Eine neue Nietzsche-Biographie

Im Gespräch mit Andreas Urs Sommer

Eine neue Nietzsche-Biographie

Im Gespräch mit Andreas Urs Sommer

Andreas Urs Sommer & Paul Stephan
Vor 125. Jahren, am 25. August 1900, starb der Philosoph Friedrich Nietzsche. Dieses bedeutende Datum nehmen wir zum Anlass, um um den diesjährigen Jahrestag seiner Geburt am 15. Oktober 1844 herum Interviews mit zweien der international renommiertesten Nietzsche-Forschern, Andreas Urs Sommer und Werner Stegmaier, zu publizieren. Der Freiburger Philosophieprofessor Sommer arbeitet gerade an einer umfangreichen Biographie des Denkers, weshalb sich das Gespräch mit ihm insbesondere um dessen Leben drehte; das Gespräch mit seinem Greifswalder Kollegen, in dem es vor allem um Nietzsches Denken geht, wird in Kürze folgen. Dass beides nicht zu trennen ist, wird sich schnell zeigen. Wir befragten den Experten u. a. zu Nietzsches Charakter, seiner Sexualität und der Frage, inwiefern er das lebte, was er verkündete.

Vor 125. Jahren, am 25. August 1900, starb der Philosoph Friedrich Nietzsche. Dieses bedeutende Datum nehmen wir zum Anlass, um rund um den diesjährigen Jahrestag seiner Geburt am 15. Oktober 1844 herum Interviews mit zweien der international renommiertesten Nietzsche-Forschern, Andreas Urs Sommer und Werner Stegmaier, zu publizieren. Der Freiburger Philosophieprofessor Sommer arbeitet gerade an einer umfangreichen Biographie des Denkers, weshalb sich das Gespräch mit ihm insbesondere um dessen Leben drehte; das Gespräch mit seinem Greifswalder Kollegen, in dem es vor allem um Nietzsches Denken geht, wird in Kürze folgen. Dass beides nicht zu trennen ist, wird sich schnell zeigen. Wir befragten den Experten u. a. zu Nietzsches Charakter, seiner Sexualität und der Frage, inwiefern er das lebte, was er verkündete.

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I. Vom Kommentar zur Biographie

Paul Stephan: Sehr geehrter Herr Professor Sommer, haben Sie zunächst vielen herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch bereit erklärt haben. Es ist ja wohl kaum eine Untertreibung, Sie als einen der führenden Nietzsche-Forscher überhaupt zu bezeichnen. Neben vielem anderen sind Sie ja insbesondere der Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und haben selbst zu diesem wichtigen Kommentar einige Bände beigesteuert.1 Nun wagen Sie sich an ein neues Großprojekt, nämlich eine neue wissenschaftliche Nietzsche-Biographie. Derzeit, wir beginnen diesen E-Mail-Dialog am 4. 4. 2025, arbeiten Sie daran noch; zum Zeitpunkt der Publikation dieses Gesprächs werden Sie sie wahrscheinlich bereits abgeschlossen haben, wenn sie nicht sogar schon veröffentlicht worden ist. Auch wenn Sie zu wahrscheinlich allen Aspekten von Nietzsches Leben, Werk und Wirkung ein würdiger Gesprächspartner wären, soll daher dieses laufende Vorhaben der Hauptgegenstand dieses Austauschs werden.

Meine erste Frage, die sich diesbezüglich an Sie richtet, ist vielleicht ein wenig provokant, aber wird Sie sicherlich nicht überraschen. Zu wohl keinem Philosophen gibt es ja so viele Biographien wie zu Nietzsche, möchte ich behaupten. Neben unzähligen populärwissenschaftlichen Darstellungen seines Lebens liegt u. a. seit vielen Jahren die dreibändige wissenschaftliche Biographie von Curt Paul Janz vor – selbst abseitige Themen wie Nietzsches Sexualität oder seine, mögliche, Erkrankung an der Syphilis sind Gegenstand umfangreicher Monographien geworden. In welchen Punkten wollen Sie sich von Ihren Vorgängern abheben? Wo erhoffen Sie sich, neue Akzente setzen zu können?

Andreas Urs Sommer: Die jetzt geweckten Erwartungen muss ich leider ein wenig zurückschrauben und mich bei Ihnen, lieber Herr Stephan, für die Möglichkeit eines Interviews bedanken, obwohl sein Gegenstand, eben die Nietzsche-Biographie, noch keineswegs abgeschlossen ist. Sie wird es auch zu Nietzsches 181. Geburtstag am 15. 10. 2025 noch nicht sein. Tatsächlich war mit dem Verlag – es ist C. H. Beck in München – ursprünglich ein Manuskriptabgabetermin Ende letzten Jahres vereinbart, den ich wegen der von Ihnen angesprochenen, vielfältigen sonstigen Obliegenheiten leider nicht einhalten konnte. Der viertelsrunde Todestag durfte kein Anlass werden, mit dem Buch zu hetzen, das doch Hand und Fuß haben soll – und vielleicht noch ein paar Körperteile mehr. So hat mir der C. H. Beck Verlag freundlicherweise noch weitere Denk- und Schreibzeit eingeräumt.  Denn wir befinden uns in einer sehr eigentümlichen Situation: Zum einen sind die internationalen Forschungsaktivitäten zu Nietzsche immens, zum anderen ist seit 1978, seit dem Werk von Curt Paul Janz, das Sie erwähnen, keine umfassende Nietzsche-Biographie mehr erschienen, die tatsächlich aus der aktuellen Forschung geschöpft wäre. Wollte man es überspitzt formulieren, könnte man sagen: Seit 1978 schreiben alle Biographen von Janz ab, der im Übrigen selbst fleißig abgeschrieben hat: der erste Band seiner Biographie beruht auf Richard Blunck: Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend von 1953 – ein Buch, das eigentlich schon 1945 fertig war und noch entnazifiziert werden musste, da es ursprünglich im NS-Dunstkreis entstanden war.

Kurzum: Auf der einen Seite steht eine reiche Fülle von jüngeren Forschungserkenntnissen, auf der anderen Seite sind diese noch nie synthetisch in die Form einer allgemein lesbaren Biographie gegossen worden. Zudem wird die Biographie einen dezidiert philosophischen Anspruch verfolgen: Sie will zum Denken ermuntern.

PS: Das ist natürlich sehr verständlich, dass Sie ein solches Großprojekt nicht übereilen möchten. Zumal ja auch Nietzsche in der Vorrede zur Morgenröthe schreibt: „Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: – endlich schreibt man auch langsam.“2 Vielleicht wäre das auch eine der Lektionen, die man von Nietzsche lernen könnte? Sich nicht von den Anforderungen einer überhitzten und hektischen Gegenwart stressen zu lassen und sich seine Zeit zu nehmen, lernen, gemäß dem eigenen Tempo zu leben?

AUS: Sicher kann man diesen Ratschlag in das Rezeptbuch gelingenden Lebens aufnehmen – und auch Nietzsche hätte es, wie allerdings zahlreiche Denkerinnen und Denker vor ihm, bestimmt getan. Eine heitere Gelassenheit gegenüber den angeblich so superdringlichen Forderungen des Tages dürfte nie verkehrt sein. Allerdings ist Nietzsche als Lebenskunst-Orakel oft nur eine Karikatur seiner selbst, zumal dann, wenn man ihm Gemeinplätze zuordnet. Selbst hat er sich weder an den Ratschlag langsamen Lesens gehalten – er liest oberflächlich, rasch, kreuz, quer und stets auf seine eigenen intellektuellen Bedürfnislagen hin fokussiert. Noch an den Ratschlag des langsamen Schreibens. Gerne beschreibt er, wie er – etwa bei Also sprach Zarathustra – in einen eruptiven Schreibrausch hineingeraten sei.3 Oft nehmen Lesende mit Hintergrundwissen die Atemlosigkeit, auch das Überstürzte seiner Schreibaktivitäten wahr, während er dann phasenweise ins „più lento" gerät. Nietzsche sondert keinen kontinuierlichen Schreibfluss ab – er schlägt beim Schreiben wilde Haken.

PS: Ja, man stößt bei Nietzsche immer wieder auf eine große Diskrepanz zwischen Leben und Werk, zwischen dem Mythos, den Nietzsche vor allem in seiner vermeintlichen „Autobiographie“ Ecce homo um sich kreierte und der bis heute immer wieder weitergesponnen wird und dem, wie er wirklich war. Wie gehen Sie beim Schreiben Ihrer Biographie mit diesem offensichtlichen Widerspruch um? Ist es überhaupt möglich, jenseits des Dickichts der Anekdoten und Legenden zu einem „authentischen Nietzsche“ vorzudringen? Und muss das etablierte Nietzsche-Bild in manchen Teilen im Lichte der jüngeren Forschung vollkommen revidiert werden? Gilt es, Nietzsches berühmten „Hammer“ nun endlich auch einmal auf seine vielleicht hartnäckigste Schöpfung anzuwenden: die „Marke Nietzsche“; das „Götzenbild“ seiner selbst, dass er und nach ihm seine zahllosen Jünger und Feinde schufen?

AUS: Nietzsche ist, seit er sich als Kind und als Jugendlicher schreibend erfindet, in unentwegter autobiographischer Selbstreflexion begriffen: Wir haben zahllose Zeugnisse von ihm, in denen er sein Leben beschreibt, auch aus ganz früher Zeit, wo es scheinbar noch gar kein Leben zu beschreiben gab. Der Biograph ist dabei gut beraten, diesen Selbstzeugnissen gegenüber misstrauisch zu sein – insbesondere gegenüber dem Paradepferd im Stall von Nietzsches autobiographischem Werkkomplex, dem 1888 entstandenen Ecce homo. Diese Schrift ist nicht einfach eine „Autobiographie“, sondern eine Schrift mit glasklar formulierter Zielsetzung, nämlich die Welt vorzubereiten auf den zerstörenden Blitzschlag der „Umwerthung aller Werthe“, die Nietzsche mit Der Antichrist zu vollziehen hoffte. Entsprechend liegt so ziemlich das Gegenteil einer akkurat-objektiven Abspiegelung eines Lebensweges vor. Man sollte Nietzsche bei seinen autobiographischen Äußerungen also nicht vorschnell auf den Leim gehen und sie einfach für bare Münze nehmen. Vielmehr ist immer zu fragen, was der Verfasser mit ihrer Platzierung bezweckt hat. Und zum Glück stehen dem Biographen eine Vielzahl anderer Dokumente zur Verfügung, die es erlauben, diese autobiographischen Äußerungen zu kontextualisieren. Überhaupt ist Kontextualisierung eine zentrale Aufgabe einer Nietzsche-Biographie. Er ist eben nicht der einsame Denkerheld auf einem Gipfel der Ideengeschichte, sondern vielfach verflochten und verhakelt mit seiner Zeit und mit seinen Zeitgenossen. „Objektiv“ einen „wahren Nietzsche“ wird auch meine Biographie nicht vor Augen stellen. Aber sie versucht, ein reiches, ein differenziertes Bild zu geben.

II. Der Mensch Nietzsche – und seine Sexualität

PS: Wie muss man sich den Menschen Nietzsche denn konkret vorstellen? In Filmen wie der Adaption des Romans Und Nietzsche weinte von Irvin D. Yalom (USA 2007) oder Lou Andreas-Salomé (D/Ö 2016) wird er als getriebener Exzentriker gezeigt. In meinen eigenen Forschungen stieß ich jedoch immer wieder auf Äußerungen Dritter, die ihn als eher höflich und zurückhaltend darstellen. Ein verbreitetes Bild eines „typischen Nietzscheaners“ wäre wohl ein Art Klaus Kinski4, der phasenweise friedlich ist, dann aber plötzlich wütend und aufbrausend wird, ohne Rücksicht auf seine Umgebung zu nehmen. Konnte Nietzsche selbst auch so sein?

AUS: Nach allem, was wir von seinen Zeitgenossen wissen, hat Nietzsche sich in seiner sozialen Umgebung zurückhaltend aufgeführt; anfallartige Transgressionsexzesse im Kinski-Stil sind ihm wohl fremd gewesen und fremd geblieben, wenn er sie bei anderen beobachtete. Die Selbstkultivierungsaufforderung aus Morgenröthe (1881) hat er sich anscheinend zu eigen gemacht: „Die guten Vier. – Redlich gegen uns und was sonst uns Freund ist; tapfer gegen den Feind; grossmüthig gegen den Besiegten; höflich – immer: so wollen uns die vier Cardinaltugenden.“5 Höflichkeit und Vornehmheit hat Nietzsche nicht nur theoretisch, sondern auch lebenspraktisch hochgehalten: Von Höflichkeit bestimmtes Sozialverhalten produziert die geringsten Reibungsverluste. Dass er demgegenüber auf dem Papier ein Berserker sein konnte (was zur Annahme verführte, er sei es auch im Leben gewesen), steht im wahrsten Sinn auf einem anderen Blatt. Er scheint aber keine Mühe gehabt zu haben, die eine Sphäre von der anderen zu unterscheiden. Tatsächlich gehörte zur Höflichkeit auch, die anderen zu lassen, wie sie sind. In einer Aufzeichnung von 1880 schmiedete er daraus sogar einen „neuen Kanon an alle Einzelnen“: „sei anders, als alle Übrigen und freue dich, wenn Jeder anders ist, als der Andere“6. Allerdings ist diese Maxime im Nachlass begraben geblieben; Nietzsche hat sie nie in ein publiziertes Werk aufgenommen.

PS: Ob er sich dann in Abwesenheit seiner Bekannten oder, wenn er unbeobachtet war, doch gelegentliche Gefühlsausbrüche leistete, wird man wohl nie mehr rekonstruieren können. Aber ich gebe Ihnen vollkommen Recht: Das Bild vom Nietzscheaner als cholerischem Exzentriker passt vor allem auch gar nicht so recht zu dem, was Nietzsche schreibt über einen adäquaten sozialen Umgang. Doch lassen Sie mich nun ein vielleicht etwas heikles Thema ansprechen, das ebenfalls Nietzsches unbeobachtetes Privatleben betrifft, was aber viele unserer Leser ebenfalls umtreibt und auch schon für Diskussionen sorgte auf unserem Blog7: Ich meine damit Nietzsches Sexualität. Bei kaum einem Philosophen ist die Spekulation darüber so weit verbreitet, scheint mir – wobei in der seriösen Forschung dieses Thema oft umschifft wird. Wenn ich mich recht entsinne, spielt es etwa bei Janz keine besondere Rolle. Es gibt da, soweit ich es überblicke, drei verbreitete konkurrierende Erzählungen: Erstens, dass Nietzsche sehr gehemmt und unbeholfen war, was Frauen angeht, obgleich er sich nach ihnen sehnte – und sich, so der Mythos, bei seiner einzigen physischen intimen Begegnung, mit einer Kölner Prostituierten, auch noch unglückselig mit Syphilis infiziert habe.8 Zweitens, dass er in Wahrheit, trotz etwa seiner möglichen Verliebtheit in Lou Andreas-Salomé, in Wahrheit homosexuell gewesen sei und sogar Kontakte zu jungen männlichen Prostituierten pflegte – wie etwa Rüdiger Safranski in seiner bekannten Nietzsche-Biographie von 2002 argumentiert und nicht zuletzt Joachim Köhler in seiner umfangreichen Untersuchung Zarathustras Geheimnis, die 1989 erschien, in der Forschung jedoch weitgehend ignoriert wird. Drittens, dass er Sadomasochist war mit einer starken masochistischen Neigung zu dominanten Frauen. Kronzeugin ist hier pikanterweise niemand geringerer als Lou Andreas-Salomé – der oftmals ihrerseits ein gewisser Sadismus unterstellt wird im Umgang mit Männern – selbst, die diese Variante in ihrer Nietzsche-Biographie von 1894 andeutete und im posthum veröffentlichten Tagebuch ihres längeren Aufenthalts 1912/13 in Wien bei Sigmund Freud sogar von Nietzsche als „diesem Sadomasochist an sich selber9 sprach. Wer, wenn nicht sie, müsste es wissen, könnte man meinen, auch wenn der genaue Charakter ihrer Beziehung zu Nietzsche ja ebenfalls sehr umstritten ist. Köhler griff diese Vermutung in dem Kapitel „Ritter, Tod und Domina“ des besagten Buches auf und argumentiert beispielsweise, dass Nietzsche Leopold von Sacher-Masochs Romane gekannt haben muss. Allerdings hakt seine Argumentation meines Erachtens etwas, da er in für meinen Geschmack etwas küchenpsychologischer Manier unterdrückte Homosexualität und heterosexuellen Masochismus identifiziert.10 – Wir berühren hier sicherlich erneut spekulatives Terrain, da Nietzsche in dieser Hinsicht ja leider weniger offenherzig als beispielsweise sein Erzfeind Jean-Jacques Rousseau gewesen ist. Seinen Schriften lässt sich, wie mir scheint, entnehmen, dass er mit dem Puritanismus seiner Zeit und seines Milieus hadert, ohne darum für eine völlige Enthemmung der Sexualität zu plädieren. Fast immer ist dabei von „stinknormaler“ heterosexueller Sexualität die Rede, doch pikanterweise gibt es eine auffällige Tendenz bei Nietzsche, Schmerz und Lust zusammenzudenken – Köhler interpretiert etwa den berühmten „Peitschen-Satz“ in diesem Sinn als Bekenntnis zur Peitsche der Frau! –, aber auch hin und wieder anerkennende Stellen über die antike Knabenliebe.11 Wie gehen Sie als Biograph damit um? Und auf welche Seite schlagen Sie sich im Streit um Nietzsches Intimität?

AUS: Das zweifellos bestehende Interesse an Nietzsches Sexualleben verrät viel über das Publikum, das danach fragt, und das kulturelle Umfeld, in dem dieses Publikum sein Dasein fristet. Für die meisten westlich und im 20. oder 21. Jahrhundert Sozialisierten ist das Thema Sex von eminenter Bedeutung – was wiederum kulturphilosophisch sehr bedenkenswert ist: Was sagt es über eine Kultur und ihre Vorstellung von der Gestaltbarkeit der eigenen Lebensform aus, wenn in ihr eine ideologische Prädominanz des Sexus, also des tendenziell Ungestaltbaren obwaltet? Aber das ist natürlich nicht die Frage, auf die Sie hinauswollten. Wir können also im Blick auf Nietzsche einfach nüchtern feststellen: Die Vorstellung, dass Geschlechtlichkeit, Trieb, sexuelle Begierden womöglich für einen Philosophen eines vorangegangenen Jahrhunderts kein kapitales Problem gewesen sein könnten, ist dem heutigen Publikum empörend, ja unerträglich. Geradezu zwanghaft muss dieses Publikum dem früheren Menschen unterstellen, er habe da etwas – das Wesentliche – verdrängt oder (womöglich noch schlimmer) es heimlich ausgelebt, ohne frecherweise der Nachwelt davon Kunde zu geben.

Also wähnt sich der Biograph genötigt, dazu Stellung zu nehmen. Man hofft doch auf Schlüsselloch-Geschichten, neue „Enthüllungen“. Dieses Geschäftsmodell hat Joachim Köhler mit dünner Evidenz in den Realien und den Texten bereits 1989 perfekt genutzt. Ich kann nicht ausschließen, dass Nietzsche Sacher-Masochs 1870 erschienene Venus im Pelz gelesen hat, weil er eine Menge Literatur zu konsumieren pflegte – warum also nicht auch Sacher-Masoch, der übrigens viel harmloser und bürgerlicher daherkommt, als es der nach ihm gebildete „Masochismus“ vermuten lässt. Was ich aber ausschließen kann, ist, dass diese mögliche Lektüre irgendeinen in Nietzsches schriftlichen Hinterlassenschaften nachweisbaren Eindruck hinterlassen hat. Die Parallelstellen-Indizien„beweise“, die Joachim Köhler dafür beibringen will, überzeugen mich jedenfalls nicht. Übrigens erwähnt Nietzsche Sacher-Masoch tatsächlich einmal, nämlich in einem Brief an seinen Verleger Naumann, in einer langen Liste von Zeitschriften-Redakteuren, die ein Rezensionsexemplar von Jenseits von Gut und Böse bekommen sollten (Link). Sacher-Masoch stand nicht auf dieser Liste, weil Nietzsche mit ihm etwas besonders Pikantes verbunden hätte, sondern weil er ihn als gewöhnlichen Journalisten unter anderen Journalisten wahrnahm – wenn er ihn denn wirklich wahrnahm.

Mit prickelnden erotischen Enthüllungen kann ich in der Biographie leider nicht aufwarten, obwohl diese das Publikumsinteresse sicher anstacheln würden. Trotz gewiss besserer Verkaufszahlen trotze ich der Biographen-Versuchung, Nichtigkeiten zu Ereignissen aufzublasen. In der Genealogie der Moral macht sich Nietzsche Gedanken, wie Philosophen zu den asketischen Idealen stehen sollten. Dabei zielt die Argumentation darauf, sich die Askese zunutze zu machen: Philosophen erscheinen als radikale Sachwalter ihres eigenen Interesses, ungestört zu bleiben. Sie wollen sich irritationsfrei halten, sowohl im Blick auf äußere Ablenkung als auch im Blick auf die eigene Sinnlichkeit: „Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Rancune“12.  

Was genau für Hunde Nietzsche in seinem Souterrain hielt, hat er nie verraten. Und die heutigen Spekulationen über die Hundearten verrät vor allem etwas über die Disposition der jeweiligen biographischen Spekulantinnen und Spekulanten. Heute den „Streit um Nietzsches Intimität“ führen zu wollen, hat etwas unfreiwillig Komisches. Wer auf biographische Redlichkeit hält, wird sich hier jener methodischen Vorgabe befleißigen, die Nietzsche im AntichristEphexis in der Interpretation“13 nennt: Man sollte sich eines Urteils enthalten, wo verlässliches Material fehlt, um sich ein Urteil bilden zu können.

PS: Ja, was ich an dieser ganzen Diskussion eigentlich traurig finde, ist, dass man versucht, Nietzsche unbedingt in irgendeine Schublade der heute definierten sexuellen Identitäten zu pressen. Spätestens Michel Foucault sollte uns doch mit seiner Studie Sexualität und Wahrheit (1976) eines besseren belehrt haben: Dieser ganze moderne Kategorienapparat (Homosexualität, Masochismus, Sadismus …) und die Vorstellung von der Sexualität als ‚eigentlichen‘, ‚authentischen‘ Identität sind historisch sehr jungen Datums und Nietzsche wird sich sicherlich in seinem Selbstverständnis gar nicht in diesem Rahmen verortet haben, sondern einfach seinen Bedürfnissen gefolgt sein – und sah sich wahrscheinlich vor allem als Philosoph, Philologe, Freigeist, nicht primär als sexuelles Wesen, auch wenn er immer wieder den triebhaften Charakter auch des Denkens betont14. Wir müssen da in der Tat sehr aufpassen, uns nicht von der Herrschaft von „König Sex“ (Foucault) blenden zu lassen, die eben auch sehr repressiv und verarmend ist, was unsere Seinsmöglichkeiten betrifft. Das angeblich so spießige ausgehende 19. Jahrhundert war jedenfalls offen genug, einen Autoren wie Sacher-Masoch als seriösen Schriftsteller anzuerkennen. Er war ein Bestsellerautor, kein exzentrischer Sonderling. – Vielleicht sind wir gerade in unserer Obsession für das Sexuelle es, die in dieser Hinsicht verklemmt sind? Aber heute wird im Internet ja auch ernsthaft darüber diskutiert, ob Alexander der Große oder Julius Cäsar homosexuell waren …

Was sich gleichwohl kaum bestreiten lässt, ist aber, wie mir scheint, doch, dass sich Nietzsche, wenn man nur von seinen Texten ausgeht und alles andere außer Acht lässt, immer wieder auf das Thema Sexualität bezieht.15 Schon für seinen Lehrer Schopenhauer war der „Wille zum Leben“ ja nicht zuletzt ein allgegenwärtiger Wille zur Fortpflanzung. Freud basierte auf diesem Gedanken später seine Psychoanalyse und ließ sich dabei auch von Nietzsche inspirieren. Die schon erwähnte Lou Andreas-Salomé zum Beispiel war ja später auch Schülerin Freuds und verfasste einige wichtige Beiträge zur psychoanalytischen Theorie und zur Theorie der Erotik. Von vielen wurde er später als Prophet einer dionysischen Befreiung des Sexus wahrgenommen gerade auch in ihrer ‚perversen‘ Dimension, ich denke da etwa an Georges Bataille, Antonin Artaud, den ersten Freudomarxisten Otto Gross oder auch den sexpositiven Feminismus (beginnend um die Jahrhundertwende etwa bei Hedwig Dohm, Lily Braun oder Helene Stöcker). Auch beim berüchtigten Wilhelm Reich lässt sich ein gewisser Nietzscheanismus nachweisen und später bei Herbert Marcuse. Es ließen sich hier zahlreiche weitere Namen anführen, doch auf was ich eigentlich hinauswill: Halten Sie diesen Strang der Nietzsche-Rezeption für eine reine Projektionsleistung oder ist er nicht doch in Nietzsches Kritik an der puritanischen Heuchelei seiner ja eben womöglich doch nicht so sittsamen Zeit und seinem Konzept des Dionysischen fundiert?

AUS: Das ist ja das Bemerkenswerte bei Nietzsche: Er lädt zu unterschiedlichsten und oft kontradiktorischen Rezeptionen ein, die sich allesamt mit gewissem Recht auf ihn berufen. Zum einen erscheint er als der große Denker der Leiblichkeit, der jede Schwergewichtsverlagerung in eine ätherisch-reine Geisteswelt dem Spott preisgibt. Das Dionysisch-Rauschhafte scheint in ihm einen Anwalt zu finden. Zum anderen aber steht er für „Pathos der Distanz“16, die große Ernüchterung, die große Kälte, die sich aller körperlichen Zwänge entzieht. Ist er für die einen der Philosoph des Orgiasmus, ist er für die anderen der Philosoph strengster philosophischer Askese – nicht einer Askese um ihrer selbst, sondern um der schonungslosen Erkenntnis willen. Aber kann man, bohrt er weiter, die Erkenntnis wirklich wollen? Warum ein Wille zur Wahrheit und nicht viel lieber ein Wille zur Unwahrheit?  

Wenn wir Nietzsche als Zeugen für dieses oder jenes aufrufen, wird er sich sehr schnell entziehen. Er ist in jeder Hinsicht ein höchst unzuverlässiger Zeuge. Vielleicht wäre es klüger, auf seine Zeugenschaft, auf sein Patronat für dieses oder jenes zu verzichten. Und nicht auf seine Schützenhilfe zu hoffen – weder bei der sexuellen Revolution noch bei allerlei Konterrevolutionen. Bestenfalls hilft Nietzsche dabei, sich selbst zu helfen.

III. Konnte Nietzsche sich selbst helfen?

PS: Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Nur eine kurze letzte Frage drängt sich mir noch auf. Was würden Sie nach all Ihrer jahre- und jahrzehntelangen intensiven Auseinandersetzung mit Nietzsches Leben und Werk resümieren: War es ein Mensch, der sich selbst helfen konnte?

AUS: Eine bemerkenswerte Frage! Tatsächlich war er ein Mensch, der sich stets der Menschen zu bedienen wusste, die ihm helfen konnten. Er verfügte über eine erstaunliche Fähigkeit, andere Menschen für seine Zwecke einzuspannen und gleichzeitig pathetisch die Fiktion aufrechtzuerhalten, er stünde ganz allein da, von aller Welt verlassen. Das wäre schon einmal ein Indiz, dass er sich – mittels anderer – in lebensweltlichen Dingen sehr wohl helfen konnte. Und auch jenseits der Instrumentalisierung anderer neige ich dazu, ihm großes Selbsthilfetalent zu attestieren. Philosophisch ohnehin: Sackgassen, in die er sich manövrierte – angefangen mit Schopenhauer und Wagner über Lou Andreas-Salomé und Paul Ree bis hin zu allerlei Krankheitsüberlasten und zur späten Selbstvergottung –, erwiesen sich als Widerfahrnisse, die er sich, meist nicht nach den Regeln folgerichtigen Schließens, nutzbar zu machen vermochte, sei es durch waghalsige Rösselsprünge, sei es durch kess-ironisch Volten. Wenn sich selbst helfen bedeutet, den Zufall gar zu kochen, dann ist ihm das erstaunlich oft gelungen. Es zeigt die Macht des Philosophierens.

PS: Ich danke Ihnen herzlich für dieses aufschlussreiche Gespräch.

AUS: Es war mir ein Vergnügen. Versuchen wir es doch weiter mit der Macht des Philosophierens.

Andreas Urs Sommer, geboren am 14. Juli 1972 im Schweizer Kanton Aargau, ist seit 2016 Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und seit 2019 geschäftsführender Direktor des dort beheimateten Nietzsche-Forschungszentrums. Er habilitierte sich 2004 unter der Betreuung von Werner Stegmaier mit einer Studie zur Geschichtsphilosophie bei Kant und Bayle an der Universität Greifswald. Seit 2014 ist er Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und trug selbst mehrere Bände zu demselben bei. Er publizierte u. a. die Monographien Lexikon der imaginären philosophischen Werke (Frankfurt a. M. 2012), Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt (Stuttgart 2016), Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört (Freiburg, Basel & Wien 2022) und den hervorragenden Einführungsband Nietzsche und die Folgen (Stuttgart 2017).

Quellen

Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Wien 1894.

Dies.: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/13. Taching am See 2017.

Blunck, Richard: Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend. Basel & München1953.

Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a. M. 1977.

Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie. München 1978/79. 3 Bd.e.

Köhler, Joachim: Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft. Reinbek b. Hamburg 1992.

Niemeyer, Christian: Nietzsches Syphilis – und die der Anderen. Eine Spurensuche. Baden-Baden 2020.

Safranski, Rüdiger: Nietzsche. Biographie seines Denkens. München & Wien 2000.

Yalom, Irvin D.: Und Nietzsche weinte. Übers. v. Uda Strätling. München 2001.

Quellenangabe zum Artikelbild

Johannes Hüppi: Andreas Urs Sommer & Friedrich Nietzsche (2025).

Fußnoten

1: Vgl. hierzu den Bericht über die diesem Kommentar gewidmete Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft im Jahr 2024 von Jonas Pohler auf diesem Blog (Link).

2: Morgenröthe, Vorrede, Abs. 5.

3: Vgl. insb. den diesem Werk gewidmeten Abschnitt in Ecce homo (Link).

4: Vgl. Paul Stephans Artikel Mythomanen in dürftiger Zeit. Über Klaus Kinski und Werner Herzog auf diesem Blog (Link).

5: Aph. 556.

6: Nr. 3[98].

7: Vgl. insb. Henry Hollands Artikel Mit Nietzsche und Marx in die Erbstreitrunde (Link) und Christian Saehrendts Beitrag Dionysos ohne Eros. War Nietzsche ein Incel? (Link).

8: Aktualisiert wurde diese Erzählung jüngst von Christian Niemeyer in seiner umfangreichen Studie Nietzsches Syphilis – und die der Anderen.

9: In der Schule bei Freud, S. 134.

10: Eine ‚Diagnose‘, die allerdings mit Bezug auf Nietzsche auch Andreas-Salomé formulierte, die mit dem Philosophen auch über dieses Thema sprach (vgl. ebd.).

11: Allerdings lassen diese sich an den Fingern abzählen. Die wichtigsten sind Menschliches, Allzumenschliches Bd. I, Aph. 259, Morgenröthe, Aph. 503 und Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 47.

12: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 8.

13: Abs. 52.

14: Vgl. etwa Nachgelassene Fragmente 1883, Nr. 7[62].

15: So kritisiert er am Christentum vor allem seine Ablehnung der Sexualität (vgl. etwa AC 56 &Gesetz) und sogar die mangelnde Sexualerziehung der „vornehmen Frauen“ (FW 71) und prangert die Verlogenheit der monogamen Ehe an (vgl. MA I, 424). Der „Rausch der Geschlechtserregung“ sei die „älteste und ursprünglichste Form des Rausches“ (GD, Streifzüge, 8), wobei er ebenso von einer ursprünglichen „Lust an der Grausamkeit“ (GM II, 7) ausgeht und diese auch immer wieder mit der Sexualität assoziiert (vgl. etwa bereits GT 2).

16: Vgl. etwa Zur Genealogie der Moral, Abs. I, 2.