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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches





Artikel
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Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II


Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.
Teil II: Nietzsches Schopenhauer-Kritik
V. Der Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus
Der Wille stellt für Schopenhauer das monistische Weltprinzip dar, auf das alle Welterscheinungen zurückgeführt werden können. Es ist das metaphysische Wesen, das dem kantischen Ding an sich zugrunde liegt, das, was „das innere Wesen der Dinge ausmacht“15. Nietzsche setzt sich mit dem Schopenhauerschen Willensbegriff intensiv auseinander und betrachtet ihn als eine metaphysische Hypothese, die es zu widerlegen gilt, um eine das Leben konsequent bejahende Philosophie aus der Taufe heben zu können. Der Kampf gegen die Schopenhauersche Willensthese verwandelt sich bei Nietzsche zu einem Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus.
Der Pessimismus an sich ist für Nietzsche eigentlich nicht das Hauptproblem: „Nicht der Pessimismus (eine Form des Hedonismus) ist die große Gefahr […] [,] [s]ondern die Sinnlosigkeit alles Geschehens!“16. Schopenhauers Begriff des Willens zum Leben, der die verschiedenen Manifestationen des ewigen Willens in der Stufenleiter der Natur unter einen einheitlichen Ausdruck eines „blinden Drangs“ bringt, der alle Lebewesen unermüdlich zur Sättigung des egoistischen Überlebenstriebs treibt und die Welt somit zum „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“17 macht, hat eine in Nietzsches Augen lebensgefährliche Abwertung des Daseins zur Folge. In Der Antichrist (1888) macht er deutlich: „Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend“18.
Nietzsche spielt mit seiner Aussage auf die im vierten und letzten Hauptteil der Welt als Wille und Vorstellung vorgetragene Mitleidsethik an. Der Schopenhauersche Begriff des Willens zum Leben birgt in sich schon das Moment seiner Negation. Diese nihilistische Moral der Selbstaufhebung des Willens führt ins Nichts, das bezeichnenderweise dem Schlusswort des Schopenhauerschen Hauptwerks entspricht. Diese von Schopenhauer selbst auch als Askesis verstandene Moral der Willensnegation präsentiert er als „die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur anhaltenden Mortifikation des Willens“19. Diesen Lebensstil und seinen vernichtenden Umgang mit dem Willen zum – negativen – philosophischen Ausgangspunkt seines eigenen Mammutprojektes, der „Umwertung aller Werte“, machend, entwickelt sich Nietzsche schrittweise zum Anti-Schopenhauerianer.
VI. Wille zum Leben oder Wille zur Macht?
Seinen Begriff des Willens zur Macht konzipiert Nietzsche als einen doppelten Gegenentwurf zum Schopenhauerschen Willen zum Leben. Dieses Antimodell ist insofern doppelt, als es aus einer zweifachen, „ethischen“ und „metaphysischen“ – zwei Termini, die strenggenommen nicht mehr zu Nietzsches Philosophieverständnis passen – Opposition gegen die Schopenhauersche Philosophie erwächst. Der Begriff des Willens zum Leben spiegelt die multiplen physio-psychologischen Kämpfe, die die Wirklichkeit von innen her strukturieren, in Nietzsches Augen unzureichend wider. 1882 trifft er die Aussage: „Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht“20.
Der Wille zur Macht ist ein verwickelter Begriff: Der Sinn und die zentrale Rolle, die Nietzsche ihm zuerteilt, sind schwierig zu entschlüsseln. Es ist nicht ganz klar, ob es sich, wie bei Schopenhauer, um einen Begriff mit metaphysischem Anspruch oder vielmehr um ein regulatives Prinzip einer neuen Lebensführung handelt. Denn man findet in Nietzsches Schriften Stellen, die sowohl die eine als auch die andere Hypothese bestätigen. In einem Nachlassfragment von 1885 trifft er beispielsweise eine stark an die Schopenhauersche Metaphysik erinnernde Aussage: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“21. Später heißt es jedoch in einem Fragment, das den Titel „Wille zur Macht als Erkenntniss“ trägt – eine Idee, die Martin Heidegger zum Hauptgegenstand seiner Vorlesung vom Sommersemester 1939 an der Universität Freiburg machen wird22 –, dass es ihm mit seinem Begriff des Willens zur Macht weniger darum geht, die wahre Erkenntnis des Weltwesens zu offenbaren, als „dem Chaos so viel Regularität und Formen auf[zu]erlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut“23.
Sicher ist, dass Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht den Versuch einer alternativen Auslegung und Bewertung des Lebens stellt, die einer neuen, gegen Schopenhauer gerichteten Lebensführung den Weg bereiten soll. Ziel ist es, mit anderen Worten, sich der nihilistischen Grundvorstellung zu widersetzen, wonach der Hauptantrieb des Menschen einem „blinden Drang“ zum Leben entspricht, der ihn dazu verleitet, ohne Grund an der Erhaltung seines Daseins festzuhalten – und im Gegenzug zu beweisen, dass der Mensch in Wahrheit nicht nach seinem (Über-)Leben, sondern nach Macht strebt.
VII. Ja oder nein?
Die gegensätzlichen Lebens- und Weltauslegungen beider Denker – als Spiegelbild des Willens zur Macht oder des Willens zum Leben – gehen mit gegensätzlichen Vorstellungen vom Sinn des Lebens einher. Die Schopenhauersche Daseinsauffassung als Manifestation des blinden, unersättlichen Willens zum Leben führt zwangsläufig zu seiner völligen Selbstverneinung. Im vierten Buch des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung macht Schopenhauer deutlich, „daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Inneren herumträgt“24. Der Schopenhauerschen Beantwortung der „Sinn-des-Lebens-Frage“ liegt also eine doppelte These zugrunde: Erstens, dass Leben und Leiden wesentlich zusammengehören, und zweitens, dass das Leiden sinnlos ist und somit vermieden werden sollte. Die Leidensvermeidung als Lebensaufgabe, die Schopenhauer nicht im hedonistischen Sinne eines Strebens nach Sinnenlust versteht – denn alles Glück ist negativer Natur und besteht nur in einer kurzen Unterbrechung der einzig „positiven“ Mangelerscheinung – kann nur durch eine asketische Negation dessen, wovon das ewige Leid seine Nahrung erhält, vom Willen zum Leben, geschehen. Die Schopenhauersche Philosophie, die man durchaus mit Rudolf Malter25 als eine Soteriologie26 verstehen kann, reagiert demzufolge mit einem entschiedenen „Nein!“ auf den egoistischen Willen zum Leben, um nicht nur dem individuellen, sondern auch dem Leid in der Welt allgemein ein Ende zu setzen.
Nietzsche reagiert ganz anders auf das Problem des Leidenscharakters des Lebens. Das neue Leben, das er mit der Idee des Willens zur Macht zu denken sucht, setzt eine gewisse Leidensbereitschaft des Menschen, einen gewissen Willen zum Leiden voraus. „Der Wille zum Leiden ist sofort da, wenn die Macht groß genug ist“27, schreibt Nietzsche 1883 in sein Notizbuch. Sein „wahrer“ Pessimismus kommt mit diesem Begriff des Willens zum Leiden zur Geltung. Seine alternative Vorstellung des Pessimismus, die er ebenfalls als einen „Pessimismus der Stärke“ oder als einen „klassischen Pessimismus“ bezeichnet, richtet Nietzsche gegen den „romantischen“ Pessimismus, den in seinen Augen nicht nur Schopenhauer, sondern auch Alfred De Vigny, Fjodor Dostojewski, Giacomo Leopardi, Pascal und alle Weltreligionen vertreten.
Gegen diese Vertreter des romantischen Pessimismus, vor allem aber gegen Schopenhauers Negation des Willens zum Leben, soll „ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung concipirt [werden], in dem sogar der Schmerz, jede Art von Schmerz als Mittel der Steigerung ewig einbegriffen ist: der tragisch-dionysische Zustand“28. Mit seinem tragisch-dionysischen Pessimismus antwortet Nietzsche somit auf die Frage nach dem In-Kauf-Nehmen des Leids für das Leben im genau entgegensetzten Sinne zum Schopenhauerschen „Nein!“ mit einem überzeugten, durchaus kämpferischen und neuen „Ja!“.
VIII. Atheismus und Amoralismus
Seit Schopenhauer muss die Philosophie auf eines ihrer ältesten und stärksten Argumente zur Erklärung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, verzichten: Gott. Die Wirklichkeit verlangt nun nach einer atheistischen Auslegung ihrer selbst; sie will als solche, d. h. nicht mehr als bloßes Geschöpf eines unerreichbaren Schöpfers wahrgenommen werden. Der Anspruch, den Schopenhauer an die Philosophie stellt und der darin besteht, das Wesen der Welt ohne den Rückhalt einer ultimativen Gottesthese zu deuten, imponiert Nietzsche. In seinen Augen war Schopenhauer „als Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben“29.
An den Schopenhauerschen, für eine neue, anti-transzendente Methode richtungsweisenden Atheismus, wird Nietzsche mit seiner Philosophie unmittelbar anknüpfen. „Der Atheismus war das, was mich zu Schopenhauer führte“30, erklärt er in Ecce Homo (1889). Auch in diesem Zusammenhang wird Nietzsche mehr die Diagnose, die Schopenhauer vom Zustand der Metaphysik macht, als das von ihm vorgeschlagene Therapeutikum wertschätzen. Denn Gottes Tod führt bei Schopenhauer, anders als bei Nietzsche, nicht gleichzeitig zum Untergang der moralischen Werte. Atheismus und Amoralismus gehen für Schopenhauer nicht miteinander einher. Obwohl er der christlichen Gotteslehre nicht folgt, bleibt er der philanthropischen Moral des Christentums nichtsdestotrotz treu. Die Menschenliebe (caritas), die als erstes vom Christentum „theoretisch zur Sprache gebracht und förmlich als Tugend, und zwar als die größte von allen, aufgestellt“31 wurde, erkennt Schopenhauer als das allerwichtigste Prinzip der in einem engen Zusammenhang mit seiner Metaphysik stehenden Moral an. Er bleibt somit Christ im Herzen, wenngleich er die christliche Gotteslehre mit seiner Vernunft verwirft.
Nietzsche geht insofern einen bedeutenden Schritt weiter als sein Erzieher. In seinen Augen war dieser noch viel zu sehr Moralist, um die Notwendigkeit der Ankunft eines neuen mächtigen, lebensbejahenden Menschen zu erkennen. „Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja“32, heißt es in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahre 1887. Dieses neue „Ja“, zu dem er seine Leser gegen seinen Erzieher erziehen will, setzt eine Überwindung der Moral voraus. Um die Moral zu überwinden, muss der Mensch den Hang zum Mitleid gegenüber seinen Mitmenschen, den Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer nicht als „natürlich“, sondern als kulturell erschaffen betrachtet, vehement bekämpfen. „Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden“33, wird Nietzsche somit in Ecce Homo schreiben. Doch wer ist dieser Überwinder der Moral, der am Ende als das Ideal der Selbsterziehung des Menschen vor Nietzsches Augen steht?
IX. Der „Buddha von Frankfurt“ gegen das „umgekehrte“ Zarathustra-Ideal
Schopenhauers Denken wurde nachhaltig von seinen antagonistischen Jugenderlebnissen der übermannenden Schönheit der Natur und dem niederschmetternden Elend des Menschen- und Tierreichs geprägt. In einem Rückblick auf seine Jugend schreibt der zu diesem Zeitpunkt schon in der Mitte seiner Vierzigerjahre stehende Privatgelehrte: „In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte“34. Die nicht nur für seine eigene Philosophie, sondern auch für sein Selbstverständnis als Mensch eine zentrale Rolle spielende Buddha-Figur wird Schopenhauer sogar über seinen Tod hinaus begleiten. Bis heute geben manche seiner aufmerksamen Leser:innen ihm den Beinamen „der Buddha von Frankfurt“.
Auch Nietzsche nennt Schopenhauer und Buddha in einem Atemzug. Das Ziel seiner Philosophie besteht jedoch darin, sich über die schopenhauerianisch-buddhistische Anschauung des Lebens hinwegzusetzen, um einem neuen Propheten eine Bühne zu bieten. Es geht ihm darum, dass die Menschheit, vermittelst eines neuen „Hellsehers“, eine neue „frohe Botschaft“ erhält, wonach das Leben „nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral“35 betrachtet werden muss. Nietzsche will uns die Augen für ein „umgekehrte[s] Ideal“ öffnen, nämlich „für das Ideal des übermüthigsten[,] lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“ (ebd.).
Der Prophet dieser radikalen Affirmation der Welt und des Lebens heißt Zarathustra. Allerdings hat die Figur, die man in Nietzsches Werken wiederfindet, anders als die Buddha-Referenz im Schopenhauerschen Denken, nicht viel mit der historisch übermittelten Lehre des Gründers des Zoroastrismus zu tun. Nietzsches Zarathustra vermittelt seinen Jüngern eine bis dahin noch nie ausgesprochene Lehre: jene des Übermenschen, mit welcher er „der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist“36. Dieses Geschenk besteht in Nietzsches Augen darin, die Menschheit vom traditionell überlieferten Laster des schlechten Gewissens, des erlahmenden Selbstmitleids und der überzeugten Selbstkasteiung befreit zu haben.
Der Zarathustra Nietzsches erkennt, wie der Buddha Schopenhauers, den immerwährenden Kreislauf des Seins, doch er zieht aus dieser Erkenntnis einen anderen Schluss; Ziel des Lebens ist es nicht, diesen ewigen Kreislauf wie im Buddhismus zu durchbrechen, sondern „die ewige Wiederkunft des Gleichen“ zu wollen:
Zarathustra ist ein Tänzer –; wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den „abgründlichsten Gedanken“ gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet, — vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, „das ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen.“37
X. Fazit: Rosenkrieg und Patrizid
Aus unseren überblickenden Betrachtungen der Werke und nachgelassenen Fragmente Nietzsches lässt sich zweifelsohne schließen, dass die Themen, Motive und Argumente der Schopenhauerschen Philosophie eine zentrale, omnipräsente Rolle in seinem Denken spielen. Der Wille zum Leben und zur Macht, der Pessimismus, der Atheismus, die ewige Wiederkunft, der Nihilismus, das Mitleid, die Musik als Metaphysik, das Genie: Jedes dieser Hauptmotive der Nietzscheschen Philosophie findet im Denken Schopenhauers ein Vorbild.
Der Erzieher, der ihm in seinen jungen Jahren eine tiefere, willensphilosophische und pessimistische Sicht auf die Welt bot, blieb bis zum Schluss eine intellektuelle Herausforderung für Nietzsche: Das Modell eines Philosophen, für das er selbst die Alternative sein wollte. Die Geschichte der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung entspricht demnach einer sich in einen Rosenkrieg verwandelnden, einseitigen Liebesgeschichte. Nicht bei der Weltanschauung seines geliebten Erziehers stehen zu bleiben, sondern, von ihr ausgehend, eine gegensätzliche, größere Sicht der Dinge anzubieten: Darauf kam es Nietzsche wirklich an. Ob er Schopenhauer in allen Punkten richtig verstanden hat, spielt für ihn letztlich keine große Rolle. Am Ende zählt für ihn vor allem eins; sein im Dienste des Übermenschen vollbrachter Patrizid:
Ich bin fern davon zu glauben, dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ich durch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin.38
Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.
Quellen
Heidegger, Martin: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis. Frankfurt am Main 1989.
Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991.
Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlaß, Band 4, I. München 1985.
Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Frankfurt am Main 1986.
Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Frankfurt am Main 1986.
Der.: Kleinere Schriften. Frankfurt am Main 2006.
Quelle zum Artikelbild
Photo der Erstausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung, Foto H.- P. Haack Wikimedia (Link)
Fußnoten
15: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 397 (Kap. 24).
16: Nachgelassene Fragmente 1885, Nr. 39[15].
17: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 744 (Kap. 46)
18: Der Antichrist, 7.
19: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 504. (§ 68).
20: Nachgelassene Fragmente 1882, Nr. 5[1], 1.
21: Nr. 38[12].
22: Vgl. Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis.
23: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 14[152] (Herv. d. Verf.).
24: S. 415 (§57).
25: Vgl. Malter, Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens.
26: Es handelt sich hierbei um einen altgriechischen Begriff (sōtḗr bedeutet „Retter“), der im christlichen Kontext die Erlösungslehre bezeichnet.
27: Nachgelassene Fragmente 1883, Nr. 16[79] (Fettsetzung im Orig.).
28: Nachgelassene Fragmente 1884, Nr. 14[24].
29: Die fröhliche Wissenschaft, 357.
30: Ecce homo, Unzeitgemäße, 2.
31: Schopenhauer, Kleinere Schriften, S. 583.
32: Nr. 10[5].
33: Warum ich so weise bin, 4.
34: Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß 4, I, S. 96 (§36).
35: Jenseits von Gut und Böse, 56.
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches. Teil I: Vom Jünger zum Kritiker
Der Abdruck des Erziehers
Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I


Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.
Teil I: Vom Jünger zum Kritiker
Nietzsche hat den Ruf eines Freigeistes. Das Bild, das die Nachwelt von ihm gezeichnet hat, ähnelt dem eines ungebundenen, selbstdenkenden und über die Wirklichkeit autonom urteilenden Philosophen. Das Bild kann jedoch täuschen, denn ganz frei von überlieferten Weltansichten und Wertvorstellungen war Nietzsche keineswegs. Sein freier Geist musste erst einmal zur Freiheit erzogen werden. Seine philosophische Erziehung verdankt Nietzsche vor allem einer Person: dem pessimistischen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860). Dem Autor der Welt als Wille und Vorstellung (1818) widmet Nietzsche seine dritte Unzeitgemäße Betrachtung, die er unter dem Titel Schopenhauer als Erzieher (1874) veröffentlicht. Nietzsches Dialog mit seinem Erzieher beschränkt sich allerdings nicht nur auf diese Unzeitgemäße Betrachtung: Er zieht sich durch beinahe alle seine veröffentlichten Werke und kann zudem in zahlreichen Briefen und nachgelassenen Fragmenten nachvollzogen werden. Inwieweit wurde Nietzsches Philosophie durch Schopenhauer bestimmt und worin bestehen die zentralen Divergenzpunkte dieser beiden Denker?
I. Nietzsches erste Bekanntschaft mit Schopenhauer oder das Leipziger Schopenhauer-Erlebnis
Manche Bücher liest man aus purem Zufall. Zieht uns ein Buch dabei in seinen Bann, erhält das unvermutete Leseerlebnis zeitgleich einen mystischen Schein. Es kommt einem vor, als ob die Lektüre dieses einen Buchs in Wahrheit nicht vom Zufall, sondern vom Schicksal bestimmt sei. Eine ähnlich magische Wirkung hatte die erste, eher zufällige Schopenhauer-Lektüre auf den jungen Nietzsche. Als dieser zwischen Oktober 1865 und August 1867 – das genaue Datum ist nicht bekannt – in einem Leipziger Antiquariat stand und Schopenhauers Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) in seinen Händen hielt, flüsterte ihm, nach eigener Aussage, eine „dämonische“ Stimme zu: „Nimm dir dies Buch mit nach Hause“1. Zu Hause angekommen, ließ Nietzsche sich von diesem Monumentalwerk in den Bann ziehen: „So zwang ich mich vierzehn Tage hintereinander immer erst um zwei Uhr nachts zu Bett zu gehen und es genau um sechs Uhr wieder zu verlassen. Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner“ (ebd.).
Das Leipziger Leseerlebnis machte Nietzsche unverzüglich zum Schopenhauerianer. Der junge Student der klassischen Philologie fand sich in diesem Lebensabschnitt, d. h. mit Mitte 20, in den Texten Schopenhauers wieder. „[H]ier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt[,] Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte“ (ebd.), schreibt er in dem Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867/68). Nietzsche wird sich von der Schopenhauerschen Philosophie, vor allem von ihrem Kernstück, der Willensmetaphysik, in seiner ersten Schaffensperiode, bis Mitte der 1870er Jahre, welt- und lebensanschaulich führen lassen. „[S]eitdem Schopenhauer uns die Binde des Optimismus vom Auge genommen“, schreibt Nietzsche 1866 in einem Brief an seinen Freund Hermann Mushacke, „sieht man schärfer. Das Leben ist interessanter, wenn auch häßlicher“2.
II. Die Geburt der Geburt aus dem Geiste der Schopenhauerschen Metaphysik
Die Autorität Schopenhauers wird Nietzsche in seinen jungen Jahren nicht nur als Menschen, sondern auch als Philosophen bestimmen. Sein philosophisches Erstlingswerk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), ist sowohl terminologisch als auch ideologisch durch Schopenhauers Philosophie tief geprägt. Die Geburt, die in ihrer zweiten Auflage von 1886 den Untertitel: Griechenthum und Pessimismus erhielt, kann als der Versuch Nietzsches verstanden werden, zum einen seine Gräkophilie, zum anderen seine Begeisterung für die Willens- und Musikmetaphysik Schopenhauers und ihrer kompositorischen Umsetzung durch Wagner dialektisch zu vereinen und gegeneinander auszuspielen. Den „ungeheure[n] Gegensatz“3 des Apollinischen mit dem Dionysischen, den Nietzsche zum zentralen Thema dieser Schrift macht, findet er im Schopenhauerschen Hauptwerk in der Opposition von Wille und Vorstellung vorgebildet. Die Musik wird Nietzsche „nach der Lehre Schopenhauer’s“, wie er selbst in der Geburt schreibt, insofern als die „Sprache des Willens“4 verstehen.
Nietzsches Begeisterung für seine Metaphysik und Ästhetik schlug jedoch zu keiner Zeit, wie der US-amerikanische Philosoph Paul Swift in Becoming Nietzsche (2005) – einer zwar älteren, aber immer noch sehr lesenswerten und kompakten Studie zu den frühen Inspirationsquellen Nietzsches5 – richtig anmerkt, in eine Apologetik der Schopenhauerschen Philosophie um. Nietzsche bedauert später selbst, dass er in seiner ersten philosophischen Schrift „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen gingen!“6. Die Tatsache, dass er den ästhetischen und erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt zu dieser Zeit nur mittels der durch Kant und Schopenhauer vererbten Begriffe zu denken vermochte, hinderte ihn daran, die Neuartigkeit seiner eigenen Betrachtungen zu erkennen. Um sein Denken frei entfalten und zu einer neuen Größe zu verhelfen, musste sich Nietzsche zunächst einmal kritisch mit diesem Grundgerüst auseinandersetzen.
III. Vom Erzieher zum philosophischen Gegner
Mit Schopenhauer als Erzieher veröffentlicht Nietzsche 1874 den dritten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. Es handelt sich dabei um die einzige Schrift, die er seinem „erste[n] philosophische[n] Lehrer“7 direkt widmet. Schopenhauer wird in diesem Text, wie in beinah allen seinen Schriften bis dahin, noch überwiegend in das positive Licht eines „Vorbilds“ gestellt. Es ist allerdings das letzte Mal, dass Nietzsche einen rundum schonenden Umgang mit seinem „Erzieher“ haben wird. In Schopenhauer als Erzieher gibt sich Nietzsche noch als ein treuer Leser seines Meisters: „Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche[,] nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat“8. Diese besondere Faszination für die Schopenhauer wird er in dieser Schrift durch ihren „aus drei Elementen gemischten“ Eindruck: „seine[] Ehrlichkeit, seine[] Heiterkeit und seine[] Beständigkeit“ (ebd.) erklären.
In Schopenhauer als Erzieher macht sich somit eine Wende in der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung bemerkbar. Das Interesse, das bis dahin eher seiner Philosophie galt, gilt jetzt mehr Schopenhauer als Philosophen und Menschen. Am 19. Dezember 1876 behauptet Nietzsche in einem Brief an Cosima Wagner, er „stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner [Schopenhauers; TB] Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen“9. Nietzsche ist zu dieser Zeit besonders von Schopenhauers außerakademischen Karriere und seiner Verachtung der unfreien und unauthentischen Universitätsphilosophie angetan. Er sieht die Rolle des neuen, durch Schopenhauer gegen seine Zeit erzogenen Philosophen darin, „der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“10 zu werden. Um dieser Devise in aller Konsequenz folgen zu können, ist Nietzsche nun bestrebt, seine eigene Integrität als Philosoph unter Beweis zu stellen. Das bedeutet allerdings auch, dass er, als unbeugsamer Richter der ambienten Kultur, Schopenhauers „gefährlichen“ Einfluss auf sie anprangern werden muss.
IV. Nietzsche contra Schopenhauer
Dass Nietzsche nicht nur die Fähigkeit hat, sich mit Hingabe für einzelne Ideen und Denker zu begeistern, sondern auch dazu in der Lage ist, ehemals hochgeachtete Autoren und Gedanken nachher intensiv zu kritisieren, lässt sich spätestens aus seinen polemischen Schriften11 gegen seinen zweiten Erzieher12, dem Schopenhauerianer Richard Wagner, ableiten. Seine beiden Meister betreffend hofft Nietzsche, wie man in seinen nachgelassenen Fragmenten von 1884 lesen kann, dass die kommenden, ihrer Zeit und Kultur überlegenen Menschen, „endlich so viel Selbstüberwindung haben [werden], um den schlechten Geschmack für Attitüden und die sentimentale Dunkelheit von sich abzuthun, und gegen Richard Wagner ebenso sehr als gegen Schopenhauer <sich wenden>“13.
Der Haltungswandel Nietzsches zu seinen Erziehern mag auf den ersten Blick überraschen: Lehnt er nun vollständig die Wurzeln seines eigenen Denkens ab? So radikal verfährt Nietzsche nun doch nicht. Schopenhauer und Wagner werden nicht einfach aus seinem Geist gestrichen: Statt mit ihnen zu denken, denkt Nietzsche nun gegen sie. Seine beiden Erzieher wird er sozusagen zu den idealen Widersachern – er nennt sie 1888 in einem Brief an den dänischen Essayisten Georg Brandes (1842–1927) seine „antagonistischen Meister“14 – seines eigenen kultur- und lebensphilosophischen Denkens ernennen. Schopenhauer wird darüber hinaus eine wichtige Rolle bei den terminologischen Überlegungen Nietzsches spielen, insofern die Grundbegriffe der Philosophie seines Erziehers den Ausgangspunkt der Festlegung der zentralen Termini seines eigenen Denkens ausmachen werden.
Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.
Quellen
Nietzsche, Friedrich: Rückblick auf meine Leipziger Jahre. In: Werke in drei Bänden. Autobiographisches aus den Jahren 1856–1869. München 1954. Link.
Swift, Paul A.: Becoming Nietzsche. Early Reflections on Democritus, Schopenhauer and Kant. Lanham 2005.
Quelle zum Artikelbild
Photographie Schopenhauers vom 3. 9. 1852, Link
Fußnoten
1: Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre.
2: Brief v. 11.07.1866; Nr. 511.
3: Die Geburt der Tragödie, 1.
4: Die Geburt der Tragödie, 16.
5: Vgl. insb. das zweite Kapitel derselben, „Nietzsche on Schopenhauer in 1867“.
6: Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 6.
7: Schopenhauer als Erzieher, 4.
8: Schopenhauer als Erzieher, 2.
9: Bf. Nr. 581 (Herv. d. Verf.).
10: Schopenhauer als Erzieher, 8.
11: Der Fall Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1889)
12: In einem Brief vom 13. Dezember 1875 an seinen lebenslangen Freund Carl von Gersdorff stellt Nietzsche Schopenhauer und Wagner zusammen als seine Erzieher dar (vgl. Bf. Nr. 495).
13: Fragment Nr. 26[462].
14: Bf. v. 19.02.1888; Nr. 997.
Die alte Wut
Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments
Die alte Wut
Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments


„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.
Gibt es Politik, Weltverständnisse, soziale Bewegungen, die frei von Ressentiment sind? Praktisch alle werden das von sich selbst behaupten. Gegenüber ihren Konkurrenten führen alle selbstverständlich gute Gründe für ihre Gegnerschaft an, so dass diese nicht auf einer affektiven Ablehnung beruhe.
Der Philosoph Jürgen Große bestreitet diesen Anspruch und führt in seinem neuen Buch vor, dass alle politisch-sozialen Strömungen seit der Aufklärung auf Ressentiments beruhen. Auch wenn er den zeitgenössischen politischen Szientismus nicht explizit erwähnt, aber en passant das ökologische Weltbild: Auch diese bedienen sich einer affektiv ausgrenzenden Terminologie, wenn sie ihre Gegner als Leugner ihrer wissenschaftlichen oder ökologischen Wahrheiten titulieren.
Gibt es gar keine Ausnahme? Doch, nämlich die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre. Aber die Hippies stiegen doch aus dem bürgerlichen Leben aus? Entwickelten sie diesem gegenüber kein Ressentiment? Das bescheinigt Große zwar der Alternativbewegung der achtziger Jahre, nicht aber den Hippies. Diese stiegen zwar aus der Leistungsgesellschaft aus, aber lässig, nicht aggressiv wie die Bohème des späten 19. Jahrhunderts oder gar politische Protest-Bewegungen.
Einerseits entwickelten die Hippies eigene Werte, andererseits eine eigene Lebenspraxis mit eigenen Bedeutungszusammenhängen. Große schreibt:
Auch hier wieder begreift die Szene ihr Verweigern als lediglich abgenötigte Position, nicht als ursprüngliche Negation: Ursprünglich sei nämlich der Reichtum bedeutungsfreien Ausdrucks, wie ihn etwa Bob Dylan, oder bedeutungsverdrehenden Ausdrucks, wie ihn etwa Jefferson Airplane kultivierten, repressiv-abgeleitet hingegen die Konstruktion rigide bedeutungsverweigernder Formwelten. (S. 289)
Die Hippies leben auch nicht in einer primären Gegnerschaft zum Kapitalismus, verkörpern sie doch einen Hedonismus, der zwar nicht produzieren will, aber doch konsumieren. Ähnliches attestiert Große auch noch der Jugendszene in der DDR, die ohne emanzipatorische Ansprüche auskam und gegenüber der Politik schlicht abgetaucht war.
Was aber die Gegenkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt betrifft, so sieht Große wesentliche Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der westeuropäischen Gegenkultur. Die amerikanische besinnt sich auf eine Natur, bei der man sich auch auf die Ureinwohner bezieht, die europäische ist primär nihilistisch, was Große mit dem Ressentiment und somit mit Zynismus und Neid verknüpft.
So steht denn im Zentrum von Großes Buch Nietzsche, über den er bemerkt: „Bis zu Nietzsche war in der europäischen Literatur das Ressentiment psychologisch und moralisch neutral oder kritisch beschrieben worden, nach Nietzsche galt es als verächtlich oder gar als therapiebedürftig.“ (S. 74) Die französischen Aufklärer etwa hatten gegenüber dem Ressentiment eine neutrale Einstellung, werteten es nicht grundsätzlich negativ.
In Nietzsches Zur Genealogie der Moral avanciert das Ressentiment zum strukturell negativen Hass der jüdischen Priester auf die herrschenden Schichten, als affektive Ablehnung der Starken, Reichen und Schönen, die in der „Herrenmoral“ das Gute verkörpern, während die Armen, Schwachen und Hässlichen in derselben das Schlechte darstellen. Die Christen, so Nietzsche, transformieren dieses negative Gefühl in eine positive Umwertung der Werte, so dass nun die Schwachen zu den Guten avancieren, während die Starken als „Böse“ abgewertet werden. Für Nietzsche ist damit nach Große das Ressentiment schöpferisch geworden, wie schon zuvor für Charles Baudelaire.
Großes Buch lässt sich denn auch in zwei verschiedenen Perspektiven lesen. Es enthält eine Geschichte des Ressentiment-Begriffs, die mit Montaigne einsetzt, ihre Dynamik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhält, als Literatur und Kunst gesellschaftskritisch werden, d. h. der absolutistischen Gesellschaft ablehnend begegnen, ähnlich wie sie im 19. Jahrhundert das Bürgertum scharf kritisieren, was sich im 20. Jahrhundert praktisch in allen politisch sozialen Strömungen fortschreibt, die sich jeweils aus unterschiedlichen Formen der Ablehnung speisen. Nietzsche spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Die zweite Lesart von Großes Buch erklärt das Ressentiment zum Grundmotiv von politischen und sozialen Strömungen seit dem 18. Jahrhundert. An die Stelle von sozialen Gegensätzen bei Marx, die ökonomische Grundlagen haben und insofern durchaus rationalen Charakter, treten affektiv beschleunigte Abneigungen, emotional ausgelöster Hass auf Menschen und Ideologien, auf das Andere schlechthin, die mit der Hybris einhergehen, selber das Richtige zu leben und zu glauben. Dergleichen scheint für alle relevanten politischen und sozialen Strömungen zu gelten – die Hippies und die Jugendbewegung in der DDR sind nicht relevant. Das avanciert fast zu einem geschichtsphilosophischen Grundmotiv: Geschichte wird vom Ressentiment getrieben, allerdings nicht von Anbeginn – wer würde denn auch solchen Unsinn zu behaupten wagen, er kenne das Grundprinzip aller Geschichte!
Anders als Nietzsche, der es als Motiv des entstehenden Christentums beschreibt, hängt es für Große vielmehr mit dem seit der Aufklärung sich verbreitenden Anspruch des Egalitarismus zusammen. Die Adligen hatten es nicht nötig, gegenüber ihren Untertanen ein Ressentiment zu entwickeln und für letztere gab dazu umgekehrt auch keine Gründe. Erst mit dem Anspruch auf Gleichheit entsteht der Hass auf andere, die nicht gleich genug erscheinen, es aber doch sein sollten. Dass Großes Buch diese Lesart nahelegt, liegt vor allem daran, dass es sehr viele politischen und sozialen Strömungen in der westlichen Welt abhandelt und deren Ressentiment-Struktur aufzeigt.
Max Scheler, der Nietzsches Ressentiment-Begriff kritisiert, attestiert das Ressentiment der bürgerlichen Moral und spricht das Christentum davon frei. Die aufklärerische Moral beruht für Scheler auf einem Ressentiment gegenüber der christlichen Ordnung der Liebe, die selbst frei von allem Ressentiment oder gar einem „Willen zur Macht“ ist.
Daran schließt Ludwig Klages mit einem biozentrischen Denken an. Die Seele ist vital, vom Ich zu unterscheiden. Damit deutet Klages Nietzsche um und weitet den Ressentiment-Begriff aus. Große schreibt: „Durch seinen Hass auf den Lebenszersetzer Geist konnte Klages zum Weggefährten konservativer Revolutionäre wie auch zum Vorläufer ökologischer Weltrettungsutopien werden.“ (S. 72)
E. M. Cioran treibt das auf die Spitze. Für ihn sind Affekte nur durch Affekte zu bekämpfen, kann man sich vom Bösen nur durch das Böse befreien, muss das Ressentiment ausgeschöpft werden. Für Cioran bedarf das Denken der Heimtücke. Große kommentiert Cioran: „Neid, Hass, Wut sind keine geistfernen, Kunst, Philosophie, Wissenschaft keine affektfreien Reinzustände.“ (S. 81)
Während die bürgerlichen Revolutionäre ihren Hass auf den Absolutismus und das Christentum ausleben, reagiert die Reaktion bei Joseph de Maistre oder Juan Donoso Cortés mit Rachephantasien, die theologisch eingebettet werden:
Der Liberale begreift weder die Gottgegebenheit oder Selbstevidenz der Ordnung noch den Primat der voluntas vor dem intellectus. Die eigene Impulsivität gegenüber der liberalen Blässe zu loben und zu pflegen wird fortan eine Elementarübung aller reaktionären Theoretiker und Literaten. (S. 155)
Vor allem der Katholik Léon Bloy ragt dabei heraus, der sich zum ‚Antischwein‘ erklärt und damit alle Gegner zu Schweinen:
Angesichts der personellen und materiellen Übermacht des bürgerlichen Prinzips, das nicht etwa Terror (wie für die ältere Reaktion), sondern Indifferenz ist, wird Fanatismus zur geistig-moralischen Pflicht. Wenn Bloy die Schönheit beschreibt, die für ihn Blutbäder unter Bürgern, Engländern, Emanzipierten, Ungläubigen aller Art haben, dann erinnert das an die literarische Exzentrik de Maistres. (S. 159)
Aber ähnliche Ressentiments entdeckt Große auch bei Anarchisten, Linken und im Feminismus, den er primär als bürgerliche Bewegung qualifiziert, wie auch bei seinen männlichen Fürsprechern. „Frauenversteher werden nach 1800 Legion“ (S. 183), schreibt Große. Weder in der feudal-aristokratischen Gesellschaft noch in proletarischen Bewegungen hat es Feminismus nach Große gegeben: „[A]llein das Bürgerweib ist ressentimenthistorisch auffällig geworden.“ (181)
Männer werden abgewertet und Frauen verherrlicht. Weibliche Verdorbenheit verdankt sich für den Feminismus den Männern. Das Rachemotiv zielt dabei auf eine Umwertung der Werte, die sich wie bei Nietzsche der eigenen Schwäche verdankt und dem Neid auf die Stärke der Männerwelt. Große schreibt:
Die ressentimenttypische, aber auch bürgerlicher Emanzipationslogik zugrundliegende Ressentimentstruktur – privates Leid als Symptom eines Weltzustandes – zeigt bereits die frühe Frauenbewegung; „offener Männerhass“ und Ideen weiblicher „Weltrettung“ durch bislang ausschließlich weibliche Kleinwelttugenden wie „Wärme und Hingabe“ sind bereits kurz nach 1800 nachweisbar. (S. 185)
Das Ressentiment beschränkt sich also keineswegs auf rechte oder konservative Strömungen wie die Yuppies der achtziger Jahre oder dem aktuellen Rechtspopulismus, die den Linken eine Neid-Haltung unterstellen und Benachteiligung als selbstverschuldet erklären: Von diesen formulierte Ansprüche seien von Unruhestiftern evoziert. Minderheiten und Benachteiligte können sich nicht selbstredend als Opfer präsentieren und ihre Lebensform als ethische ausgeben. So bemerkt Große:
In der fortgeschrittenen Moderne ist der Bezug zum christlich-„ritterlichen“ Motiv des Racheverzichts geschwächt. Ressentimentgefühl und Ressentimentbegriff werden zusehends mit Fragen sozialer Gerechtigkeit konnotiert, insbesondere mit frustriertem Gleichheitsverlangen. (S. 327)
Ähnliches schreibt Große auch den diversen antibürgerlichen künstlerischen Strömungen zu vom Sturm-und-Drang über die Bohème und den Surrealismus bis heute. Das gilt noch für die neuen Halb-Eliten aus linken, grünen oder digitalen Lagern, über die Große bemerkt: „Politik-, Medien- und Kultur-Bobos [bourgeois-bohémien; SM] agieren als Primärverletzte wie auch als Stellvertreter aus historisch-tradiertem, gegenwärtig andauerndem Unrecht.“ (S. 311)
So scheint das Ressentiment für Große seit ca. drei Jahrhunderten Politik und Gesellschaft an- und umzutreiben und damit die Geschichte zu bestimmen. Freilich erreicht es dabei kaum die schöpferische Qualität der Umwertung der Werte. Aber darüber darf man streiten. Denn gerade ökologisch ethische Werte haben sich heute in modernen Gesellschaften breitgemacht. Und vielleicht auch der Hedonismus der Hippies mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll – letzteres umschreibt Große mit „Lärm“ (292), ein Anschluss an Adornos Abneigung gegenüber der Popkultur. Aber wie man in die Welt hineinruft, so hallt es zurück.
Bildnachweis Artikelbild
Edmund Adler: Der Blumenkranz (1950) (Link)
Splendid Isolation, Stiff Upper Lip
Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums
Splendid Isolation, Stiff Upper Lip
Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums

„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.
I. Nietzsche, Lagarde, Langbehn
Wer gehört eigentlich zur seriösen akademischen Welt? Und wer bestimmt darüber? Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlich-akademischen Exklusivität ist ein dauerhaftes Problem, denn die Art der Auseinandersetzung mit dem „Außen“ prägt den akademischen Betrieb zugleich im Inneren. Friedrich Nietzsche wusste davon ein Lied zu singen, aber auch andere Intellektuelle seiner Zeit lebten und litten in „glänzender Isolation“, weil sie vom akademischen Betrieb als fachfremde Seiteneinsteiger, unprofessionelle Amateure, Dilettanten oder Hochstapler ausgegrenzt wurden.
Trost und Hoffnung der Isolierten war und ist die Tatsache, dass es ihresgleichen von Fall zu Fall gelingt, große publizistische Erfolge zu erringen und starke Beachtung der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen – was ihnen wiederum Neid und noch tiefere Abneigung des akademischen Betriebs einbringt. Beispielhaft verdeutlicht wird dies bei Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Oswald Spengler. Im Zeitraum 1880 bis 1930 bestimmten diese Kulturkritiker und Bestsellerautoren den geisteswissenschaftlichen Diskurs in Deutschland maßgeblich mit, obwohl sie allesamt akademische Außenseiter und sozial isolierte Exzentriker waren. Langbehn und Spengler bezogen sich stark auf Nietzsche, der als Wissenschaftskritiker und ebenfalls als akademischer Außenseiter seiner Zeit galt, und der wiederum vom Eigenbrötler Lagarde beeindruckt war.
Auch Nietzsche passte perfekt in das Schema des ungeselligen, charakterlich „schwierigen“ Privatgelehrten, der weder starke familiäre noch gesellschaftliche Bindungen hatte und vom akademischen Betrieb weitgehend gemieden wurde. Während Nietzsche erst posthum berühmt wurde, konnten die intellektuellen Außenseiter Langbehn und Spengler bereits zu Lebzeiten zu gleichwohl umstrittenen wie auch vielbeachteten Stars des Kulturlebens aufsteigen. Dabei surften sie auf den Wellen der Nietzsche-Rezeption. Während Langbehn vergeblich die Vormundschaft über den kranken Nietzsche zu erlangen versuchte, wurde Spengler in der Weimarer Republik zu einem wichtigen Exponenten der etablierten Nietzsche-Community1. In zwei biographischen Skizzen wird nun zunächst Lagarde als Prototyp des Wissenschaftsaußenseiters geschildert, bevor Langbehn als Nietzsche-Epigone in den Blick kommt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Nietzsches Lebenswandel werden auf diese Weise deutlich.

Paul de Lagarde alias Anton Böttcher (1827-1891) war einer der bekanntesten Kulturkritiker im deutschen Kaiserreich gewesen. Sein Hauptwerk, die 1878 erstmals erschienenen Deutschen Schriften, verband moralische Kritik am Bildungswesen, an der Kultur und den Sitten mit einem extremen Nationalismus. Wurzeln seines Denkens waren Protestantismus und preußisches Ethos, Grundton seiner Schriften ein tiefer Kulturpessimismus, vorgetragen in einer „Art weinerlichen Heroismus.“2 Unter Wissenschaftlern war er wegen seines antiquierten Weltbilds und mangelnden Methodenbewusstseins umstritten. Fünfzehn Jahre musste er auf einen Lehrstuhl warten und unterrichtete zwischenzeitlich an Schulen, bis er 1869 eine Berufung an die Universität Göttingen erhielt. Seine Streitsucht galt als notorisch. Er stand u. a. im Briefwechsel mit Richard Wagner. Nietzsche war von Lagardes Schriften beeindruckt, las ihn aber auch kritisch, während Lagarde keinerlei Interesse an Nietzsche zeigte.3 In seinem letzten Lebensjahrzehnt näherte sich Lagarde der antisemitischen Bewegung um Nietzsches Schwager Bernhard Förster an. In der Nachkriegssituation ab 1919 setzte eine zweite Rezeptionswelle ein. Nun konnte Lagarde all jenen als bequemer Nietzsche-Ersatz dienen, denen Nietzsches Äußerungen zum Deutschen Reich und zum Judentum zu komplex und unpatriotisch erschienen.4 Mit Nietzsche verband ihn sein hoher Anspruch an sich selbst und sein enormes Arbeitspensum:
Freilich fehlte Lagarde die geistige Experimentierfreude des Philosophen, und seine hervorstechenden Charakterzüge wie Neid, Geiz und Verbitterung lassen die innere Verhärtung spüren. Den Groll gegen einzelne Kollegen trug er oft jahrelang mit sich, ehe er öffentlich explodierte, und längst vergangene Kränkungen durchlebte er innerlich immer wieder neu. […] Im Kampf gegen die eigene innere Leere, die sich in massiver Erschöpfung und Lebensüberdruss äußerte, sprach er sich mit lauter Stimme selbst Mut zu[.] […] Lagardes Schicksal zeigt, wie eng psychische Versehrtheit, gezielte Selbststilisierung und charismatische Wirkung zusammenhängen können.5

Julius Langbehn (1851-1907) hatte in Kiel und München diverse Fächer studiert, bevor er mit 29 Jahren promoviert wurde – damals ein fast „biblisches“ Promotionsalter. Anschließend führte er etwa ein Jahrzehnt lang ein unstetes Leben mit wechselnden Arbeitsstellen und Wohnsitzen. Im akademischen Betrieb konnte er nicht Fuß fassen. 1891 schickte er demonstrativ seine Promotionsurkunde in Fetzen zerrissen an die Alma Mater, die Universität München, zurück. Sein anonym verfasstes Essay Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen war sein einziger, wenn auch durchschlagender literarischer Erfolg. Das Buch verbreitete pangermanisches Sendungsbewusstsein und verband irrationalen Wissenschaftshass mit globalem kulturmissionarischem Eifer. Den Titel hatte er bewusst als Anspielung auf Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher, gewählt. Langbehn übernahm Gedanken des jungen Nietzsche und integrierte sie in ein deutschnationales Weltbild. Spätere Werke Nietzsches lehnte er als „Verirrungen“ ab. Bald nach Erscheinen wurden Lagarde, Georg E. Hinzpeter, der Hauslehrer Wilhelms II., und gar Nietzsche selbst als Autoren des Rembrandt-Buches vermutet, dessen aphoristischer, gekünstelter Stil wie „ein ungeschickter Versuch, Nietzsches späte Prosa nachzuahmen“6 wirkte. Langbehn outete sich schon im Januar 1890 gegenüber dem von ihm verehrten Lagarde als Autor,7 bevor die wahre Verfasserschaft Langbehns allgemein bekannt wurde, und er erhielt den Beinamen „der Rembrandtdeutsche“. Der Erfolg des Buches war ein Ausdruck der damaligen mystischen Erwartungshaltung, die nach Propheten aller Art, vor allem aus dem Reich der Kunst, verlangte. Die stilistischen und gedanklichen Mängel im Text wirkten unter diesen Umständen vorteilhaft: Chaos und Absurdität konnten Tiefsinn und Hintergründigkeit vortäuschen, ständige Wiederholungen hatten einen hypnotischen Effekt, abweichender Satzbau und Interpunktion suggerierten einen individuellen „kreativen“ Ausdruck, mangelnde Argumente und Fußnoten entsprachen der schreibenden „Genialität“, die Nennung anerkannter Künstler und historischer Personen simulierte Belesenheit und verlieh Autorität. Viele bekannte Rezensenten schrieben ausführliche und positive Besprechungen. Häufig wurde Langbehn als Erbe des verstummten Nietzsche gesehen. Langbehn unternahm im Winter 1889/90 sogar einen Versuch, diesen zu heilen. Nachdem er das Vertrauen seiner Mutter erworben hatte, begleitete er Nietzsche wochenlang auf Spaziergängen, redete auf ihn ein, verleumdete seine Ärzte und Freunde und forderte schließlich gar die Vormundschaft über den Kranken.8 Fatal war, dass die Verbreitung von Langbehns Ideen mit der ersten nennenswerten Welle der Nietzsche-Rezeption zusammenfiel, so konnten beide als Propheten einer individualistischen Kunstreligion erscheinen und Langbehn sogar als Erbe des Philosophen und Wegweiser durch dessen Ideen betrachtet werden. Langbehn habe Nietzsche „weit mehr als es bis dahin der Fall war, unter das Volk gebracht“9, resümierte Erich F. Podach bereits 1932.

II. Mechanik der Ablehnung: Der akademische Betrieb im Konflikt mit Außenseitern
Anhand einiger formaler Kriterien lässt sich leicht feststellen, ob jemand zum etablierten Wissenschaftsbetrieb gehört: akademischer Grad und Affiliation, Publikationen in etablierten Zeitschriften und bei seriösen Verlagen, Präsenz bei wissenschaftlichen Tagungen, in Jurys, als Gutachter und in Berufungskommissionen.
Das bedeutet nicht, dass der Nichtintegrierte keine Ideen von außen in den Betrieb einbringen darf, aber er wird es viel schwerer haben, Gehör zu finden als jemand, der sich schon innen befindet. In früheren Zeiten, als die Zersplitterung der Disziplinen noch nicht so weit fortgeschritten war und viele als Privatleute Wissenschaft betrieben haben, war das noch einfacher.10
Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlichen Exklusivität ist ein permanenter Prozess im akademischen Betrieb. Die Umgangsweise mit Außenseitern, Minderheitsmeinungen und Laien bestimmt sein Binnenklima und seine Innovationsfähigkeit. Bei der Begutachtung von Außenseiterpositionen leiden die Insider unter einem grundsätzlichen Problem: bei vielen Forschern ist – im positiven Sinne – eine manische Fixiertheit anzutreffen, ein unbedingter Wille, ein Problem zu lösen oder eine Erklärung zu finden, oder ein stark fokussierter Flow, der sich bei Experimenten und Berechnungen einstellt. Die psychische Energie, die in die Forschung fließt, kann zugleich einen Tunnelblick und die Vernachlässigung sozialer Kontakte und Konventionen mit sich bringen. Dieser manchmal manische oder nerdige Habitus verbindet den seriösen Forscher mit einem psychisch beeinträchtigen Außenseiter: „Die gleiche unablässige geistige Arbeit lässt sich jedoch bei jedem beliebigen Paranoiker beobachten und es ist häufig schwierig, einen genialen Kreativen von einem Wirrkopf zu unterscheiden.“11 Zudem erfordert die Arbeitsweise des Wissenschaftlers eine ständige Verfeinerung und Vervollkommnung einmal aufgestellter Theorien, was zu einer Fixiertheit auf bestimmte Methoden und Ergebnisse führen kann, welche bisweilen im Alter in einen fortschrittshemmenden Starrsinn mündet:
Gewöhnlich versuchen anerkannte und mächtige Wissenschaftler, die gerade veraltende Vorstellungen vertreten, auf jede Weise andere Wissenschaftler zu bremsen und ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wenn diese einen neuen Weg beschritten haben.12
Leider gibt es für dieses Problem fast nur eine biologische Lösung, wie Nobelpreisträger Max Planck einmal konstatierte:
Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß ihre Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.13
Die Ablehnung von Wissenschaftsaußenseitern durch etablierte Forscher und Funktionäre basiert also oft auf einem „Fehlurteil des Kompetenten“, der nicht in der Lage ist, von seinen erworbenen Überzeugungen zu abstrahieren und der somit stur auf der Schulmeinung beharrt. Fachliche Autoritäten neigen dazu, Positionen, die ihren Theorien widersprechen, als irrelevant oder gar als unwissenschaftlich abzutun. Sie suchen in diesem Sinne nach Fehlern und Anzeichen von Unseriosität und werden vor allem bei formalen oder sprachlichen Details fündig, während sie die Argumente und theoretischen Inhalte des Gegners missachten:
Die Bedeutung solcher kleinen Unzulänglichkeiten rückt um so mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn eine Idee von Jemanden kommt, der nur geringes Ansehen geniesst, kaum Qualifikationsbeweise besitzt und vielleicht außerdem noch charakterlich auffällig, unangepasst, übermässig aggressiv und größenwahnsinnig, oder im Gegenteil allzu bescheiden und zurückhaltend ist. Der Wissenschaftler lässt sich folglich von seiner eigenen Kompetenz und Antipathie in die Irre führen und fällt schließlich ein negatives Urteil.14
Weil ein „Crank“ (=Wirrkopf, Querdenker) oder vornehmer „Maverick“ (=Außenseiter, aber auch „herrenlos“, also frei)
nicht zum Wissenschaftlerkorps gehört, sind Veröffentlichungen schwierig, die notwendig dilettantische Präsentation und der aggressive Ton rechtfertigen eine oberflächliche Analyse seiner Ideen und machen ihre Ablehnung wahrscheinlicher. Was folgt, ist eine Reihe von Diskriminierungen, die den Angegriffenen noch aggressiver machen, und die Wahrscheinlichkeit, als Verrückter abgelehnt und an den Rand gedrängt zu werden, steigt erheblich.15
III. Typologie des wissenschaftlichen Außenseiters
Endohäretiker kritisieren den Wissenschaftsbetrieb von innen, weil sie einen, wenn auch umstrittenen, Status innerhalb desselben besitzen, während Esohäretiker von außen an den Wissenschaftsbetrieb herantreten und von diesem in der Regel vollständig abgelehnt werden. In manchen Fällen verwandelten sich Endohäretiker, die den Wissenschaftsbetrieb durch Pensionierung, Ausschluss oder freiwilligen Austritt verließen, in Esohäretiker. Auch Nietzsche fällt in letztere Kategorie.
Wenn Häretiker auf eigene Faust und ohne Unterstützung der akademischen Bürokratie ihre Forschung fortsetzen wollen, ist dies nur möglich, wenn privates Vermögen oder außeruniversitäre Sponsoren zur Verfügung stehen. Nietzsche zehrte von der ihm zuerkannten Pension der Universität Basel, Lagarde versetzte das Erbe der Adoptivmutter in die Lage, parallel zu seiner Lehrtätigkeit an Schulen sechzehn wissenschaftliche Schriften und Bücher zu publizieren.16 Eine kleine Erbschaft nach dem Tod seiner Mutter hatte Spengler die Möglichkeit eröffnet, seine Unterrichtstätigkeit aufzugeben und als freier Schriftsteller seinen literarischen Ambitionen nachzugehen.17 Langbehn wiederum hatte mächtige Freunde und Förderer wie Wilhelm von Bode im Hintergrund, die ihm die Möglichkeit gaben, als Autor in Erscheinung zu treten.
Im Idealfall ist das Vermögen so groß und der gesellschaftliche Status derart etabliert, dass eine maximale Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Institutionen möglich ist. Der englische Privatgelehrte Henry Cavendish (1731-1810), einer der bedeutendsten Naturforscher und reichsten Gelehrten seiner Zeit, war der Prototyp jenes finanziell unabhängigen, exzentrischen und oftmals interdisziplinär-universalistisch agierenden „Gentleman Scholars“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er besaß eine große Bibliothek, führte zahlreiche Experimente durch, mied aber den Kontakt zu Institutionen und Kollegen und hatte keinerlei Interesse, seine Ergebnisse zu publizieren. Er war vollkommen auf seine Studien fixiert, lebte isoliert auf seinem Anwesen ohne jegliche gesellschaftliche Ambitionen.

Doch nicht alle vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesene ruhen derart in sich wie Cavendish. Die meisten dürsten nach wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung. Sie sind versucht, durch selbst finanzierte und herausgegebene Publikationen oder durch bezahlte Inserate sich Gehör zu verschaffen. Manche haben eigens Verlage, Zeitschriften, Editionsreihen oder gar Lexika geschaffen, um ihre Artikel und Thesen zu veröffentlichen. Mit den Self-Publishing-Plattformen, Youtube-Kanälen, Blogs und Books-on-demand-Optionen des Internetzeitalters scheinen heute die Möglichkeiten von akademischen Außenseitern, sich zu präsentieren, stark gewachsen zu sein. Allerdings ist damit keinesfalls Seriosität garantiert – im Gegenteil: im Selbstverlag Publiziertes gilt in der Wissenschaftscommunity weithin als Makel, während weiterhin etablierte Publikationsorte und Zitierkartelle existieren, die wissenschaftliche Außenseiter auf Distanz halten.
Eine durchaus nachteilhafte Wirkung auf die Innovationsfähigkeit und Vielfalt des Wissenschaftsbetriebs hat auch das heute gängige Peer-Review-Verfahren, die Prüfung von Forschungsanträgen und publizistischen Beitragseinreichungen durch anonyme akademische Kollegen, weil es sich dabei oftmals um Konkurrenten des Antragstellers handelt. Es versteht sich von selbst, dass es auf solche Weise und im Schatten der Anonymität für etablierte Wissenschaftler einfach ist, Außenseiter und Newcomer zu sabotieren und auszuschließen: „Man kann sicher sein, dass manche der bahnbrechendsten Arbeiten in der Vergangenheit nie erschienen wären, wenn man sie einer Peer Review nach heutigen Maßstäben unterzogen hätte.“18
Damals wie heute verlieren sich manche der Zurückgewiesenen in parawissenschaftlichen Communities und wissenschaftsfeindlichen Positionen. Ohne korrigierende Kontakte zu akademischen Kollegen versteigen sie sich in absurden Theorien. Andere weichen in populärwissenschaftliche Bereiche aus. Einige wenige von ihnen können mit populistischen oder sensationellen Thesen große Erfolge in den Medien und auf dem Buchmarkt feiern – und dann das dadurch erworbene symbolische Kapital einsetzen, um es im akademischen Betrieb doch noch zu einer gewissen Anerkennung zu bringen. In vielen Fällen wurden und werden die vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesenen von der Motivation angetrieben, die als Kränkung erlebte Zurückweisung zu kompensieren oder sich gar in gewisser Weise dafür zu rächen. Das erklärt die bisweilen überaus radikalen inhaltlichen Positionen und die polemische Aggressivität der Sprache, wobei dieser Verbalradikalismus als eine spezifische Form toxischer Männlichkeit gelten darf, etwa als eine Ersatzhandlung für nicht ausgelebte körperliche Aggressionen:
Spengler ist der Typus des gehemmten, vereinsamten und sozial isolierten Denkers, dem es gelingt, sich inmitten seiner Depressionen zu einem monumentalen Werk durchzuringen. Es gibt kaum einen Fall, wo das gängige psychologische Kompensationsargument plausibler wäre als hier: Der ohnmächtige, ängstliche und inhibierte Grübler erzeugt mit herrischem Sprachgestus eine Weltvision, die alles übergreift und jede persönliche Kontingenz bedeutungslos erscheinen lässt.19
Akademische Außenseiter wie Lagarde und Nietzsche-Adepten wie Langbehn und Spengler konnten vor mehr als hundert Jahren in Deutschland große Erfolge feiern – sie bestimmten den damaligen Kulturdiskurs maßgeblich mit. Doch ihre intrinsische Motivation, der Kern ihres Geschäftsmodells, basierte auf der Bewirtschaftung von Ressentiments. Als giftige Außenseiter machten sie Kulturpessimismus, Antisemitismus und Wissenschaftsfeindlichkeit populär. Eine fatale Langzeitwirkung der Schriften Langbehns und Spenglers war es zudem, dass sie Nietzsche ins rechtsextreme Diskursfeld rückten und damit seinen Missbrauch durch den Faschismus vorbereiteten.
Im Universum der akademischen Eigenbrötler und wissenschaftlichen Außenseiter strahlte auch Nietzsche als einsamer Stern. Mit der Übersiedlung nach Basel wird Nietzsche 1869 staatenlos. Ab Wintersemester 1875/76 ist er zudem arbeitslos, die Universität Basel beurlaubte ihn aus gesundheitlichen Gründen. Bereits zuvor hatte er sich durch die Publikation Die Geburt der Tragödie in der philologischen Fachwelt isoliert, wo sein Ansatz als zu künstlerisch gewertet wurde. Nach dem Ausscheiden aus dem Kreis der Wagner-Anhänger und nach dem durch gesundheitliche Gründe erzwungenen endgültigen Abschied vom akademischen Lehrbetrieb und der Pensionierung durch die Universität Basel führt Nietzsche ab 1879 ein ungebundenes Leben als akademischer Außenseiter und Freigeist. Er pendelt zwischen Italien, Frankreich, der Schweiz und Sachsen und lebt dabei recht sparsam, um mit seiner Rente publizistische Vorhaben finanzieren zu können: „Erzwungenermaßen scheint sich nun das Lebensideal zu erfüllen, das er als junger Professor in seinen Basler Vorträgen ‚Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ gepriesen hatte, ‚allein und in würdevoller Isolation leben zu können.‘“20
Er reist und publiziert viel, bleibt aber ohne große öffentliche Resonanz, nur wenige Freunde und Insider kennen seine Schriften. Gentleman scholar Nietzsche erträgt seine splendid isolation mit stiff upperlip, und tröstet sich mit der Überzeugung, erst in 100 oder 200 Jahren verstanden zu werden.21
Artikelbild: Foto einer Schweizer Berglandschaft von Christian Saehrendt
Quellen
Di Trocchio, Federico: Newtons Koffer. Geniale Außenseiter, die die Wissenschaft blamierten. Frankfurt 1998.
Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche, Bd. III. München 1979.
Felken, Detlef: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988.
Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche. München 1995.
Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig 1948.
Podach, Erich F.: Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werks. Weimar 1932.
Sieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt a. M. 1995.
Sieg, Ulrich: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007.
Sommer, Andreas Urs: Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“. Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche. In: Nietzscheforschung Bd. 4 (1998), S. 169–194.
Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern 1963.
Wuketits, Franz M.: Außenseiter in der Wissenschaft. Pioniere – Wegweiser – Reformer. Heidelberg 2015.
Fußnoten
1: Vgl. dazu ausführlich meinen Artikel über Spengler auf diesem Blog (Link).
2: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 52.
3: Vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet, S. 168 ff.
4: Vgl. Andreas Urs Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“.
5: Sieg, Deutschlands Prophet, S. 355–358.
6: Stern, Kulturpessimismus, S. 148.
7: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 299.
8: Siehe zu dieser Episode Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, S. 96-113 und Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche, S. 177-199.
9: Ebd., S. 197.
10: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 35.
11: Federico Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 22.
12: Ebd., S. 244.
13: Max Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 22.
14: Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 100.
15: Ebd., S. 23.
16: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 73.
17: Vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler, S. 25 ff.
18: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 36 f.
19: Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution, S. 106.
20: Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 48. Vgl. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 5. Vortrag.
21: Vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 57.
„Frieden um mich“
Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft
„Frieden um mich“
Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft


In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“

I. Die „goldene Loosung“
Die goldene Loosung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches Allen galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, dass es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.“ – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.1
Mit diesem Aphorismus beendet Nietzsche den zweiten Teil des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, der überschrieben ist mit Der Wanderer und sein Schatten. Im Rückblick bezeichnet Nietzsche dieses Buch als das Dokument einer großen persönlichen Krise:
Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: „Der Wanderer und sein Schatten“ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…2
Es ist unschwer zu erkennen, dass sich im zweiten Band seiner ersten großen Aphorismensammlung eine Wandlung vollzieht. Der erste Band des „Buches für freie Geister“, der 1878 erschien, steht noch ganz im Lichte einer aufgeklärten und individualistischen geistigen Libertinage. Gewidmet ist die Erstausgabe dem Aufklärer Voltaire, der hundert Jahre zuvor verstorben war. In den beiden Nachträgen zu diesem Buch – Vermischte Meinungen und Sprüche und eben Der Wanderer und sein Schatten –, die zunächst als separate Bücher 1879 und 1880 erschienen und erst 1886 zusammen mit dem ersten Band als ein Buch publiziert wurden, schlägt er in der Tat andere, ‚dunklere‘ und nachdenklichere Töne an. Die Selbstreflexivität nimmt zu, der Stil wird paradoxaler. Nietzsche wird immer mehr der zweifelnde ‚Hämmerer‘ seiner späteren Schriften.
Dieser Schlussaphorismus ist nun jedoch bemerkenswert ‚licht‘. Im ersten Abschnitt des Aphorismus, bis zum zweiten Gedankenstrich, vertritt er sichtlich das Programm eines aufklärerischen Humanismus. Der Mensch soll das Tier in sich überwinden und „milder, geistiger, freudiger, besonnener“ werden. Zarathustras Ideen der „Selbstüberwindung“ und des „Übermenschen“ deuten sich hier an, doch ohne die ‚dunkle‘ Wendung, die Nietzsche ihnen später geben sollte.
Es folgt dann, bis zum nächsten Gedankenstrich, die These, die man eigentlich als Nietzsches ‚Grundansicht‘ bezeichnen könnte und der er vom Frühwerk an bis zum Spätwerk die Treue halten sollte: dass sich der Mensch, um sein ureigenstens Potential zu realisieren, von den „Ketten“ der traditionellen Metaphysik und Moral befreien muss, die ihn bislang erdrückten und im Zustand der Animalität verbleiben ließen.
Diese Wendung überrascht, rechtfertigen sich jene „Irrthümer“ doch genau damit, einen Bruch zwischen Tier und Mensch zu erzeugen. Bereits die biblische Geschichte vom Sündenfall erzählt davon, wie dieser Bruch in die Welt kam. Nietzsche dreht diese gewohnte Perspektive hier diametral um – wie vermag er das zu rechtfertigen?
Es folgt bis zum nächsten Gedankenstrich jedoch keine Antwort auf diese naheliegende Frage, sondern eine neue Wendung in Nietzsche Argumentation, indem er eine weitere seiner Kernthesen anführt: dass sich nicht jeder Mensch gleichermaßen in seinem Sinne geistig befreien dürfe. Dieses Leben ohne moralische Fesseln soll den „veredelten Menschen“ vorbehalten bleiben. Sein Wahlspruch ist – auch dies ein typisches Stilmittel Nietzsches – eine Variation der Weihnachtsverkündigung, wie sie noch heute jedes Jahr in den Kirchen am Heiligen Abend verlesen wird.
Am Ende des Aphorismus wird diese, allerdings auch wieder leicht variiert, zitiert. Im klassischen Wortlaut der Luther-Bibel, mit dem Nietzsche natürlich bestens vertraut war – hier in der Version von 1912, die ihm weitgehend entspricht – lautet die Losung: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk. 2, 14) Es handelt sich um eine kollektive Prophezeiung der „Menge der himmlischen Heerscharen“ (Luk. 2, 13) an die Hirten als Repräsentanten des einfachen Volkes.
Allerdings – und womöglich war das Nietzsche bekannt – folgt die originale Luther-Bibel einer mittlerweile als veraltet geltenden Lesart des griechischen Originaltexts. Die neuste Version dieser Übersetzung von 2017 lautet daher etwas anders: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Es geht hier also nicht mehr um ein Gnaden- und Friedensversprechen an wirklich alle Menschen, sondern nur ein Friedensversprechen an diejenigen, denen das „Wohlgefallen“ Gottes zu Teil wird.
Blättert man im Lukas-Evangelium ein Kapitel nach vorne, wird deutlich, wie diese Einschränkung gemeint sein könnte, denn dort heißt es im berühmten Lobgesang Marias (in der Übersetzung von 2017): Gottes „Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Luk. 1, 50–53) Es geht also im Neuen Testament nicht unbedingt um ein seichtes ‚Gott hat alle Menschen lieb‘, sondern eine revolutionäre Botschaft: Gott hat nur die Menschen ‚lieb‘, die an ihn glauben, und die nicht „hoffärtig“ sind. Insbesondere ausgenommen werden hier, wie auch an zahllosen anderen Stellen des Buches, die Reichen und Mächtigen. – Aus dieser Perspektive klingt Nietzsches erste Umkehrung des Segens sehr „hoffärtig“: Der freie Geist möchte nur um sich Friede und in Einklang mit den Dingen leben, die ihn umgeben.
Auch dies wirft wieder Fragen auf. Wieso genau ist es für diese Losung noch nicht an der Zeit? Was müsste geschehen, damit sie als Ideal aufgestellt werden könnte? Und wie ist es zu erklären, dass Nietzsche einerseits einen Bruch mit allen bisherigen Idealen verkündet, diesen jedoch zugleich relativiert, insofern er das utopische Ziel des Christentums ja sogar gutheißt? – Dass Nietzsche sich dieses Ziel zu eigen macht, wird dadurch unterstrichen, dass er mit dieser Formel – „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“ – eine Postkarte beendete, die er am 23. 12. 1878 an seinen Studenten und Vertrauten Adolf Baumgartner schickte.3
II. Friede oder Wohlgefallen aneinander!
Zwei Nachlassfragmente aus den 1880er Jahren verdeutlichen, dass Nietzsche die heiklen Fragen, die dieser Aphorismus aufwirft, aber offen lässt, beantworten wird, indem er sich stärker als hier vom Ziel des Christentums distanziert. „Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen“ erscheint ihm nun als Losung der „décadence“, die sich in der Unfähigkeit zum Widerstand gegenüber anderen äußere, in Toleranz, Mitleid und Nachsicht. An die Stelle dieser Moral der Schwäche soll nun eine Ethik der Stärke und Härte treten, die in keiner Weise mehr den „Frieden“ und das „Wohlgefallen an einander“ im Sinne hat, es sei denn im Sinne der ersten Losung.4
Er vertritt nun offensiv die Amoralität:
„Die Krankheit macht den Menschen besser“: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die „Verbesserung des Menschen“, im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat „die Krankheit“ den Europäer „besser gemacht“? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität – unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs?… Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo „der Mensch“ sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: „je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so „unmoralischer“ wird <er> auch“. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die „Verbesserung“, die wachsende „Civilisirung“ des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und „Jeder Jedermanns Krankenpfleger“ wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten „Frieden auf Erden“! Aber auch so wenig „Wohlgefallen an einander“! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig „Werke“, um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine „Thaten“ mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?… 5
Es gilt nun: entweder Frieden oder „Wohlgefallen an einander“. Wenn die Menschen sich friedlich verhalten, wenn sie geschwächt sind, können sie kein authentisches wechselseitiges Wohlgefallen empfinden.
Dies wirkt wie ein Versuch, den Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten wenigstens nachträglich argumentativ zu unterfüttern. Das Christentum scheiterte an seinem Ideal, weil es zwei kontradiktorische Forderungen erhebt. Damit ist es freilich nicht nur „noch nicht“ realisierbar, es ist niemals realisierbar und taugt noch nicht einmal als Ideal. Als ein solches kann nur die individuelle Forderung an den einzelnen gelten, mit sich selbst in Einklang zu kommen und seine unmittelbare Umgebung wertzuschätzen. Doch auch diese möchte Nietzsche eben nicht an alle gerichtet wissen, sondern nur an die starken Naturen, die es auch wert sind, sich selbst zu bejahen. Die Schwachen sollen sich ruhig selbst verneinen und in Unfrieden mit sich und ihrer Umgebung leben – ihre Natur prädestiniert sie ohnehin dazu.
Der revolutionäre Ursinn des Weihnachtssegens bekräftigt Nietzsches Vorbehalte ja nur. Offenkundig geht es hier um das, was Nietzsche in Zur Genealogie der Moral als „Sklavenmoral“ bezeichnen wird: Die Starken sollen niedergehalten und gezähmt werden, um allgemeinen Frieden zu ermöglichen. Doch das Christentum verkennt, dass dadurch nur eine langweilige, graue, „nihilistische“ Welt entsteht, in der es am Menschen nichts mehr zu bejahen gibt. Anstatt das Tierische im Menschen zu transzendieren, werden die Menschen in Haustiere verwandelt.
III. Unweihnachtlich – allzuweihnachtlich?
Sicher ist an Nietzsches Gedanken etwas dran. Jeder kennt soziale Kontexte, in denen alle furchtbar nett zueinander sind, aber eigentlich keine wirklichen zwischenmenschlichen Resonanzen entstehen können, gerade weil zu diesen auch Konflikt und Ehrlichkeit gehört. In ihnen herrscht oft eine dumpfe, stickige Atmosphäre, wie auf einem Familienfest. Viele erleben Weihnachten wahrscheinlich genau so, als Inbegriff der christlichen Lüge und Heuchelei. Sollen sich diese Menschen doch erst einmal selbst lieben und mit sich selbst ins Reine kommen, ehe sie andere mit ihrem „Mitleid“ beschenken!
Doch der Nietzsche von Der Wanderer und sein Schatten macht es sich noch nicht so einfach wie der spätere. Es geht hier nicht um von Natur aus starke Individuen, sondern anscheinend solche, die in einem Bildungsprozess „veredelt“ worden und mithin wirklich Herr ihrer geheimen Begierden und Triebe geworden sind; die „stark“ in dem Sinne sind, dass in ihnen kein Rest an unsublimierter Animalität verblieben ist. Bei denen, im Sinne Freuds, wo „Es“ war, „Ich“ geworden ist. Erst sie könnten auch anderen gegenüber wirklich friedlich sein, ohne sich selbst belügen zu müssen. Sie sind also anderen gegenüber friedlich nicht, weil sie es sollen, sondern weil sie es wirklich wollen. Wird dieses Ideal jedoch allen aufgezwungenen, auch denen, die noch nicht bereit dazu sind, führt es nur zu Verlogenheit und innerer Zerrissenheit. Man ist nett zu allen, doch in Wahrheit voll von Aggressionen – für die man sich dann wiederum selbst hasst.
Nietzsche hält es in diesem Aphorismus jedoch noch für möglich und sogar für erstrebenswert, dass sich alle Menschen in diesem Sinne „veredeln“ und derart mit sich selbst und ihrer Umgebung im Reinen sind, dass ein wirklicher Frieden auf der Welt herrschen könnte. Dann erst könnten sich die Menschen wahrhaft gegenseitig wertschätzen. Und Friedlichkeit und Wertschätzung wären nichts mehr, was man moralisch verordnen müsste, sondern was sich aus diesem aufgeklärten, mit sich selbst einigen, authentischen Bewusstsein von selbst ergeben würde.
Das wäre also schlussendlich Nietzsches ‚frohe Botschaft‘ zur Weihnachtszeit: Respekt, Mitleid, Nächstenliebe und alle anderen Ideale des Christentums lassen sich nicht moralisch vorschreiben oder einfordern; sie müssen aus echter Selbstbejahung und Selbstbeherrschung heraus erwachsen. Wahre Moralität muss von innen kommen. Das Christentum betrügt die Menschen in Nietzsches Darstellung, indem es eine solche Moralität ohne eigene Anstrengung verspricht. Es müssen nur die ‚bösen Menschen‘ beseitigt werden, dann ist alles gut. Doch Friede kann nur um sich verbreiten und andere wahrhaft wertschätzen, wer den inneren Frieden aus eigener Kraft gefunden hat und wer sich selbst wertschätzt. – Doch ist das überhaupt so antichristlich und erinnert nicht vielmehr das Christentum an seinen eigenen Kern? Es ist jedenfalls eine sehr andere Botschaft als diejenige, die man an Weihnachten üblicherweise zu Ohren bekommt.
Fußnoten
1: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten 350.
2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches 1.
3: Brief Nr. 785.
4: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1888 23[4].