Ludwig II. und Cosima initiierte. In Cosima glaubte Ludwig eine Seelenverwandte gefunden zu haben, mit der er gemeinsam Wagner auf geistiger Ebene huldigen konnte. Umso größer war seine Enttäuschung, als er von der sehr prosaisch-körperlichen Liaison Cosimas mit Wagner erfuhr. Sein offenherzig-schwärmerischer Austausch mit Cosima war nun abrupt beendet. Bis 1885 schrieb er nur noch selten, kurz angebunden und sachlich. Später wurde deutlich – ähnlich wie im Falle Nietzsches – wie abfällig die Wagners, die ausgerechnet am 25. August, an Ludwigs Geburtstag (und Nietzsches späterem Todestag!) in Luzern getraut wurden, über ihn dachten und sprachen. Cosima nennt ihn 1869 in ihrem Tagebuch einen „Crétin“7 mit „Sparren im Kopf“ (ebd.). Und ihren Gatten zitiert Cosima, der über das Dreiecksverhältnis wie folgt urteilte: „Du bist die Schwester des Königs von Bayern, ihr habt euch die Hände gereicht, um mein Leben zu erhalten, er freilich als törichtes Wesen, du als gutes Weib.“ (ebd.)

Nach Ludwig wird auch mit Friedrich abgerechnet. Die von den Wagners forcierte familiäre Einbindung erklärt vielleicht auch den späteren heftigen Groll, die Empfindung des „Vaterverrats“ der Wagners gegenüber Nietzsche, nachdem dieser sich von Richard distanziert hatte. Auch für Nietzsche war die nachträgliche Entzauberung des Tribschener Idylls ein aufwühlendes Ereignis, und die Auseinandersetzung mit Wagner blieb für ihn bis zuletzt hochgradig emotional. Thomas Mann hat in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1917) vom „grotesken Spätstil“ Nietzsches gesprochen, Ausdruck einer „Lebenstragödie, in die das Gekicher klinischen Größenwahns schon vernehmlich hineinklang.“ Dies habe auch explizit Nietzsches Äußerungen über Wagner betroffen: „Seine Psychologie des Christentums, Wagners, des Deutschtums etwa war grotesk-fratzenhafte Fanatiker-Psychologie.“ (S. 338 f.) Man darf bei der Bewertung der Beziehung zwischen Wagner und Nietzsche eben nicht vergessen: Wagner war eine idealisierte (Ersatz)-Vaterfigur gewesen, nicht ein ebenbürtiger Freund Nietzsches. „Um in Wagner zu finden, was er suchte, musste er sich die wirkliche Persönlichkeit Wagners erst zum Idealbild vergrößern,“ sagte Rudolf Steiner in seiner Nietzsche-Gedächtnisrede am 13. September 1900 in Berlin, und kommentierte die Entzweiung der beiden: „Nietzsche ist nicht von dem wirklichen Wagner abgefallen, denn er war ja niemals dessen Anhänger, er wurde sich nur klar über seine Täuschung.“8 Ein sachliches Urteil über Wagner war Nietzsche unmöglich, er schwankte zwischen früher glühender Liebe und später kalter Verachtung. Cosima spielte in diesem Kontext eine mehrdeutige und wichtige Rolle.

In mehreren Briefen an diverse Adressaten kommt Cosima auf den verstorbenen Nietzsche zu sprechen, ihre derartigen „Nachrufe“ sind unfassbar gemein. Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners und ein einflussreicher Antisemit seiner Zeit9, diskutierten im Briefwechsel mehrfach die Idee, Chamberlain könne ein Buch über Nietzsche verfassen, um der florierenden Nietzsche-Rezeption entgegenzutreten, die beiden höchst zuwider war. Schließlich handele es sich um die „Werke eines Wahnsinnigen“10, der nun posthum Ruhm ernte, „gespendet von einer verwahrlosten Bildungscanaille“ (ebd.), schäumte Chamberlain. Die um 1900 verstärkt einsetzende Nietzsche-Verehrung in der Kunstszene und im Bildungsbürgertum sah Chamberlain als wahre „Epidemie“11, die sich durch ein Buch, eine Gegenschrift, nicht stoppen lasse. Gegen diesen „Wahn“ (ebd.) könne man „mit Widerspruch nicht viel ausrichten. Man muss isolieren, was sich noch intakt befindet, die Krankheit sich austoben lassen und dann mit Positivem bei der Hand sein.“ (Ebd.) Cosima gibt im Blick auf Nietzsches Persönlichkeit zu bedenken: „Auch die Rasse spricht hier. Er war slawischen Ursprungs.“12 Nietzsche und seine Gedankenwelt wird von beiden posthum als etwas Krankes, Ansteckendes, Fremdes denunziert – mehr Verrat dieser „schrecklich netten Familie“ an ihrem früheren „Sohn“ ist kaum denkbar.  

Abb. 3: Blick in den Salon des Museums mit dem Wagners berühmten Érard-Flügel. (Foto: Saehrendt 2024.)

III. Zu Besuch im Museum

1931 kaufte die Stadt Luzern das Landhaus der Familie Am Rhyn und verwandelte es bald darauf in das „Richard Wagner Museum“13. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde eine Reihe von Möbelstücken, Instrumenten, Kunstwerken und Dokumenten durch das Museum erworben oder dauerhaft entliehen, so dass heute eine ungefähre Vorstellung von der ursprünglichen Ausstattung des Hauses möglich ist. Im Erdgeschoss, vor allem im Salon mit Seeblick, sind wieder antike und reich verzierte Möbel zu sehen. An den Wänden hängen mehrere Werke Franz von Lenbachs, die Cosima und ihren ersten Mann Hans von Bülow zeigen. Die ursprüngliche Ausstattung der Räume war noch weit prächtiger gewesen. Wagner hatte eine auffällige Präferenz für teure und taktil reizvolle Stoffe wie Samt und Seide sowie für extravagante Kleidung. Dank des umfangreichen Sponsorings des Königs von Bayern konnte Wagner diese Obsession (die möglicherweise fetischistisch-sexuell bzw. transvestitisch motiviert war)14 in den Räumen der Villa Am Rhyn voll ausleben. Seidene Hausschuhe im Bestand der Sammlung zeugen noch heute davon. Das Schmuckstück der Dauerausstellung ist jedoch Wagners Pariser Érard-Flügel (Baujahr 1858), zu dem er eine enge Bindung hatte. Wagner ließ ihn sich mehrmals bei Umzügen nachsenden, musste ihn aber eines Tages notgedrungen verkaufen – um ihn nach einigen Jahren, als er wieder „flüssig“ war, wieder zurückzukaufen. Nach mehrmaliger und umfangreicher Restaurierung wird er noch heute benutzt, wenn Konzerte anlässlich der öffentlichen Museumsführungen stattfinden.15

Abb. 4: Wagners Totenmaske in graziler Tischvitrine. Ausstellungsobjekt im Wagner Museum. / Marmorbüste Cosimas im Salon des Wagner-Museums. Kopie (1906) der Plastik von Gustav A. Kietz, Bayreuth 1873. Im Hintergrund ist ein Gemälde zu sehen, das den Wagner-Hauptsponsor Ludwig II. zeigt. (Fotos: Saehrendt 2024.)

IV. Wagners Antisemitismus

Das geistige Klima im Hause Wagner, ob in Luzern oder später in Bayreuth, war von Antisemitismus geprägt. Nicht nur überarbeitete Wagner in Tribschen sein Pamphlet über Das Judenthum in der Musik, auch Cosima, beeinflusst von einer konservativen katholischen Erziehung und vom Antisemitismus ihres ersten Mannes, ließ kaum eine Gelegenheit aus, gegen Juden zu hetzen. „Über die Juden Gehässigkeiten auszutauschen, sich lachend miteinander in Abfälligkeiten zu verständigen, war eine immer wiederkehrende Situation zwischen Cosima und Wagner“, resümiert Sabine Zurmühl in ihrer Cosima-Wagner-Biographie.16 Lange Zeit spielte Wagners Antisemitismus in der Dauerausstellung des Wagnermuseums kaum eine Rolle. Das Luzerner Stadtparlament hat in den vergangenen Jahren das Museum, welches eine städtische Einrichtung ist, dazu aufgefordert, den Antisemitismus Wagners und die eigene Gründungsgeschichte, die ja noch in einem Wagner-unkritischen Zeitgeist erfolgt war, genauer zu untersuchen. Dabei sollen die Geschichte des Hauses, die Person Richard Wagner und die Rolle der Stadt Luzern durch eine unabhängige Projektgruppe beleuchtet werden. In der neuen Sonderausstellung Tabu Wagner? Jüdische Perspektiven wird seit April dieses Jahres Wagners Antisemitismus ausdrücklich thematisiert. Dabei soll erörtert werden, wie Wagner und seine Judenfeindlichkeit heute auf Juden und Jüdinnen wirkt und inwieweit sein Werk deshalb als tabubelastet gelten darf.

Quellen

Wagners Érard-Flügel. In: Richard Wagner Museum, online: https://www.richard-wagner-museum.ch/geschichte/fluegel-von-erard/

Alschner, Stefan: Wozu das denn? Richard Wagners rosa Schlafrock. In: DHM-Blog, 11.05.2022. Online: https://www.dhm.de/blog/2022/05/11/wozu-das-denn-richard-wagners-rosa-schlafrock/

Bermbach, Udo: Die Frau, die Richard Wagner überragte. In: NZZ, 13.08.2023. Online: https://www.nzz.ch/feuilleton/die-frau-die-richard-wagner-ueberragte-ld.1750646

Borchmeyer, Dieter: Nietzsche, Cosima, Wagner. Porträt einer Freundschaft. Frankfurt a. M. 2008.

Gohlke, Christian: Die Schwester des Märchenkönigs hielt ihn für einen „Crétin“. In: NZZ, 31.05.2021. Online: https://www.nzz.ch/feuilleton/cosima-wagner-und-ludwig-ii-die-schwester-des-maerchenkoenigs-ld.1626954

Janz, Curt Paul: Das Gesetz über uns. Friedrich Nietzsches Wagner-Erfahrung. In: Thomas Steiert (Hg.): Der Fall Wagner. Ursprünge und Folgen von Nietzsches Wagner-Kritik. Bayreuth 1991, S. 13–32.

Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt a. M. 1956.

Pretzsch, Paul (Hg): Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888–1908. Leipzig 1934.

Ross, Werner: Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos. Stuttgart 1994.

Steiner, Rudolf: Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit. Dornach 1963.

Zelger-Vogt, Marianne: Wahn ohne Frieden. Wenn eine Mutter die eigene Tochter verleugnet. In: NZZ, 29.06.2023. Online: https://www.nzz.ch/feuilleton/wahn-ohne-frieden-als-cosima-wagner-die-eigene-tochter-verleugnete-ld.1744651

Fußnoten

1: Vgl. Zelger-Vogt, Wahn ohne Frieden.

2: Vgl. Janz, Das Gesetz über uns, S. 21.

3: Vgl. Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 13.

4: Zit. n. ebd., S. 34.

5: Vgl. Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos, S. 52.

6: Vgl. ebd., S. 43.

7: Gohlke, Die Schwester des Märchenkönigs hielt ihn für einen „Crétin“.

8: Rudolf Steiner, Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, S. 178.

9: Chamberlain legte mit seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts eine Kompilation Wagnerscher Ideen und Thesen Arthur de Gobineaus vor und folgerte, dass die „germanische Rasse“ zur Führung der Welt bestimmt sei. Bis 1915 gab es elf Auflagen. Eine Volksausgabe wurde 100.000fach unter deutschen Soldaten verteilt.

10: Paul Pretzsch (Hg.), Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel, S. 613 (Bf. v. 9. 3. 1901).

11: Ebd., S. 612 (Bf. v. 9. 3. 1901).

12: Ebd., S. 502 (Bf. v. 6. 1. 1897). (Anm. d. Red.: Zu Nietzsches vermeintliche polnischen Wurzeln vgl. auch Paul Stephans entsprechenden Artikel auf diesem Blog.)

13: Für mehr Informationen zum Museum vgl. dessen Website.

14: Vgl. Stefan Alschner, Wozu das denn?

15: Vgl. Wagners Érard-Flügel.

16: Sabine Zurmühl: Cosima Wagner – ein widersprüchliches Leben (Köln 2022). Zit. n. Udo Bermbach, Die Frau, die Richard Wagner überragte.

Eine schrecklich nette Familie

Nietzsche als Hausfreund der Wagners im „Tribschener Idyll“

Richard Wagner lebte sechs Jahre lang am Vierwaldstättersee. Er hatte das Landhaus der Luzerner Patrizierfamilie Am Rhyn, das in schöner landschaftlicher Lage am Tribschenhorn errichtet worden war, im April 1866 mieten können. Nietzsche war in jener Zeit häufig dort Gast gewesen und genoss den Familienanschluss. Es war für ihn eine Episode, die ihn lebenslang prägte, sodass man die Auseinandersetzung mit Wagner – in ihrer ganzen Palette von unbedingter Adoration bis rüder Ablehnung – vielleicht sogar als Herzstück seines Denkens betrachten kann. Heute befindet sich in dem Gebäude das Richard Wagner Museum. Dessen aktuelle Sonderausstellung thematisiert den Antisemitismus des Komponisten.

Bangladesch begehrt auf

Der Wille zur Revolution

Bangladesch begehrt auf

Der Wille zur Revolution

28.3.25
Estella Walter

Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?

Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?

In Gedenken an Abu Sayed und allen Namenlosen der Juli-Revolution 2024

I. Eine Chronik der Juli-Revolution

Nachdem Bangladesch, damals noch Ostpakistan, sich 1971 von seiner Kolonialmacht Pakistan unabhängig gekämpft hatte und zur souveränen Nation geworden war, etablierte die Regierung unter Rahman ein Quotensystem des Beamtensektors, das besonders Veteranen, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, und einige Minderheiten bevorzugte. Das System blieb jahrzehntelang intakt – wenn auch mit Schwankungen – und wurde nach dem langsamen Sterben der ursprünglichen Freiheitskämpfer um deren Nachkommen erweitert. Der Beamtensektor, wie auch hier im Westen, geht selbstverständlich mit besseren Arbeitskonditionen und höheren Positionen einher, sodass im Effekt ganze Familien in privilegierte Stellungen innerhalb der bangladeschischen Gesellschaft aufrückten, während der Großteil der Bevölkerung sich in immer prekärere Arbeitsbedingungen gezwungen fand. Die öffentliche Kritik am Quotensystem wuchs und führte immer wieder zu Protesten in ganz Bangladesch, wurde jedoch in den autokratisch geführten und von Korruption durchzogenen Regierungsperioden der Premierministerin Sheikh Hasina (1996-2001 & 2009-2024), die der Partei ihres Vaters, der Awami League, zugehörte, vehement fortgesetzt. Nachdem Hasina unter dem Druck der Proteste versprach, das Quotensystem abzuschaffen, wurde dieses im Juni 2024 durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof erneut eingesetzt.  

Was dann geschah, dürfte wohl ganz Bangladesch und darüber hinaus überrascht haben, inklusive aller Involvierten selbst: Aus friedlichen Protesten einer studentischen Gruppe in Dhaka gegen die Gerichtsentscheidung wurde schnell eine nationale, studentisch geführte Aufstandsbewegung, die tausende Studierende auf die Straße trieb. Hasina reagierte auf die Proteste zunächst, indem sie alle Beteiligten als Razakars denunzierte – eine Miliz, die zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs mit dem pakistanischen Militär zusammengearbeitet hatte – und also mit Verrätern des bangladeschischen Befreiungskampfes gleichsetzte. Was sich im weiteren Verlauf entwickelte, kann wohl als Pingpong bezeichnet werden zwischen auf der einen Seite den Mobilisierungen der widerständischen Kämpfe, angefangen von einzelnen bereits bestehenden studentischen Gruppen bis hin zu breiten Massen der Studierenden, und staatlich-polizeilicher Repression inklusive regimenaher, studentischer Kaderorganisationen auf der anderen Seite. Am 16. Juli wurde der Student Abu Sayed, einer der Organisatoren der Students Against Discrimination-Bewegung, mit offenen Armen auf der Straße stehend von der Polizei erschossen. Die Empörung über seine brutale Ermordung radikalisierte die Aufstände, die Menge der Protestierenden wuchs zu einem ausgereiften und bemerkenswert gut organisierten Netzwerk, das sich den Repressionen sowohl durch Polizei- und Milizgewalt als auch Schließung der Wohnheime, Ausgangssperren und des kompletten Shutdown des Internets bis schließlich hin zu Hasinas Shoot-on-Sight-Kommando, das zu mehreren Massakern führen sollte, widersetzen konnte. Hasina, die dem Druck der von der öffentlichen Meinung unterstützten Aufstände trotz brutaler Unterdrückungsversuche nicht mehr Stand hielt, erklärte sich zu Verhandlungen bereit. Die organisierte Menge, mittlerweile hatten sich auch große Teile der Arbeiterklasse z. B. aus der Textil- und Transportbranche angeschlossen, hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch nur eine Forderung, nämlich den Rücktritt Hasinas und einen Neuaufbau der Regierung. Diese wehrte sich mit weiteren Tötungsmanövern bis schließlich am 4. August über eine Millionen Menschen zu Hasinas Residenz marschierten, dort jedoch nur ein leeres Haus vorfanden. Einen Tag später, am 5. August, trat Hasina nach über 15 Jahren an der Macht vom indischen Exil aus als Premierministerin zurück. Die Konsequenzen ihrer Führung in nur diesem einen Monat sind verheerend: die Todeszahl wird auf 1.400 Personen geschätzt – viele davon bis zur Unkenntlichkeit massakriert, sodass eine Identifizierung nicht möglich war – die Zahl der Verletzten liegt bei über 20.000. Dennoch: Bangladesch, trotz aller Verluste, jubelt, denn das Ende des Hasina-Regimes ist etwas, was sich viele nicht mehr in ihrer Lebenszeit erträumt hätten.

Abbildung 1: Abu Sayed kurz vor seiner Ermordung

II. Der Wille zur Macht und das Revolutionäre

Die Geschwindigkeit und Spontanität der Ereignisse, das Ausmaß an Gewalt und Blutvergießen, die Dimension des organisierten revolutionären Widerstandes sowie sein schlussendlicher Erfolg sind bemerkenswert und bedürfen eines Erklärungsversuches. Im Sammelsurium Nietzscheanischer Konzepte fällt einem dort unmittelbar der Wille zur Macht ins Auge. Nietzsche, der die Welt weder dialektisch noch teleologisch verstand, geht vielmehr von materiellen Kräfteverhältnissen aus, denen „eine innere Welt zugesprochen werden [muss]“1 und die sich in allem Lebenden ausdrücken. Sie sind der Wille zur positiven, das heißt selbstbejahenden und immer schon vollständigen, kompletten, Macht. Als solchem fehlt es ihm an nichts, er ist sich selbst genügend, hat weder einen singulären Ursprung noch ein Äußeres, von dem er abhängen würde. Das bedeutet, dass sich die materiellen Kräfte in ihrer Äußerung und nur durch diese verwirklichen. „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem. Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem“2, um Nietzsche sprechen zu lassen. Doch dürfen wir uns von Nietzsches Jargon nicht in die falsche Richtung leiten lassen, der Wille zur Macht sollte sich nicht als gottesgleiche metaphysische Totalität vorgestellt werden, „er ist Prinzip der Synthesis der Kräfte. In dieser sich auf die Zeit beziehenden Synthesis durchlaufen die Kräfte dieselben Differenzen, in ihr reproduziert sich das Verschiedene“3. Wir haben es mit Differenz zu tun, die den quantitativen Kräften ihre jeweilige qualitative Verschiedenheit, also die Fülle bzw. Vielheit der materiellen Realität, zukommen lässt. In den Verhältnissen dieser Kräfte liegt das für das Lebendige Ausschlaggebende, aus ihnen geht das Leben hervor oder, akkurater, sie sind das Leben selbst. Denn wir dürfen nicht vergessen, der Wille ist ein innerer, der die realen Vielheiten aus sich selbst heraus reproduziert, ohne sich eine künstliche, ihm äußerliche Opposition schaffen zu müssen, von der er zu zehren hätte. Er ist in sich schöpferische Kraft, hört niemals auf zu produzieren, sich zu steigern, zu revolutionieren, angetrieben vom Begehren zu werden.

Was passiert, wenn dieser Wille zur Macht reaktionär, total, verneinend und repressiv wird, dem Stillstand unterliegt anstatt des ewigen Werdens, lässt sich in den materiellen Verhältnissen klar erkennen. Die Moderne des Menschen ist charakterisiert durch globale Ausbeutungsverhältnisse, die sich auch lange nach dem vermeintlichen Verschwinden des europäischen Kolonialismus nicht ausmerzen lassen. Vielmehr fließen sie zähflüssig im neokolonialen Hangover über den Globus, wo sie ihre eigenen raffinierten Mechanismen sowohl der materiellen als auch der kulturellen Ent- und Aneignung finden. Der sogenannte globale Süden wurde zur produktiven Fabrik, zum Ort der Mehrwertproduktion durch Exploitation für den Rest der Welt und, mehr noch, zum outgesourcten Kampfplatz geopolitischer Interessen. Die Folgen bekommen Milliarden von Menschen zu spüren: Umweltkatastrophen, Vertreibung und Enteignung, prekäre und lebensgefährliche Arbeits- und Lebensbedingungen, Hungertode, ungerechtfertigte, teilweise lebenslange Inhaftierungen, politische Repressionen, Folter und Kriege bis hin zu Genoziden. Wo Nietzsche die Welt durch den Willen zur Macht als grundlegend produktive, bereichernde, relativ freie und heterogene Kraft konzipiert, sieht man in ihr gewaltige Selbstzerstörung bis hin zur Vernichtung – man sieht den gegen sich selbst gekehrten Willen zum Nichts, der fleißig damit beschäftigt ist, sich beide Beine abzusägen.  

Abbildung 2: Siegeszug nach Hasinas Rücktritt

III. Der bangladeschische Wille zur Befreiung

Für die Großmächte spielt Bangladesch eine zentrale Rolle in der Region und Hasinas Regime bot strategische Vorteile. Auf der einen Seite liegt Bangladesch zwischen den zwei in Konkurrenz stehenden Giganten Indien und China, die beide um die Kontrolle südasiatischer Gebiete kämpfen, auf der anderen Seite wiederum sind die USA auf Indien als Verbündeter gegen China angewiesen. Während Hasina mit ihnen allen liebäugelte, vor allem aber von Indien und den USA gestützt wurde, herrscht in der bangladeschischen Bevölkerung ein anderer Ton, denn für die Masse bedeuten jene Großstaaten in erster Linie um die Ecke lauernde Kräfte des Imperialismus, die sich in Konflikten um Wasserressourcen, antimuslimischer und -bangladeschischer Gewalt von Seiten Indiens unter dem rechten Premierminister Narendra Modi und der Vorherrschaft multinationaler, westlicher Konzerne äußern. Dass eine solche Lage in Bangladesch unter Hasina, einer Premierministerin berüchtigt für Wahlbetrug, Korruption und eine eiserne Hand gegen jede Form der Opposition, die also die eigene Bevölkerung unterdrückte und gleichzeitig das Land an imperiale Mächte verkaufte, zu immer stärkeren Revolten führen würde, dürfte nicht überraschen. Denn das Aufbegehren gegen Totalität liegt in der Natur des Willens zur Macht, ihm ist das Revolutionäre inhärent. Foucaults Überlegungen in seiner Analyse der Iranischen Revolution 1979 schließen sich dem an:

Aufstände gehören zur Geschichte, aber in gewisser Weise entkommen sie ihr. Die Bewegung, durch die ein Einzelner, eine Gruppe, eine Minderheit oder ein ganzes Volk sagt: „Ich gehorche nicht mehr“, und bereit ist, das Leben zu riskieren angesichts einer für ungerecht erachteten Macht, scheint mir irreduzibel zu sein. Das liegt daran, dass keine Macht in der Lage ist, sie absolut unmöglich zu machen.4

Immer wieder zeigt sich: Wo sich ein Machtverhältnis konsolidiert, bis keine bewegliche Differenz mehr möglich scheint, da eruptiert der Wille zur Macht wie heiße Lava, die den versteinerten Boden zum Schmelzen bringt. Jeder Versuch, das Leben zu verunmöglichen, führt zur Emergenz einer noch radikaleren Gegenkraft, die sich ihren Weg zur Befreiung bahnt. So auch in Bangladesch. Es mag wohl die Gerichtsentscheidung zur Weiterführung des Quotensystems als Auslöser gedient haben, als letzter Stoß, der das Magma über die Oberfläche hinausschießen ließ. In jedem Fall kam es im Juli 2024 zum entscheidenden Moment in der Geschichte, der die Mengen dorthin trieb, wo das Risiko des Todes dem Zwang des Gehorsams vorgezogen wurde und der Kampfgeist von vereinzelten Gruppen zur breiten Masse überschwappte. Denn, wie der palästinensische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Ghassan Kanafani sagte, „unser Land zu befreien, Würde zu haben, Respekt zu haben, unsere bloßen Menschenrechte zu haben; dies sind Dinge so wesentlich wie das Leben selbst“5. Was den Kampfgeist provoziert ist also keineswegs eine einfache Frage des bloßen Überlebens, sondern dessen, was dem Leben einen Wert verleiht, ein Begehren so essenziell, dass es universal wirkt und ganze Bevölkerungen trotz, oder viel eher gerade aufgrund, ihrer Differenzen zu einem kollektiven Willen trägt. Schließlich ist es gerade die Differenz, für die es sich in einem totalitären, absoluten Regime zu kämpfen lohnt und so ist auch die revolutionäre Organisationsform „vielfältig, zögernd, verwirrt und obskur sogar für sich selbst“6. Die politische Landschaft Bangladeschs ist durchkreuzt von solchen divergenten Achsen unterschiedlicher Religionen, Ideologien und Klassen und entsprechend war das Netzwerk aus Gruppen und Bewegungen keine Vereinheitlichung, sondern ein Zusammentreffen getrieben von der kollektiv erfahrenen Unmöglichkeit der herrschenden Zustände.  

Gilles Deleuze bezeichnet solche Organisationsformen des Begehrens als Rhizome, ein dezentralisiertes System aus Wurzeln, das in alle Richtungen wächst, „die unterschiedlichsten Formen annehmen [kann], von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung“7, und in dieser flexiblen Verbundenheit, die keine zentrale Führungsmacht kennt, liegt seine Potenz. Es wird bewegt weniger von einer utopischen Vorstellung eines Noch-Nicht, sondern ist vielmehr spontaner Ausbruch eines heterogenen Leuchtfeuers, das dem Unaushaltbaren Widerstand leistet und sich den repressiven Gegenreaktionen anzupassen weiß. An den Universitäten, in den Fabriken und auf den Straßen Bangladeschs schoss das Begehren für ein Leben in Würde und Respekt aus dem Boden, wie es für Graswurzelbewegungen üblich ist – denn eine wahrhaft befreiende Revolution kann nur von unten kommen, dort wo die materielle, reale Differenz operiert. Revolutionär kann nur die Minorität sein. Damit ist keine quantitative Unterzahl gemeint, sondern das außerhalb der dominanten Vorherrschaft Liegende, marginale Sub-Systeme, Abweichungen, das Verschiedene und es gilt die Majorität eines herrschenden Regimes zu minorisieren, ihr ihre Vorherrschaft zu nehmen und in den Prozess des Werdens zu überführen, wo sie selbst zum Sub-System wird. Eine Revolution ist niemals vollzogen, wenn eine Majorität durch eine andere ersetzt wird, sondern erst dann, wenn die Minorität zum inneren Prinzip der Gesellschaft wurde. In diesem Sinne müssen auch die Juli-Aufstände verstanden werden und in diese Sinne gehört Shadik Kayem, einem der führenden Studenten, das Schlusswort:

Wir wollten ein demokratisches Bangladesch aufbauen, in dem die Menschen in Freiheit und Würde leben können ... Wir haben gemeinsam Ideen entwickelt und uns gegenseitig geholfen, die Bewegung zu organisieren und die Studenten zu motivieren. Ich sage nicht, dass dieser oder jener der Vordenker der Bewegung ist. Ich sage, dass alle Studierenden und Massen, die uns geholfen und sich beteiligt haben, die Helden sind.8

Quellen

ABC’s Richard Carleton interviewing Ghassan Kanafani, 16. 10. 1970. Online: https://www.abc.net.au/news/2024-09-19/abc-richard-carleton-interviewing-ghassa/104368218.

Chandan, Khan & Md Shahnawaz: A chronicle of the July Uprising, o. J. Online: https://thegreatwave.thedailystar.net/news/a-chronicle-of-the-july-uprising.

Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. Übersetzt von Bernd Schwibs. Reihe Passagen. München 1976.

Deleuzees & Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992.

Ghamari-Tabrizi, Behrooz: Foucault in Iran. Islamic Revolution after the Enlightenment. Muslim International. Minneapolis 2016.

Bildquellen

Artikelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Abu_Sayed_holding_flag.png#

Abb. 1: https://www.newagebd.net/post/country/242084/yunus-to-visit-abu-sayeeds-family-in-rangpur

Abb. 2: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_victory_celebration_of_Bangladeshi_student%27s_one_point_movement.jpg

Fußnoten

1: Nachgelassene Fragmente 1885 36[31].

2: Nachgelassene Fragmente 1885 38[12].

3: Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 56.

4: Ghamari-Tabrizi, Foucault in Iran, 70. Frei übersetzt von der Autorin.

5: ABC’s Richard Carleton interviewing Ghassan Kanafani. Frei übersetzt von der Autorin.

6: Ghamari-Tabrizi, Foucault in Iran, 61. Frei übersetzt von der Autorin.

7: Deleuze & Guattari, Tausend Plateaus, S. 16.

8: Khan Chandan & Md Shahnawaz, A chronicle of the July Uprising.

Bangladesch begehrt auf

Der Wille zur Revolution

Für insgesamt 20 Jahre herrschte in Bangladesch ein eisernes, autoritäres Regime unter Sheikh Hasina, der Tochter des ersten Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes von Pakistan, Sheikh Mujibur Rahman. Doch innerhalb kürzester Zeit brachen im Juli 2024 landesweite Aufstände von einer solchen Gewaltigkeit aus, dass sie Hasina nach nur einem Monat stürzten und ins Exil trieben. Wie kam es zu diesem Sieg von unten und wie helfen uns Nietzsches Wille zur Macht und seine Ausarbeitungen von Foucault und Deleuze weiter, um diesen historischen Moment zu verstehen?

Darts & Donuts
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1

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Die Apokalyptik der Identität als Projekt. – Furcht und Zittern im Rückzug auf das Partikulare – zirkeln zwischen Sinn und Zwang. Bedingt die Verdrängung der Allgemeinheit die Autoaggression; die Reduktion der Zukunft, die Rückkehr des Tabus – oder umgekehrt? Zur „Republik des Universums“ sprach also der Philosoph des Mythos: „fear knows only how to forbid, not how to direct“.

(Sascha Freyberg)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

„Die Waffe gegen dich zum Werkzeug machen, und wenn’s nur ein Aphorismus wird.“

(Elmar Schenkel)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

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