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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches
Artikel
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Vater sein mit Nietzsche
Ein Gespräch zwischen Henry Holland und Paul Stephan
Vater sein mit Nietzsche
Ein Gespräch zwischen Henry Holland und Paul Stephan


Nietzsche hatte mit großer Gewissheit keine Kinder und äußert sich in seinem Werk auch nicht besonders freundlich zum Thema Vaterschaft. Der freie Geist ist für ihn ein kinderloser Mann, die Erziehung der Kinder die Aufgabe der Frauen. Gleichzeitig dient ihm das Kind immer wieder als Metapher für den befreiten Geist, als Vorahnung des Übermenschen. Vermag er dadurch heutige Väter vielleicht doch zu inspirieren? Und kann man gleichzeitig Vater und Nietzscheaner sein? Henry Holland und Paul Stephan, beide Väter, diskutierten über diese Frage.
Das komplette, ungekürzte Gespräch haben wir parallel auch auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie publiziert (Teil 1, Teil 2).

I. Unsere Vaterschaften
Paul Stephan: Wie kann man mit Nietzsche Vater sein? Hilft die Beschäftigung mit seiner Philosophie dabei, ein besserer Vater zu sein – oder auch nicht? Wir wollen über dieses Thema im Folgenden ganz ergebnisoffen diskutieren. Doch vielleicht sollten wir zunächst klären, was uns, davon abgesehen, dass wir Nietzsche-Forscher sind, überhaupt dazu qualifiziert, darüber zu sprechen. Wir werden nämlich auch von unseren persönlichen Erfahrungen ausgehen, da wir beide auch Väter sind. Henry, du bist derjenige von uns, der sozusagen „mehr Vater“ ist. Wie viele Kinder hast du und was ist der persönliche Hintergrund, von dem aus du auf dieses Thema blickst?
Henry Holland: Ich bin der Vater von vier Kindern, die jetzt zwischen sechs und 23 Jahre alt sind. Das heißt, ich bin zuerst mit 26 Vater geworden. Alle diese vier Kinder stammen von derselben Frau, meiner Frau Rebecca, das kann heutzutage natürlich auch ganz anders sein. Es sind zwei Jungen und zwei Mädchen. Vielleicht ein wenig ungewöhnlich ist auch, dass wir eigentlich schon mit der Lebensphase des Kinderkriegens und der Erziehung von Kleinkindern abgeschlossen hatten, als 2018 Rebecca dann doch noch einmal schwanger wurde und 2019 unser jüngster Sohn Louis zur Welt kam. Dass Rebecca kurz vor ihrem 42. Geburtstag noch einmal Mutter geworden ist, ist heutzutage nicht so ungewöhnlich – zu Nietzsches Zeiten war das ganz anders. Aber es war trotzdem eine sehr schöne Überraschung für uns. – Aber wie steht es mit dir, Paul?
PS: Ich muss vorneweg betonen, dass wir dieses Gespräch am 30. Oktober aufzeichnen und erst kurz vor Weihnachten publizieren werden. Also, es ist so, dass ich einen Sohn habe, Jonathan – er ist jetzt drei, wird aber am 18. November vier werden –, und ich bin im Augenblick sehr aufgeregt und das Thema „Vaterschaft“ beschäftigt mich gerade auch persönlich sehr, weil meine Partnerin Luise im Augenblick schwanger ist mit unserem zweiten Kind. Jetzt ist es noch unterwegs, doch wenn wir das Gespräch veröffentlichen werden, ist es vielleicht schon so weit.1 Was wir jetzt schon wissen: Es wird eine Tochter sein, was mich tatsächlich sehr freut. Ich hätte auch kein Problem damit, der Vater von zwei Söhnen zu sein, das fände ich auch ganz toll, aber ich stelle es mir zumindest so vor, dass es vielleicht nochmal eine andere Erfahrung ist, ein Mädchen aufzuziehen.
HH: Ja, das kann ich gut nachvollziehen und ich habe mich damals sehr gefreut, dass das erste Kind ein Mädchen war. Das hört sich vielleicht wie eine essentialistische Sichtweise an, doch es ja auch aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus betrachtet so, dass die Kinder notwendig beeinflusst von bestehenden Geschlechterrollen aufwachsen – das kann man einfach nicht verleugnen, auch wenn man es anders haben will. Ich habe selbst versucht, meinen Töchtern alle Freiheiten, alle Spielräume zur Verfügung zu stellen, die ich auch einem Jungen zur Verfügung gestellt hätte – aber trotzdem fällt mir doch auf in meinem eigenen Milieu: Die eher ‚schwierigen‘ Kinder sind doch mehrheitlich Jungen, diejenigen, die eher auffallen oder sich auflehnen, die sich sozial nicht anpassen möchten, die im Klassenzimmer aufbegehren. Auch wenn sich viele von uns von den bestehenden Geschlechternormen befreien möchten, ist doch davon auszugehen, dass diese Rollen noch ein langes Nachspiel haben und haben werden. Nietzsche formuliert das trefflich in der Fröhlichen Wissenschaft:
Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Höhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!2
PS: Daran würde ich gerne anknüpfen, auch wenn uns das etwas von unserem eigentlichen Thema abbringt. Ein wichtiger Aspekt des Vaterseins ist für mich, dass man als Vater plötzlich ganz viele andere Eltern kennenlernt, die Kinder im selben Alter wie das eigene Kind haben. Und dabei kann man wirklich zahlreiche überraschende Beobachtungen und Erkenntnisse machen. Wobei hier natürlich gilt, was du auch schon meintest: Wir können nicht für ‚die Väter an sich‘ sprechen. Wir gehen hier von einem bestimmten Milieu aus, dem wir beide angehören, einem intellektuellen Mittelschichtsmilieu, dem vor allem Kulturschaffende und Akademiker angehören. Und in diesem Milieu wird gerade recht homogen die Auffassung vertreten, dass sehr stark darauf zu achten ist, die Kinder möglichst ‚gendersensibel‘ zu erziehen, d. h. man soll nach Möglichkeit keinen großen Unterschied machen zwischen Töchtern und Söhnen. Auch ich finde diese Entwicklung grundsätzlich sehr gut und habe mir das auch so vorgenommen – aber gerade vor diesem Hintergrund fand ich es doch sehr interessant zu beobachten, dass sich auch sehr kleine Kinder von ein, zwei Jahren, die also noch sehr ‚unerzogen‘, ungeprägt sind und auch von Eltern erzogen werden, die sehr darauf achten, nicht irgendwelchen Stereotypen zu folgen, sich oftmals sehr stereotyp verhalten. Nur ein Beispiel: Als mein Sohn ganz klein war, so ungefähr 1½, bin ich mit ihm einmal pro Woche zu einer musikalischen Früherziehung gefahren. Das war sehr schön. Es war eine Gruppe von etwa sechs, sieben Kindern, Jungen und Mädchen. Da war es wirklich ganz eindeutig so, dass es immer die Jungen waren, die im Zimmer herumgestreunt sind, die versucht haben, nach außen zu gehen und den Raum zu entdecken, die eher laut waren und aus Erwachsenensicht ‚Unsinn‘ gemacht oder auch mal gestört haben, die also wild waren, während die Mädchen fast immer bei ihrem Elternteil gesessen sind und eher ‚zu still‘ waren im Gegensatz dazu, unsicher und schüchtern.
Ich könnte jetzt viele solcher Beispiele anführen. Und natürlich kenne ich auch kleine Mädchen in meinem Bekanntenkreis, die sehr ‚wild‘ sind. Aber meine durchschnittliche Beobachtung ist wirklich, dass man schon in einem bemerkenswert frühen Stadium diese ganzen klischeehaften Unterschiede bemerken kann – und das eben auch bei Kindern, deren Eltern sehr ‚gendersensibel‘ sind. Diese Erfahrung hat mich zu dem Schluss geführt, dass es vielleicht doch einen größeren Einfluss der Biologie, der Gene, gibt, als man oftmals meint und behauptet. Klar, das ist schwer abzugrenzen von der Rolle der unbewussten Prägung, von der du sprachst. Man wird das nie eindeutig voneinander abgrenzen können und ich möchte hier auch gar nicht die Grundsatzdiskussion ‚Natur vs. Kultur‘ aufmachen – aber mich haben die erwähnten Erfahrungen eben doch zu einer etwas differenzierten Auffassung gebracht.

II. Nietzsches problematisches Verständnis von Mann und „Weib“
HH: Vielleicht ist das ein guter Anlass, um auf Nietzsche zu sprechen zu kommen und die bestimmt schlechteste Seite von Nietzsche in Bezug auf das Thema Elternschaft, Mutterschaft, Vaterschaft. Wir könnten uns vielleicht von seinen schlechtesten ausgehend zu seinen geistreicheren und interessanteren Aussagen vorarbeiten. Es muss eben doch betont werden, dass Nietzsche an einigen Stellen mit biologistischen Statements auf den Tisch haut, wenn er etwa schreibt: „Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am Weibe hat Eine Lösung: sie heisst Schwangerschaft“3. Dieser Satz gehört wirklich zu Nietzsches zehn schlimmsten Aussagen. Da wirkt es – vor allem, wenn man diese Sätze isoliert betrachtet, was man nicht machen sollte – ja wirklich so, als ob die Frauen für Nietzsche nur dazu da sind, schwanger zu werden und durch diese biologische Fortpflanzung dem Allgemeinwohl zu dienen. Und die Frauen, die das nicht machen, sollen einfach ihren Mund halten.4 Also, es ist schon eine sehr frauenfeindliche Aussage. Wie gehst du, in Bezug auf das Thema Elternschaft, mit dieser ja doch sehr biologistischen Seite von Nietzsche um?
PS: Ja, ich sehe diese Seite genauso wie du. Sie zeigt einmal mehr die große Differenz, die uns von Nietzsche trennt. Und es gibt zig Stellen, wo er dementsprechend immer wieder die klare Ansicht äußert, dass Frauen für die Kindererziehung und das Kinderkriegen vor allem zuständig sein sollen, Männer hingegen sollen, wie es auch in der von dir zitierten Passage des Zarathustra heißt, „Krieger“ sein und sich um den Haushalt und die Kinder nicht sorgen. In einem Satz: „So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig das Andre“5. Und das führt uns vielleicht zum eigentlichen Hauptpunkt dieses Gesprächs: Ist es nicht eigentlich ein Widerspruch, in irgendeiner Hinsicht Nietzscheaner und Vater zu sein? Hat Nietzsche uns Vätern im 21. Jahrhundert, die wir uns sehr anders verstehen, überhaupt noch etwas zu sagen? Ich glaube, das gilt für uns beide und für die meisten Angehörigen unseres Milieus, dass wir eben ein ganz anderes Verständnis von Vaterschaft haben, wie es im späten 19. Jahrhundert so wahrscheinlich noch niemand vertreten hat: Dass man sich eben wirklich die Aufgaben der Fürsorgearbeit mehr oder weniger mit der Mutter teilt, auch wenn es um die ganz kleinen Kinder geht. Das sind ja Sachen, die vielleicht sogar noch vor 30 oder 40 Jahren noch vollkommen undenkbar gewesen wären, die vielleicht in anderen Milieus auch bis heute noch gar nicht so verbreitet sind, die aber in unserem Milieu schon sehr selbstverständlich geworden sind. Wenn Nietzsche diese Entwicklung mitbekommen könnte, würde er wohl, gelinde gesagt, die Hände über den Kopf schlagen und den endgültigen „Untergang des Abendlands“ diagnostizieren, die völlige „Verweiblichung“ und „Verweichlichung“6 der Männer, den finalen Triumph der ressentimentgetriebenen „allgemeinen Verhässlichung Europa’s“7. Siehst du das ähnlich, Henry?

III. Vaterschaft und Authentizität
HH: Mir scheint es so zu sein, dass wir das doch machen können, dass wir Nietzscheanerinnen und Nietzscheaner sein können und doch zugleich progressive Eltern im 21. Jahrhundert. Ich würde in dieser Hinsicht tatsächlich wieder – es kommt einfach immer wieder hoch – auf den Authentizitätsbegriff zurückkommen. Du kennst dich damit viel besser aus als ich, schließlich hast du zu diesem Thema gerade erst eine ganze Doktorarbeit geschrieben und abgegeben. Authentizität ist ein ganz zentrales Konzept für Nietzsche und ich meine, dass das, was die Kinder vor allem bei uns Eltern suchen, sowohl bei den Vätern als auch bei den Müttern, eben Authentizität ist. Bei den Vätern allerdings in etwas anderer Form, denn sie neigen doch eher dazu, abwesend in der Beziehung zu sein und da es seitens des Kindes die Erwartung, dass dieser Elternteil authentisch bleibt. Und das heißt: Nicht nur statisch ist, sondern nach Authentizität strebt, durchaus im Sinne von Nietzsches Idee der Selbstwerdung als kreativer, unabschließbarer Prozess der Selbstschöpfung.
Ich versuche das mal anhand meiner ältesten Tochter, Alma, konkret zu machen. Also sie teilt mit mir ganz klar meine linkspolitischen Ansichten, die erwartet schon auf jeden Fall, vielleicht sogar als Grundbedingung, dass ich mich nicht geschlechtsdiskriminierend oder sonst wie diskriminierend äußere – und das bin ich auch eigentlich nicht, das tue ich nicht. Aber das ist nicht ihre Haupterwartung an mich, dass ich mich, etwas platt ausgedrückt, immer ‚politisch korrekt‘ ausdrücke, sondern dass ich in meinem Wesen, in meinem Handeln, auch außerhalb der Familie, authentisch bleibe und dass diese Authentizität auf irgendeine Weise abrufbar und auch überprüfbar ist.
Um es vielleicht noch deutlicher zu machen und um die Brücke zu meinem eigenen Vater zu schlagen, der noch am Leben ist: Der ist noch in der Endphase des britischen Imperialismus aufgewachsen, als noch ganz andere Werte galten. Da war einer der Hauptwerte diese Vorstellung von „Dienst“. Man steht, man lebt das Leben im Dienst der anderen – dafür ist man da. Also man ist da als Familienvater, um das Geld zu verdienen, indem man im äußeren Leben einen ordentlichen Beruf ausübt. Das „Selbst“ kommt dabei gar nicht so sehr ins Gespräch. Also es gibt eine bestimmte Schicht von britischen Männern, da wäre das allerletzte, worüber die sich unterhalten würden das eigene Selbst. Darüber spricht man quasi nicht, da geht es doch eher um dieses Dienstprinzip. Da habe ich mich als junger Mann und als junger Vater oft gefragt: Was ist eigentlich das authentische Selbst von meinem Vater hinter dieser Existenz im Dienst der anderen? Was ist sein authentischer Kern? Und da blieb mir oft nichts als ein Fragezeichen, das ist schon bemerkenswert.
PS: Ja, das ist sehr interessant und da haben wir anscheinend eine sehr ähnliche Erfahrung gemacht. Wir kamen ja auch schon im Vorgespräch kurz darauf zu sprechen, dass es heutzutage sehr schwierig geworden ist, ein authentisches Verständnis der eigenen Vaterschaft zu gewinnen, weil die vorhandenen Rollenbilder, an denen man sich in seinem eigenen Selbstentwurf orientieren und abarbeiten könnte, sehr fluide geworden sind. Früher war es sehr klar: Der Vater ist der, der das Geld verdient. Da gibt’s ja zum Beispiel diese Fernsehserie Breaking Bad, wo das mehrmals vorkommt: „A man provides“, „ein Mann versorgt“, selbst wenn ihn diejenigen, die er versorgt, noch nicht einmal respektieren oder lieben. Er kümmert sich gar nicht groß um die Kinder. Wir heute versuchen, ein anderes Verständnis zu entwickeln von einem anwesenden und sich kümmernden, liebevollen Vater.8
Bei meinem Vater war das nun sehr ähnlich wie bei deinem. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich für das Thema der ‚Authentizität‘ so interessiere. Man muss dazu wissen, dass mein Vater in der DDR groß geworden ist. Da gibt’s ja dieses Schlagwort vom „homo sovieticus“, das der sowjetische Philosoph und Dissident Alexander Sinowjew in den 80ern geprägt hat, um den extrem angepassten Menschentyp zu beschreiben, der in den Staaten der ‚sozialistischen Welt‘ gefordert und gefördert wurde. Quasi als hyperopportunistische Realisierung von Nietzsches Dystopie des „letzten Menschen“, der sich am Ende der Geschichte wähnt; ein Mensch ohne inneres Zentrum, der sich um Authentizität noch nicht einmal bemüht, sondern ganz im Dienst für das Gemeinwesen aufgeht.9 Ich glaube, dieses Konzept lässt sich auch auf die DDR anwenden. Noch stärker als im Westen war die Erziehung in der DDR sehr stark auf das Ideal des „Dienst“ ausgerichtet, ich finde dieses Stichwort sehr gut. Man sollte nicht von sich selbst ausgehen; es gab bestimmte gesellschaftliche Erwartungen und die sollte man erfüllen. Ich habe meinen Vater, der auch noch am Leben ist, auch immer als sehr unauthentischen Menschen wahrgenommen. Er ist nach wie vor ein Rätsel für mich in vielerlei Hinsicht, er ist ein sehr ironischer Mensch, der fast nie über seine Gefühle spricht und darüber, was ihn eigentlich umtreibt. Man hat den Eindruck, dass er eben kein gutes Verhältnis zu sich selbst hat, und das ist mir auch schon als Kind aufgefallen und hat mich auch, meine ich, dahin geführt zu versuchen, ein anderer Mann, ein anderer Vater zu werden. Mein Vater hat mir da insofern eher als negatives Beispiel eigentlich gedient, auch wenn ich ihm nichts vorwerfen will. Gerade, als ich ein kleiner Junge war, war er auch ein sehr guter Vater und hat sich durchaus viel gekümmert. Aber ich habe eben auch schon sehr früh dieses Defizit, diese Distanz zu ihm gespürt.
Und ja, es gibt zwischen diesen Themen ‚Authentizität‘ und ‚Vatersein‘ in der Tat eine enge Verbindung. In meiner Doktorarbeit taucht es jedenfalls oft auf, öfter, als ich es am Anfang meiner Forschungsarbeit für möglich gehalten hätte. Aber das führt uns vielleicht zu einem nochmal etwas anderen Männlichkeitsverständnis. Es gibt eben, wie bereits angedeutet, zum einen dieses Verständnis vom Mann als Diener, der sich für das Gemeinwesen opfert, wie es etwa Hegel artikulierte, aber dann eben auch das Verständnis vom Mann als jemand, der vollkommen stur nur an sich selbst denkt, der seine eigene Selbstverwirklichung über alles stellt. Und das ist eben die Vorstellung von Männlichkeit, die man bei Nietzsche eigentlich findet, und um die sein gesamtes Verständnis von Authentizität kreist – was aus meiner Sicht ein riesiges Problem darstellt. Man betrachte nur die folgende Stelle aus der Genealogie:
Dergestalt perhorreszirt [weist mit Abscheu zurück] der Philosoph die Ehe sammt dem, was zu ihr überreden möchte, – die Ehe als Hinderniss und Verhängniss auf seinem Wege zum Optimum. Welcher grosse Philosoph war bisher verheirathet? Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer – sie waren es nicht; mehr noch, man kann sie sich nicht einmal denken als verheirathet. Ein verheiratheter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und jene Ausnahme Sokrates, der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheirathet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstriren. Jeder Philosoph würde sprechen, wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohnes gemeldet wurde: „Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet“ (Râhula bedeutet hier „ein kleiner Dämon“); jedem „freien Geiste“ müsste eine nachdenkliche Stunde kommen, gesetzt, dass er vorher eine gedankenlose gehabt hat, wie sie einst demselben Buddha kam — „eng bedrängt, dachte er bei sich, ist das Leben im Hause, eine Stätte der Unreinheit; Freiheit ist im Verlassen des Hauses“: „dieweil er also dachte, verliess er das Haus“. Es sind im asketischen Ideale so viele Brücken zur Unabhängigkeit angezeigt, dass ein Philosoph nicht ohne ein innerliches Frohlocken und Händeklatschen die Geschichte aller jener Entschlossnen zu hören vermag, welche eines Tages Nein sagten zu aller Unfreiheit und in irgend eine Wüste giengen: gesetzt selbst, dass es bloss starke Esel waren und ganz und gar das Gegenstück eines starken Geistes. Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei einem Philosophen? Meine Antwort ist – man wird es längst errathen haben: der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint nicht damit „das Dasein“, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fiam!…10
Es gilt also: Wenn auch die Welt zugrunde ginge, die Philosophie soll leben, der Philosoph soll leben, ich soll leben. Ich denke, in diesem Zitat steckt ganz viel von Nietzsches Freiheits- und Authentizitätsverständnis drin, was eben gar nicht mit der Vaterschaft vereinbar ist. Der Sohn wird hier nur als „kleiner Dämon“ beschrieben – und es gibt viele derartige Stellen, aus denen eindeutig hervorgeht, dass Nietzsche, der ja auch selbst bekanntermaßen kein Vater war, davon auch gar nichts wissen will. Er hält das Vatersein mit der philosophischen, aber auch der authentischen Existenz für vollkommen unvereinbar.
IV. Philosophen als Väter – eine gute Idee?
HH: Ja, das ist eine interessante Passage. Wobei Nietzsches These empirisch gesehen anfechtbar ist. Hegel hatte etwa zwei legitime Söhne und einen weiteren unehelichen,11 Marx hatte sogar sieben Kinder mit seiner Frau Jenny, wovon drei das Erwachsenenalter erreichten.12 – Wobei es strittig ist, ob Marx auch ein guter Vater war.
PS: Ich würde Nietzsche da ein Stück weit in Schutz nehmen wollen. Es ist schon auffällig, dass es so viele Philosophen gibt, die kinderlos geblieben sind, teilweise als Junggesellen gelebt haben, teilweise vielleicht ein Kind hatten.13 Also du mit deinen vier Kindern bist da auf jeden Fall schon auffällig, würde ich sagen. Heutzutage noch mehr. Aber im 18./19. Jahrhundert war es ja eher die Regel, dass man fünf oder sechs Kinder hatte, sehr große Familien – und da waren die Philosophen dann doch meistens eher eine Ausnahme. Dass dem so ist, hat natürlich auch wieder mit dem Bild zu tun, dass der Mann der Versorger der Familie sein soll und klar – wie auch heute noch, aber damals war’s eben auch nicht sehr anders –, dieser Pflicht nachzukommen fällt Philosophen oft sehr schwer.
HH: Wobei ich mich gar nicht als Philosophen bezeichnen würde, sondern als jemanden, der sich für Philosophie interessiert und damit arbeitet! – Meine Antwort jedenfalls auf diese Nietzsche-Passage wäre, um es etwas ökonomischer und neutraler anzugehen, dass er, wenn er in einem bürgerlichen Haushalt mit Ehe und Kindern gelebt hätte, so einfach nicht hätte schreiben können. Sein Schreibstil, der Schreibprozess, seine Texte wären anders geworden. Diese Arbeitsweise, die von sehr kurzen Perioden der nächte- und tagelangen Produktivität geprägt war und dann langen Phasen, in denen Nietzsche so stark unter seinen Krankheitssymptomen litt, dass er rein gar nichts zu Papier bringen konnte – diese ‚Ökologie‘ könnte ein Vater in einem halbwegs ‚normalen‘ Umfeld unmöglich so durchziehen. Den umgekehrten Fall hat man etwa bei den Familienvätern Hegel und Marx, deren Hauptwerke viel langsamer zustande kamen und entsprechend auch viel gesättigter sind, eine ganz andere Form und Stringenz aufweisen.
Bezogen auf Nietzsches Behauptung, dass so viele große Philosophen unverheiratet geblieben sind, möchte ich einfach die klassische marxistische Frage stellen: Wer hat dann die Reproduktionsarbeit gemacht? Also nicht nur im Sinne von dem Kinderkriegen und der Erziehung, sondern auch: Wer hat das Mittagessen gekocht? Wer hat geputzt? Wer hat die Wäsche gewaschen? Und die Antwort auf diese Frage, auch im Falle Nietzsches, wird niemanden überraschen: Es waren zu 95 % Frauen, meist ungenannte. Ich denke etwa an Alwine Freytag, die langjährige Dienerin im Haushalt der Mutter, die dabei half, Nietzsche in seinen letzten Jahren zu pflegen – wer kennt die schon? Es gibt immer mehrere Menschen, die diese ganze reproduktive Arbeit im Hintergrund erledigt haben, so dass der „große Philosoph“ seine Werke schreiben konnte.
Das ist für manche vielleicht selbstverständlich, doch geht es in der Philosophiegeschichtsschreibung oftmals doch verloren. Und darin liegt, glaube ich, auch begründet, warum wir solche Werke wie diejenigen Nietzsches vielleicht nicht mehr sehen werden. Es gibt einfach keine Frau und keinen Mann, niemanden, der sich so eine Lebensführung noch leisten könnte – das meine ich nicht rein ökonomisch, sondern von der Haltung her, wofür man sich selbst verantwortlich fühlt und wofür nicht.
PS: Ja, Nietzsche war viele Jahre lang auf die Pflege von Frauen vollkommen angewiesen, als Kind sowieso und dann, als er geistig umnachtet war, wieder. Kürzlich habe ich erst bei der letzten Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft14 einen sehr interessanten wie auch unterhaltsamen Vortrag gehört über den, gescheiterten, Plan Nietzsches, sich einen tragbaren Ofen zu kaufen, gehalten von Ralf Eichberg. In dem wurde anhand des Briefwechsels zwischen seiner Mutter und ihm sehr deutlich, dass es allerdings auch ein Problem für den Rentier Nietzsche war, dass er sich Dienstboten nicht so richtig leisten konnte, aber zur gleichen Zeit auch einfach nicht kochen konnte – sehr zur Besorgnis seiner Mutter. So privilegiert war seine Position also nicht – aber prinzipiell gebe ich dir natürlich Recht. Das gilt ja ganz allgemein, dass die philosophische Arbeit seit Jahrhunderten zu einem großen Teil auf der Arbeit von Frauen im Hintergrund beruht, sei es als Dienstbotinnen, aber auch als Sekretärinnen oder sogar ungenannte Co-Autorinnen.
Wenn es nun um die heutige Philosophie geht, ist das natürlich die Frage: Ist ein Fortschritt oder vielleicht auch ein Rückschritt? Ja, Nietzsches extravaganter Schreibstil hat etwa mit der fast schon stereotypen Männlichkeit zu tun, die er in seinen Werken nicht nur propagiert, sondern die dieser Stil auch selbst performiert. Nur ist es eben eine unreife, puerile Männlichkeit. In der Rede Von alten und jungen Weiblein, die wie bereits zitierten, geht ja eigentlich hervor, dass die Frauen nicht nur Kinder bekommen und erziehen sollen, ihre Aufgabe ist umfassender:
Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andre ist Thorheit.
Allzusüsse Früchte – die mag der Krieger nicht. Darum mag er das Weib; bitter ist auch noch das süsseste Weib.
Besser als ein Mann versteht das Weib die Kinder, aber der Mann ist kindlicher als das Weib.
Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!
Ein Spielzeug sei das Weib[.]
Also in Nietzsches Vorstellung bleibt der Mann zeitlebens ein Kind, soll auch gar nicht erwachsen werden. Und klar: Diese Kindlichkeit, diese Unreife, die man sich bewahrt, kann, wie im Falle Nietzsches und in vielen anderen Fällen auch, ein großes kreatives Potenzial freisetzen. Aber ich meine schon, dass es der Philosophie auch nicht schlecht tut, von einer etwas reiferen und verantwortungsvolleren Haltung auszugehen, wie man sie als Vater ja automatisch an den Tag legen und entwickeln muss. Das würde ich auch für mein eigenes Denken, für meine eigene philosophische, intellektuelle Arbeit so sagen. Also es ist natürlich ein Verlust, Vater zu werden, nicht nur ein Zeitverlust, quantitativ gesehen, sondern auch qualitativ gesehen ein Konzentrationsverlust. Man kann eben nicht mehr nächtelang durchschreiben, wenn man jeden Morgen vom Kind geweckt wird oder es in die Kita bringen muss. Man wird mehr und mehr in eine verantwortungsvolle und auch sorgende Position gedrängt, die dem Denken jedoch nicht unbedingt hinderlich ist, sondern eher zu einer Vertiefung des Denkens führt, mit der insbesondere einhergeht, weniger stark von sich selbst her zu denken, sondern sich wirklich auf diese Beziehung zum anderen Wesen einzulassen – und ich sehe das eigentlich sowohl für mich als Person als auch für mich als Intellektuellen eher als große Bereicherung und als Gewinn des Vaterseins. Es stimmt einfach nicht, wie Nietzsche mantrahaftig verficht, dass eine „große Kultur“ notwendig nur so beschaffen sein kann, dass sich eine kleine Kaste von „Herren“ unbesorgt um die kleinen Dinge des Lebens auf dem Rücken von Millionen „Sklaven“ und vor allem eben „Sklavinnen“ auslebt – dies führt zu einer kastrierten Kultur, dies führt genau zu jener Dekadenz und Lebensfremde, vor der Nietzsche so wortreich warnt; und genau weiß, dass er das selbst ist: Ein typischer décadent, das tragikomische Ergebnis eines letzten Aufblühens einer schon zu seiner Zeit im Untergang befindlichen Kultur, die auf Ausbeutung und Abtrennung basierte. Der Ausweg aus der kulturellen Dekadenz kann nur in einer nichtdekadenten Lebensführung liegen – hinein in die Produktion und eben auch die Reproduktion; Überwindung der Trennung von Kopf- und Handarbeit – doch Nietzsche vermochte eine solche Option allenfalls zu erahnen, wenn er neidisch auf die „gebärende“ Fähigkeit der Frau blickt und sie zur Metapher authentischer kreativer Schöpfung erhöht. Als fürsorgender Vater hätte er daran auch auf einer ganz nichtmetaphorischen Ebene teilhaben können. – Wobei ich das nicht als moralische Kritik verstanden wissen möchte, schließlich wäre Nietzsche ein anderes Leben angesichts seiner Krankheit ja kaum möglich gewesen.

V. Nietzsches persönliche Erfahrungen
HH: Ja, dieses Stichwort vom ‚Denken über die Beziehungen zu anderen Menschen‘ möchte ich gerne aufgreifen. Wobei ich mich schwer tue, Nietzsches Stil und Haltung als ‚unreif‘ zu bezeichnen. Das ist tatsächlich eine Herausforderung, denn wenn man dieses ‚Halbgare‘ und ‚Unreife‘ nicht hätte, wäre es wiederum nicht Nietzsche, sein Werk hätte nicht dieses Authentische, was es so einzigartig macht. Es ist eben wirklich Nietzsches Werk.
Aber zurück zum Denken in und über Beziehungen. Dieses tiefere Denken in und über Beziehungen zu anderen Menschen oder über die Gesellschaft, über politische Formen – da würde ich zum Beispiel schon sagen, dass da Hegel mehr zu sagen hat als Nietzsche, wenn es etwa um das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Staat geht, was, wie ich glaube, ein wichtiges philosophisches Thema bleibt. Nietzsche ist an einem genuinen Gesellschaftsdenken gar nicht interessiert, das ist nicht sein Thema.
Wie du ja schon angedeutet hast: Nietzsche hat eben, ganz im Sinne seiner Lehre vom amor fati, aus der Not eine Tugend gemacht. Nietzsche hatte es sehr schwer in menschlichen Beziehungen. Er pflegte kaum solche, die man überhaupt in irgendeinem Sinne als ‚normal‘ bezeichnen könnte, erst recht nicht, wenn sie irgendeine sexuelle Komponente hatten. Das zeigt vielleicht am deutlichsten seine kurze Freundschaft mit Lou Salomé. Ihm ging vielleicht einfach die Fähigkeit dazu ab, langanhaltende Beziehungen zu führen, vor allem romantische und erst recht erotische – und ihm gelingt es, aus diesem Zufall eine ganze Philosophie zu schaffen. Diese Umwertung von philosophischen Zufällen zu Philosophenem scheint mir ein allgemeines Charakteristikum von Nietzsches Werk zu sein. Warum auch nicht? Aber das wirft natürlich die Frage auf, was andere Menschen daraus machen können.
Vielleicht sollten wir vor diesem Hintergrund auch auf Nietzsches eigenes Verhältnis zu seinem Vater zu sprechen kommen. Das scheint mir für unser Thema ganz zentral zu sein. Dieser starb ja, als Nietzsche fünf Jahre alt war, also wirklich sehr früh. Diese Beziehung war aber durchaus intensiv. Der kleine Nietzsche war der einzige, dem es erlaubt war, sich im Arbeitszimmer seines Vaters aufzuhalten, während dieser, ein evangelischer Pastor, seine Predigten geschrieben und sich um die schriftliche Gemeindearbeit gekümmert hat. Vielleicht, weil er im Gegensatz zu vielen anderen Kleinkindern sehr ruhig gewesen ist, nicht so arg gestört hat. Wobei das ja auch auffällig ist. Es gibt wenige Anzeichen dafür, dass der kleine Nietzsche viel mit anderen Kleinkindern gespielt und sich ausgetobt hat. Heutzutage hätte ihn sein Vater vielleicht eher zum Therapeuten mitgenommen – und der frühe Tod des geliebten Vaters hat diese ungewöhnliche Veranlagung beim kleinen „Friedrich“ sicher noch verstärkt.
Es gibt da ein für unser Thema sehr einschlägiges Zitat, das vom Verlassenwerden durch den eigenen Vater handelt, von dessen Abwesenheit und davon, wie sehr diese Erfahrung den frühen Nietzsche prägte. Es handelt sich um eine Kindheitserinnerung von Nietzsche, die er kurz vor seinem 14. Geburtstag niederschrieb, in einer der bemerkenswert zahlreichen autobiographischen Schriften aus seiner Jugendzeit. Es geht darin um die Zeit nach dem Tod seines Vaters und den kurz darauf folgenden Tod seines kleinen Bruders Ludwig Joseph:
In der damaligen Zeit träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbnis. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzem mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Öffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschall und ich erwache. – Den Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josephchen unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt.15
Klar, man kann nicht wissen, ob das eine echte Erinnerung ist und wie viel Nietzsche da schon als Jugendlicher poetisch hinzugedichtet hat angesichts seiner lyrischen Neigung. Aber trotzdem ist eine Erinnerung, in der es darum geht, verlassen worden zu sein und um Abschied – und sie wirft bei mir die Frage auf, wie sehr das Nietzsche auf eine Philosophie gebracht hat, die sich sehr um den „starken Einzelnen“ dreht, in der es zur Tugend gemacht wird, dass man sich abkapselt, dass man sich nicht auf den anderen verlassen sollte, dass man als Mann nicht heiraten und eben keine Kinder bekommen sollte. Und da scheint mir ein diametraler Gegensatz zu unserem Verständnis von Vaterschaft bestehen, in dem es vor allem darum geht, für das Kind da zu sein, für Gespräche da zu sein, aktiv mit dem Kind zu spielen, also die Gestaltung einer aktiven Beziehung zum Kind.
PS: Ja, die Abwesenheit des Vaters wird ja in so gut wie allen biographischen Texten zu Nietzsche als wesentlicher Faktor seiner persönlichen Entwicklung angegeben und ich bin auch ganz einverstanden damit. Vielleicht gibt es in der Tat auch, natürlich unbewusst, verdrängt, viel Enttäuschung und Wut, mit Nietzsche selbst gesprochen: Ressentiment, gegenüber dem Vater. Denn als Kind erlebt man ein solches Ereignis womöglich gar nicht so sehr als Schicksalsschlag, sondern so, als hätte einen das verstorbene Elternteil bewusst im Stich gelassen. Mit dieser Erfahrung hat man das ganze Leben lang zu kämpfen. Und auch im Falle Nietzsches mag das ein entscheidender Grund sein, warum er ja, man muss es so deutlich sagen, wirklich generell scheitert in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Also was ich an dieser Stelle auch ganz klar betonen möchte: Ich bin natürlich nicht der Auffassung, dass man unbedingt Vater werden muss, um als Mann in ein fürsorgliches, verantwortungsvolles Verhältnis zu anderen zu treten, es gibt da natürlich viele andere Formen, das zu realisieren. Die Vaterschaft ist eine davon, eine romantische Zweierbeziehung natürlich auch, es gibt da sehr viele Möglichkeiten. Aber man kann bei Nietzsche ja durchaus davon sprechen, dass er in dieser Hinsicht ganz generell versagt hat. Also es gibt kein Beispiel fast in seinem Leben für eine wirklich gelungene zwischenmenschliche Beziehung über einen längeren Zeitraum auf Augenhöhe – was natürlich absolut traurig ist, aber auch ein gewisses Licht auf sein Denken werfen sollte.
Und dann gibt es auch noch diese etwas komische Geschichte mit Lou Salomé. Da liegt es ja nahe, Nietzsche zu kontern: Er sagt, der verheiratete Philosoph gehöre in die Komödie – aber noch viel mehr gehört ja dorthin vielleicht der Philosoph, der eine größere Anzahl von gescheiterten Heiratsanträgen hinter sich hat. Also er wollte es jedenfalls zeitweilig durchaus. Wobei man hier auch sehen muss, dass aus Briefen immer wieder hervorgeht, dass er sich vor allem auch aus pragmatischen Gründen verheiraten wollte, um materiell besser versorgt zu sein – oder auch, um quasi eine ‚kostenlose Pflegerin‘ oder Assistentin zu haben. Wobei das im Falle Lou Salomés sicherlich noch etwas Anderes ist, die sah er durchaus auch als Austauschpartnerin auf Augenhöhe und wahrscheinlich auch als romantisch-erotisches Objekt der Begierde in irgendeiner Form – wobei ich jetzt das Thema von Nietzsches genauer sexueller Orientierung gar nicht aufmachen will, zumal es auf unserem Blog ohnehin schon ausgiebig thematisiert wurde.16 Aber der Pragmatismus, bisweilen geradezu Zynismus, in Sachen Ehe, den er in seinen Briefen bisweilen durchscheinen lässt, spricht jedenfalls nicht gerade für ihn.17
Aber, wie immer bei Nietzsche: Auch bei diesem Thema gibt es eine Stelle im Werk, wo er genau das Gegenteil vertritt. Ich habe wenigstens eine einzige gefunden aus seiner mittleren Schaffensphase, eine kurze Notiz aus dem Nachlass von 1881, wo es heißt:
Nachkommen haben – das erst macht den Menschen stätig, zusammenhängend und fähig, Verzicht zu leisten: es ist die beste Erziehung. Die Eltern sind es immer, welche durch die Kinder erzogen werden, und zwar durch die Kinder in jedem Sinne, auch im geistigsten. Unsere Werke und Schüler erst geben dem Schiffe unseres Lebens den Compaß und die große Richtung.18
Sofern ich nichts übersehen habe, hat es diese Stelle eben auch nicht ins veröffentlichte Werk geschafft, aber ich finde sie wirklich großartig. Sie entspricht auch meiner eigenen Haltung viel eher als die fast schon etwas gruselige Passage aus der Genealogie, aus der ich oben zitiert habe. Dass auch die Kinder den „Erzieher erziehen“, dass Erziehung generell als ein Wechselspiel verstanden werden muss, als ein Reifungsprozess, in dem auch die Eltern erst reif werden – das finde ich schon einen sehr klugen Gedanken. Das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung auch auf jeden Fall bestätigen, dass das so ist, und ich würde daher schon behaupten, dass es Nietzsche sehr gut getan hätte, diesen weiteren Schritt der Erziehung noch machen zu dürfen. Wie gesagt: Das ist keine moralische Kritik, das war ja eher sein Schicksal und er hat es sicherlich verstanden, aus diesem Schicksal das Beste zu machen und hat sich dann eben ex post eine philosophische Rechtfertigung dafür überlegt. So, wie die meisten Philosophen.
Ich sehe da zwei mögliche Szenarien. Einmal, dass Nietzsche als Vater aufgehört hätte, sich mit philosophischen Themen zu beschäftigen und sich wirklich nur noch ums „Versorgen“ gekümmert hätte – oder, dass er seine Philosophie trotzdem weitergeführt hätte und vielleicht wären sogar noch bessere Bücher dabei herausgekommen, wenn es ihm gelungen wäre, diesen kindlich-narzisstischen Aspekt, den er auf jeden Fall sehr stark hat, und eine etwas verantwortungsvollere Sichtweise auf die Gesellschaft, auf das große Ganze, in die man als Vater ja geradezu hineinerzogen wird, zusammenzuführen. Vielleicht wäre er dann wirklich der größte Philosoph des 19. Jahrhunderts geworden. Es ist möglich, oder?
HH: Ja, es ist möglich und mir gefällt dieses Gedankenspiel sehr. Wobei ich natürlich die zweite Option präferieren würde. Wenn er jemanden gefunden hätte, auf Augenhöhe, wenn ihm das gelungen wäre, wäre bestimmt ein sehr anderes Werk entstanden, vielleicht ein wesentlich reiferes Werk.
Was ich an dieser Stelle noch wichtig finde zu erwähnen: Was waren eigentlich Nietzsches Begegnungen als Erwachsener mit kleinen Kindern? Da gibt es nicht viele, alle nennenswerten Begegnungen fanden im Haushalt der Wagners statt, ab 1869, als Nietzsche gerade seine Professur in Basel angetreten hatte und regelmäßig in den Landsitz der Wagners im naheliegenden Tribschen eingeladen worden war. Cosima war zu diesem Zeitpunkt noch mit ihrem ersten Mann Hans von Bülow verheiratet, aber Richard Wagner und sie waren bereits seit 1864 liiert und lebten seit 1867 zusammen, hatten sogar mit der Gründung einer gemeinsamen Familie begonnen mit zwei Töchtern, Isolde (geb. 1865) und Eva (geb. 1867). Im Mai 1869 besuchte Nietzsche Tribschen zum ersten Mal und schon im Juni kam Siegfried, das dritte gemeinsame Kind des Paares, zur Welt. Und hier wird nun interessant: Die Biographin Sue Prideaux19 stellt es tatsächlich so dar, dass Nietzsche so lebensfern im Alltag gewesen ist, dass er es quasi nicht mitbekommen hat, dass Cosima schwanger war, als er die Wagners im Mai besuchte – was schon ein Kunststück gewesen wäre, eigentlich kann das gar nicht so gewesen sein. Und es sei sogar so gewesen, dass Nietzsche dort war in der Nacht, als Siegfried geboren wurde, und er habe das einfach gar nicht mitbekommen, nicht einmal die Schreie, die damit sicherlich einhergegangen sind. Er habe die Geburt erst realisiert beim Frühstück, als der neue Anwesende nicht mehr zu übersehen war. – Soweit jedenfalls die Version der Ereignisse, wie Prideaux sie erzählt. Und auch wenn das möglicherweise eine Übertreibung ist, spiegelt diese Anekdote doch sehr gut etwas wider von Nietzsches großer Weltfremdheit.
PS: Ja, er war bestimmt nicht die alleremphatischste Persönlichkeit, hat immer etwas in seiner eigenen Welt gelebt, das kann man sich sehr gut vorstellen.
HH: Wobei Cosima und vor allem Richard später zusammen ernsthaft mit dem Gedanken spielten, dass Nietzsche eine Art Erzieherrolle für Siegfried übernehmen sollte. Im Jahr 1872 äußert Wagner in zwei Briefen Nietzsche gegenüber solche Planspiele und geht dabei so weit, angesichts seines fortgeschrittenen Alters Nietzsche als eine Art Ersatzvater für „Fidi“ ins Spiel zu bringen – und entsprechend Nietzsche selbst als Ersatzsohn Wagners.20 Allerdings zeigte Nietzsche daran kein Interesse, denn beide Male ignorierte er das Ansinnen seines „geliebten Meisters“, wie er Wagner in dieser Zeit noch nannte, einfach.21 Also es scheint so, dass Nietzsche seine wiederholten Besuche in Tribschen inmitten eines Haushalts von kleinen tobenden Kindern doch genossen hat, dass er jedoch keinen Weg gefunden hat, diese Erfahrung in seiner eigenen Biographie weiter zu vertiefen.
PS: Ja, ich glaube, eine solche Beziehung zu einem Kind aufzubauen hätte Nietzsche auf jeden Fall gutgetan. Wobei man hier auch sehen muss: Die Wagners hatten Nietzsche gegenüber nicht immer die besten Intentionen. Christian Saehrendt spricht in einem Artikel über die Beziehung Nietzsche/Wagners auf unserem Blog auch von einer „schrecklich netten Familie“, in die der junge Professor sich da begab. Vielleicht ging es Richard Wagner auch bei diesem Plan darum, Nietzsche einfach nur auszunutzen – aber vielleicht hatte er auch gespürt, dass es Nietzsche gefördert hätte, in eine Art Vaterrolle zu schlüpfen.
HH: Ich denke, wir sollten von guten Absichten ausgehen, auch wenn schlechte natürlich nicht auszuschließen sind. Festzuhalten ist jedenfalls, dass es durchaus diese Phase gab, in der Nietzsche als ‚Hausfreund‘ der Wagners regelmäßig Kontakt mit kleinen Kindern hatte – aber dass er diese Gelegenheit nutzte, um eine intensive Beziehung aufzubauen, etwa zu dem jungen Siegfried, ist unwahrscheinlich. Siegfried Wagner wird in Nietzsche wohl kaum irgendeine Art von Vaterfigur wahrgenommen haben; es blieb bei einem Gedankenspiel. – Vielleicht führt es uns an dieser Stelle weiter, darauf einzugehen, was Nietzsche über die Kindheit im Allgemeinen schrieb.

VI. Nietzsches Bejahung der Kindheit
PS: Ja, auf dieses Thema sollten wir unbedingt noch zu sprechen kommen! Es ist ja wirklich bemerkenswert, dass Nietzsche mit realen Kindern so gut wie nie zu tun hatte, aber sicher zu den Denkern zählt, die zum Thema Kindheit und auch Schwangerschaft die schönsten Sachen gesagt haben.
Die Schwangerschaftsmetapher findet sich vor allem in Also sprach Zarathustra. Sie hat natürlich eine frauenfeindliche Komponente in dem Sinne, dass Nietzsche, wie wir es ja schon thematisiert haben, eben von einer strikten Zweiteilung der Geschlechter in dieser Hinsicht ausgeht und beide in einer bestimmten Rolle fixiert. Aber man muss auch sagen, dass Nietzsche das Gebären zugleich extrem aufwertet und als Metapher für die Fähigkeit zu einer kreativen Schöpfung an sich ansieht. Auch Männer können bei ihm in diesem Sinne „gebärende“ sein und Kinder bekommen, auch Zarathustra oder er selbst. Die feministische Interpretin Caroline Picart spricht vor diesem Hintergrund sogar von „Nietzsches unheilbarem Gebärneid [womb envy]“22. Es handelt sich also in gewisser Hinsicht um eine Abwertung, aber eben auch eine Aufwertung und es gibt einen ganz Strang in der weiblich-feministischen Nietzsche-Rezeption, in der sich die Frauen positiv auf diese Seite von Nietzsches Werk beziehen, ausgehend interessanterweise bei Lou Salomé bis hin zur wichtigen differenzfeministischen Theoretikerin Luce Irigaray.23
Aber noch wichtiger für unser Thema ist die Metapher des Kindes. Hier gibt es zahlreiche tiefschürfende Stellen im Werk Nietzsche, die mich als Vater immer wieder inspiriert haben, und die eigentlich nur dadurch zu erklären sind, dass Nietzsche Zeit seines Lebens eben ein ‚großes Kind‘ geblieben ist, sich eine große Kindlichkeit bewahrt hat und aus diesem Grunde eben sehr gut über die Kindheit schreiben konnte, auch wenn ihm die empirische Erfahrung gefehlt hat. Ich denke, um nur eines von zahllosen Beispielen zu nennen, an diesen berühmten Satz aus Jenseits von Gut und Böse: „Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel.“24 Das ist natürlich ein spezieller Begriff von „Reife“, aber wenn ich meinen Sohn beim Spielen beobachte, schießt er mir immer wieder durch den Kopf und er besitzt schon auch eine Wahrheit. Kinder sind ja manchmal so unglaublich vertieft in ihre Spiele, sie nehmen sie so wichtig. Der Erwachsene macht sich darüber oft lustig und interpretiert dieses Ernstnehmen des Unwichtigen als kindisch und unreif – doch beneidet er das Kind nicht auch um diese Fähigkeit und sind wir Erwachsenen so anders, wenn wir uns für etwas begeistern?
Und auch zu diesem Aspekt gibt es zahllose Passagen im Zarathustra. Es gibt da etwa eine Stelle aus dem Buch, die auch die schwedische feministische Autorin Ellen Key (1849-1926) ihrem Buch Das Jahrhundert des Kindes (1900), ein Klassiker der Reformpädagogik, als Motto voranstellte:
Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen!
An euren Kindern sollt ihr gut machen, dass ihr eurer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!25
Das könnte man interessanterweise sogar als Plädoyer für die Vaterschaft interpretieren,26 aber es ist vor allem als Plädoyer für die Kindheit zu verstehen. Dass man die Offenheit und Kreativität der Kinder fast schon als Vorbild nehmen soll für eine schöpferische, lebensbejahende Haltung. Und es gibt auch zig Stellen, wo das spielende Kind eigentlich sowohl als Metapher für den schöpferischen Menschen, der auf dem Weg zum Übermenschen ist, als auch für den Übermensch selbst fungiert.27
Klar, das ist ein romantisierendes Verständnis von Kindheit, das man als realer Vater vielleicht auch nicht zu 100 % teilen mag – und Nietzsche weiß darum auch28 –, aber grundsätzlich sind das großartige Sätze, die uns dazu ermuntern sollten, die eigene Kindlichkeit auch als Väter nicht ganz zu verlieren und vielleicht auch von unseren Kindern zu lernen, unsere eigene Kindlichkeit neu zu entdecken, das ist ja auch eine Seite des Vaterseins, oder?
HH: Ja, diese Unvoreingenommenheit oder auch Unverdorbenheit, diese Fähigkeit, sich vollkommen im Spiel zu verlieren, die wir vor allem bei kleineren Kindern beobachten, das findet sich auch in vielen von Nietzsches Texten. Ich glaube, was ihn auszeichnet im Vergleich zu vielen anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern – und ich neige dazu, Nietzsche tatsächlich eher mit besonderen Schriftstellern als mit anderen Philosophen zu vergleichen, ich sehe ihn immer mehr zuerst als Künstler und erst nachrangig als Philosophen: Er hat oft ganz wenig Selbstzensur, ganz wie kleine Kinder. Das erleben wir immer wieder mit unserem sechsjährigen Louis, diese völlige Offenheit selbst Fremden gegenüber in der Mitteilung. Er trifft etwa im Zug eine völlig unbekannte Person und plaudert einfach drauf los über Details aus dem Familienleben, die kein Erwachsener jemals geradeaus einfach so erzählen würde – denn die allermeisten Erwachsenen habe doch eine gewisse Selbstzensur verinnerlicht, wir überlegen uns schon ziemlich genau, was gesagt werden darf und was nicht. Vor allem, wenn wir schreiben, erst recht, wenn es etwas ist, was in Richtung Wissenschaft geht, dann überlegen wir noch genauer, dann arbeitet diese Selbstzensur noch stärker. Ich denke da oft an George Orwells Einsicht, dass diese Selbstzensur noch viel mächtiger ist als die Zensur selbst, also das, was wir selbst herausfiltern, bevor wir einen Text überhaupt abgeben.29
Und das ist das Großartige bei Nietzsche: Natürlich hat er seine Texte sorgfältig überarbeitet, bevor sie in den Druck gingen, aber trotzdem wirken sie so, als ob er geradeaus erzählt, als würde er keinerlei Selbstzensur vornehmen, völlig authentisch sprechen. Und das kann natürlich in beide Richtungen ausschlagen – manchmal bringt ihn diese Offenheit dazu, ganz furchtbare Sachen zu schreiben, manchmal aber auch zu echten Weisheiten und Juwelen. Das ist fast das Größte, was wir von Kindern lernen können.
Und ich mag auch diesen Gedanken aus dem anderen Zitat, dass die Kinder die Erzieher der Erwachsenen sind. Das ist wirklich ein großartiges Motiv. Und ich finde das nicht romantisierend, es ist schon real. Die Herausforderung besteht eben darin, das im Alltag auch authentisch zu leben. Was zum Beispiel unser Louis mit mir oft machen will, weniger mit meiner Frau Rebecca, das ist der von ihm so genannte toy fight, ‚Spielkampf‘. Er will das oft direkt nach dem Aufstehen machen, so gegen halb 7, schon vor dem Frühstück. Das heißt vor allem, schon ziemlich wild auf Papa rumzuspringen. Natürlich gibt es ein paar Spielregeln, also es darf nicht gekratzt, nicht gebissen, nicht an den Haaren gezogen werden und auf bestimmte sensible Bereiche darf man auch nicht hauen – aber bis auf diese vier Grundregeln ist es relativ regellos, man darf mehr oder weniger alles machen und das ist wieder eine Gelegenheit, ein unzensiertes Selbst zu leben, was zur Entwicklung eines authentischen Selbst beitragen kann. Ich denke, das ist schon etwas, was uns, egal, ob wir Väter sind und Kinder haben oder nicht, im Alltag fehlt, weil er so wahnsinnig durchstrukturiert und durchterminiert ist. Und auch die Digitalisierung hat die erhoffte Befreiung nicht gebracht, eher das Gegenteil ist der Fall. Unsere Zeit ist einfach immer mehr ökonomisiert, alles soll planbar sein. Und ich glaube schon, dass uns unsere Kinder die Möglichkeit geben, uns davon, und wenn es nur für 20 Minuten ist, zu befreien, immer wieder zu befreien – und das ist etwas, was ich nicht gerne missen würde.

VII. Noch einmal: Männlichkeit und Weiblichkeit
PS: Ja, dem kann ich mich nur anschließen; ich habe da eine ganz ähnliche Erfahrung. Wo ich gerne nachhaken würde im Hinblick auf das Thema Gender und Geschlechterrollen: Das ist eben auch interessant, wie Kinder schon sehr intuitiv den Eltern verschiedene Rollen zuweisen und an sie unterschiedliche Erwartungen herantragen. Auch bei uns ist so – und das geht nicht, jedenfalls nicht bewusst, von uns aus –, dass von meiner Partnerin und mir sehr verschiedene Dinge erwartet werden. Von mir auch vor allem dieses Kämpfen, das läuft bei uns fast genau so ab, da wird auch immer viel „gekämpft“ – aber das will Jonathan fast nur mit mir machen. Manchmal auch mit Luise – was aber natürlich gerade jetzt, wo sie hochschwanger ist, nicht besonders gut funktioniert –, aber vor allem mit mir will er kämpfen und ‚kämpferische Dinge‘ machen, die eher stereotyp männlich sind, während er mit Luise eher auch mal ausgiebig kuschelt, knutscht, eben eher zärtliche Dinge macht. Bei ihm und mir ist es hingegen so, dass er solche Dinge gar nicht unbedingt machen möchte und mir das auch zu verstehen gibt – was natürlich auch vollkommen in Ordnung ist, selbst wenn es mich mitunter ein wenig kränkt.
HH: Genau auch bei uns gibt es „toy fighting“ nur mit mir, Rebecca sagt da auch einfach „Nein“ und hat keine Lust drauf – dafür macht sie wahnsinnig viele andere Sachen mit Louis. Man kann hier von „Stereotypen“ sprechen, aber man könnte es, philosophisch betrachtet, auch anders nennen. Man könnte ihr etwa den Begriff „Archetyp“ ins Spiel bringen – bewegt sich dann aber gleich auf dünnem Eis. Vielleicht neutraler gesagt: Viele spezifische Verhaltensweisen bleiben gegendert, ob wir das wollen oder nicht, das ist eben unser kulturelles Erbe. Ein konkretes Beispiel: das Stricken. Vielleicht sind die Kreise, in denen ich mich bewege, die falschen und nicht progressiv genug, aber ich kenne keinen einzigen Mann, der strickt. Natürlich habe ich Fotos von solchen Männern gesehen, aber ich kenne keinen. Ich kenne hingegen eine Reihe von Frauen, die stricken – Rebecca etwa strickt sehr gut, sie macht wahnsinnig tolle modische Pullis und sowas, die fast schon Kunstwerke sind. Sie hat auch Louis das Fingerstricken beigebracht, er kann zum Beispiel kleine Schals oder so etwas selber machen – das ist ein ganz reales Können, eine Fähigkeit. Also das sind Fertigkeiten, die von Natur aus keinem Geschlecht angehören, die aber auch kulturellen Gründen nur einem Geschlecht zugeordnet und entsprechend tradiert werden.
Und vielleicht ein weiteres Beispiel anzuführen, auch wenn es vielleicht etwas profan ist: In Großbritannien gibt es die „Ladybird Books“, das sind kleinformatige Bücher für kleine Kinder, vergleichbar vielleicht ein wenig mit den deutschen Pixi-Büchern, die eine Massenauflage gehabt haben. Also alle Mittelschichtskinder in meiner Generation haben die gehabt, die hatten einfach eine gute Qualität und sehr gute Illustrationen – aber viele waren in den 1950er- und 1960er-Jahren geschrieben worden und fallen daher sehr stark in die Gender-Stereotype hinein, sowohl, was die Mädchen und Frauen als auch, was die Jungen und Männer angeht. Da werden wirklich alle Klischees bedient. Kürzlich hat der Verlag, quasi als postmodernen Witz, was rausgebracht, das nennt sich „Ladybirds for Grown-Ups“, für Erwachsene also,30 das nimmt diese ganze Sache etwas auf den Arm, da gibt es etwa ein Buch, das heißt einfach nur The Dad. Da steht der Vater stereotyp am Grill und da steht so etwas wie – die Texte sind wie in echten Kinderbüchern sehr kurz: „Das ist der Papa. Er wirkt kompliziert, doch er lebt einfach nur von Bier und Würsten.“ Mehr steht da nicht. Meine Frau Rebecca und ich finden das tatsächlich sehr witzig, weil wir viele Väter kennen, die wirklich so sind.
Worauf ich hinauswill: Das ist der Zwiespalt, in dem Väter unserer Generation stecken, dass wir immer noch ein starkes kulturelles und soziales Erbe haben – wir sprechen über Jahrhunderte, die sehr stark gegendert waren – und erst seit etwa 40, 50 Jahren versuchen, da herauszukommen, aber das eben nicht gleich auf Anhieb schaffen. Diese einfachen Väter, die nicht oder kaum ihre Gefühle zeigen konnten, geschweige denn, darüber zu sprechen, die in dieser Hinsicht etwas einfach gestrickt waren – die bleiben als Erbe in uns, das es vielleicht zu überwinden gilt.
PS: Ja, mich würden auch keine zehn Pferde zum Stricken bringen, auch wenn ich das mit etwa acht, neun Jahren eine Zeit lang ganz gerne gemacht habe. – Ich wollte aber an dem Punkt vielleicht eine kleine Gegenrede anbringen. Also es gibt, das darf man nicht unerwähnt lassen, auch keinen reinen Biologismus bei Nietzsche. Es gibt zum Beispiel in der Götzen-Dämmerung diese bemerkenswerte Sentenz: „Der Mann hat das Weib geschaffen – woraus doch? Aus einer Rippe seines Gottes, – seines ‚Ideals‘…“31 Und es gibt viele andere solcher Stellen, wo sich zeigt, dass Nietzsche als historisch denkender Mensch schon ein Bewusstsein davon hat, dass Geschlechterrollen durchaus wandelbar sind, ‚sozial konstruiert‘, wie man heute sagen würde.32
Das andere ist, wie bereits angedeutet, dass seine Äußerungen über die Frauen ja gar nicht abwertend gemeint sind. Selbst in Von jungen und alten Weiblein heißt es ja unter anderem auch:
Ein Spielzeug sei das Weib, rein und fein, dem Edelsteine gleich, bestrahlt von den Tugenden einer Welt, welche noch nicht da ist.
Der Strahl eines Sternes glänze in eurer Liebe! Eure Hoffnung heisse: „möge ich den Übermenschen gebären!“
Ähnlich wie das spielende Kind ist eben nicht nur der Mann als „Krieger“, sondern gerade auch die gebärende Frau für ein Sinnbild und leibhaftiger Vorschein des Übermenschen und Zarathustras und sogar sein eigenes Schaffen werden immer wieder mit dem Gebären gleichgesetzt – sogar in dieser Rede selbst. Und dass sich auch der berüchtigte ‚Peitschen-Satz‘ aus dieser Rede im Sinne eines solchen Konstruktivismus interpretieren lässt, sollte ebenso klar sein.33 Doch auch essentialistisch gelesen gibt und gab es eben zahlreiche Frauen und Feministinnen, die sich diese Seite Nietzsches positiv, affirmativ angeeignet haben und sich davon bei ihrer Definition von Weiblichkeit haben inspirieren lassen.
Also meine Position in dieser Hinsicht ist ganz klar, dass es ein Problem ist, wenn es diese repressiven Normen gibt, diese Stereotype, und man den Druck hat, sich dem anzupassen, weil sie einfach die Vielfalt der menschlichen Gattung nicht abbilden und wenig Platz für Abweichung zu lassen. Es ist insofern ein guter Prozess, dass die sich im Augenblick so auflösen und flexibler werden. Aber zur gleichen Zeit muss man aber auch sehen, dass diese Stereotypen nicht nur willkürlich sind, sondern dass es schon so etwas wie ein biologisches Substrat in irgendeiner Form gibt. Dieses ist natürlich schwer zu bestimmen, man wird es wahrscheinlich nie in Reinform definieren können. Aber es gibt ja eben Indizien davor, dass sich dieses stereotype Verhalten schon bei Kleinkindern beobachten lässt und insofern nicht rein anerzogen sein kann. Das ist ein Faktum, über das man bei aller Kritik an den repressiven Geschlechternormen nicht hinwegsehen kann. Ebenso ist es unbestreitbar, dass sich bestimmte Hormone wie insbesondere Testosteron auf das Seelenleben auswirken. Es macht eben etwas mit Menschen, wenn sie von Natur aus einen höheren Testosteronspiegel haben.34
Man muss da einfach aufpassen, und da kommt auch wieder Nietzsche ins Spiel, dass man nicht die eine repressive Moral durch die andere ersetzt. Alle Menschen sollen gleich sein, man darf sich als Mann bloß nicht zu männlich verhalten, als Frau wiederum nicht zu weiblich. Da würde ich schon sagen: Nein, es ist doch ganz in Ordnung, auch mal nach vorgegebenen Stereotypen zu leben. Wieso soll man sich da krampfhaft verbiegen? Das kann durchaus ein Ausdruck von Authentizität sein.
Ganz abgesehen von der Biologie hat es ja auch seinen Sinn, dass es diese Rollenverteilung gibt. Auch homosexuelle Paare können sich von ihr interessanterweise oft nicht lösen und ein Partner nimmt in ihnen eher eine ‚weibliche‘, der andere eine eher ‚männliche‘ Rolle ein. Es geht hier um die Aufteilung bestimmter Aufgaben, wobei man natürlich darauf achten sollte, diese fluide und situativ zu gestalten, so dass sich beide Partner gleichermaßen entfalten können.
HH: Ja, ich pflichte dir da ganz bei, dass es keinen Sinn macht, die eine repressive Moral durch eine andere zu ersetzen. Wobei das in manchen Kreisen als heikel angesehen werden könnte. Dieses ganze Thema der manosphere, also einer bubble im Netz, wo es darum geht, einen neuen Sinn für ‚echte Männlichkeit‘ in Abgrenzung zu ‚wokeness‘ und Feminismus zu kreieren, und die oft als sehr sexistisch und misogyn wahrgenommen wird (und sicher auch in großen Teilen ist), das ist schon ein sehr heißes Eisen geworden. Christian Saehrendt hat sich dieses Thema auf unserem Blog ja schon angenommen in seinem Artikel zur Frage, ob Nietzsche ein „Incel“ war. Wenn überhaupt von Männern und Vätern in der öffentlichen Diskussion gesprochen wird, geht es meist um dieses Thema der „toxischen Männlichkeit“. Aber was ist, wenn man nicht „toxisch“ werden oder bleiben möchte – gibt es einen öffentlichen Raum, um darüber offen zu diskutieren? Manche sind zu der interessanten Ansicht gekommen, dass einige Männer genau deswegen so anfällig dafür sind, auf diese manosphere-Schiene zu geraten, weil es bislang so wenige Modelle gibt für eine gute, nichttoxische Männlichkeit oder Väterlichkeit. Und es ist auch auffallend in dieser gesellschaftlichen Gleichberechtigungsdebatte – die weiterhin geführt werden muss aus guten Gründen –, dass ein Unterkapitel von diesem Diskurs ist, dass sowohl die besten als auch die schlechten Lebensergebnisse im globalen Norden von Männern erreicht werden. Man hat also als Mann zwar eine höhere Wahrscheinlichkeit, sehr reich oder erfolgreich zu sein – aber auch, Suizid zu begehen, an einer Suchterkrankung zu leiden, jung zu sterben, dass man es einfach nicht gebacken kriegt, sich vernünftig zu ernähren, oder langzeitarbeitslos zu werden – um nur ein paar von den schlechtesten Lebensereignissen zu nennen, die besonders stark mit Männern verbunden sind. Das ist auch ein Teil des Vaterseins, diesen Spagat zu schaffen, ein guter Vater zu sein, ohne bei diesen schlimmsten Ergebnissen zu landen.
Oder, um es nochmal konkreter zu machen: Warum wählen so viele von diesen Männern und Vätern Donald Trump oder rechtspopulistische Parteien? Natürlich wählen ihn auch Frauen, aber es sind doch signifikant mehr Männer. Bei Weitem nicht, weil die alle so gut abgesichert oder privilegiert sind – es ist eher im Gegenteil so, dass Millionen von ihnen so prekär leben, dass sie außerhalb der gesellschaftlichen Mechanismen stehen und gar kein Vertrauen mehr darin haben, ihre eigenen Lebensverhältnisse besser zu gestalten; sie wetten stattdessen auf einen ‚großen Wurf‘, einen ‚Trump-Wurf‘; diese Vorstellung, ein ‚harter Mann‘ zu sein, ein toxischer Mann, der man ohne jegliche gesellschaftliche Absicherung durchkommt.
Also es durchaus eine Wette von uns, ein solches Thema wie Vaterschaft öffentlich zu besprechen in einer Zeit, in der der öffentliche Diskurs über Männer vor allem von diesem Begriff der ‚toxischen Männlichkeit‘ geprägt ist – ich hoffe, diese Wette geht gut aus.
PS: Ja, ich nehme es auch so wahr, dass es da ein Vakuum gibt, eine Abwesenheit von Vorbildern einer nichttoxischen, verantwortungsvollen Männlichkeit und Väterlichkeit – was gerade bei jungen Männern zu einer großen Orientierungslosigkeit führt und dazu, dass sie sich zum Ersatz um Möchtegern-‚Übermänner‘ wie Trump, Musk oder gar Putin scharen. Die alten „Götzen“ sind gefallen, aber keine neuen an ihre Stelle getreten – und das führt paradoxerweise gerade zu einer beängstigenden Renaissance solcher pseudoarchaischer ‚barbarischer‘ Gestalten. Doch wir emanzipierten Männer sollten dieses Vakuum, auf ganz nietzscheanische Art, nicht betrauern und auch in keine Nostalgie verfallen, sondern als Chance zu einem kulturellen Neuanfang, zur Schöpfung eines neuen, besseren Verständnisses von Männlichkeit und Väterlichkeit. Dabei sind vor allem wir als Väter gefordert, ein solches Verständnis nicht nur zu predigen, sondern vor allem auch zu leben, unseren Söhnen hoffentlich nicht nur als negative Abstoßfiguren, sondern auch als Vorbilder zu dienen, an denen sie wachsen können – um sich dann natürlich auch wieder von uns abzustoßen, das gehört zum Vatersein ja leider auch dazu.
Mir geht es im Kern darum, dass man sich einfach um eigenes, authentisches Verständnis von Vaterschaft und Männlichkeit – und natürlich entsprechend auch von Mutterschaft und Weiblichkeit – bemühen sollte, das unabhängig von vorhandenen Stereotypen ist. Aber es wäre eben auch unauthentisch, und auch einfach nicht besonders gesund, nicht heilsam für einen selbst, sich jetzt krampfhaft von diesen Stereotypen um jeden Preis freimachen zu wollen – sowohl, was das eigene Selbstverständnis, als auch, was die eigene Erziehungspraxis angeht. Ich nehme in meinem Umfeld da schon solche Tendenzen wahr, dass man zum Beispiel um jeden Preis vermeiden will, dass die Jungen mit Waffen spielen oder sich für Krieg interessieren – und die Mädchen vielleicht genau dazu zwingen möchte. Und die Jungs bringt man dazu, mit Puppen zu spielen. Also das ist jetzt natürlich eine Überspitzung, aber es gibt eben schon derartige Tendenzen, die ich auch wieder nicht gutheißen kann.
Generell finde ich diesen ganzen Diskurs über ‚toxische Männlichkeit‘ nicht unberechtigt. Ich denke, es gibt das. Es gibt übrigens vielleicht auch eine Art ‚toxische Weiblichkeit‘, also stereotype weibliche oder sogar mütterliche Verhaltensweise, die nicht besonders heilsam sind für ihre Umgebung. Sie treten nur subtiler in Erscheinung, etwa in Formen der emotionalen Manipulation und Erpressung. Wobei natürlich die Frage ist: Was heißt ‚toxisch‘ überhaupt? Ist das nicht ein sehr vager Begriff?
Also ich finde es generell gut, dass solche Verhaltensweisen hinterfragt werden, sowohl bei Frauen als auch Männern. Aber zur gleichen Zeit beobachte ich da auch eine gewisse Einsichtigkeit oder sogar Diskriminierung von typisch männlichen Verhaltensweisen, die aber auf jeden Fall zumindest heuchlerisch ist, weil genau diese Verhaltensweisen ja auch ihre soziale Berechtigung haben und in vielen Fällen notwendig sind in der jetzigen Gesellschaft. Auch Leute, die sich sehr stark über typisch männliche Verhaltensweisen aufregen, freuen sich ja vielleicht auch, wenn es einen taffen Polizisten gibt, der sie zur Not verteidigt. Und es wird jetzt viel über eine „Zeitenwende“ und Aufrüstung gesprochen – was ich aus anderen Gründen auch wieder problematisch finde –, aber da muss man halt beides wollen, da kann man nicht sagen, dass man diese männlichen Verhaltensweisen, die man als Soldat nun einmal an den Tag legen muss, sind ganz schlecht und problematisch, aber wir brauchen zugleich viel mehr Soldaten und wenigstens alle Männer – Warum eigentlich nur die? Hat das vielleicht doch auch etwas mit der Biologie zu tun? – sollen wieder Wehrdienst leisten. Also ich sehe da eine gewisse Widersprüchlichkeit in unserer Gesellschaft und in den Debatten zu diesem Thema. Ganz generell gesprochen, sollte man vielleicht einfach mal anerkennen, dass diese typisch männlichen Verhaltensweisen teilweise gar nicht so schlecht sind und eben auch ihr Recht haben, sofern sie nicht in ein bestimmtes Extrem getrieben werden.
Das beste Beispiel ist ja Nietzsche selbst, der ja vielleicht tatsächlich auch irgendwie, wenn man diesen Begriff gebrauchen möchte, ein ‚toxischer‘ oder jedenfalls stereotypen Mann war. Darüber haben wir diskutiert und daran kann man viel kritisieren, aber diese Haltung es ihm wiederum auch ermöglicht, sein großartiges Werk zu schaffen. Ich glaube ja, dass es auch dem Werk gutgetan hätte, wenn Nietzsche seine eigene Männlichkeit stärker hinterfragt hätte – aber wäre es wirklich zustande gekommen ohne den infantilen Narzissmus, den Nietzsche kultivierte?
Und auch bei mir selbst bemerke ich, dass ich zunehmend, auch wenn das teilweise meinem Naturell gar nicht entspricht, in so eine männliche Rolle getrieben werde, die ich so definieren würde, dass man einen etwas anderen Erziehungsstil hat, dass man in bestimmten Stresssituationen eher derjenige ist, der ruhig bleibt und klare Ansichten macht. Ich glaube, das ist schon etwas, was einfach gebraucht wird, was man dann vielleicht als Mann auch leisten muss. Klar, zum einen versage ich oft genug darin, zweitens gibt es auch Situationen, in denen meine Partnerin diesen Part übernimmt, aber ich glaube, diesen Part, diesen vielleicht leicht ‚autoritären‘ Part, braucht es halt manchmal schon, und es käme dann vielleicht eher darauf an, dass man diesen männlichen Part auf eine nichttoxische und verantwortungsvolle Weise einnimmt, aber auch nicht vollkommen von sich weist. Ich glaube, dass diese neue ‚postmoderne Post-Männlichkeit‘ teilweise etwas sehr Infantiles hat, also auch wieder eine ‚toxische‘ Männlichkeit auf andere Art – auf Nietzsches Art. Da bleibt man eigentlich ein Kind, man gibt Verantwortung ab, man will um keinen Preis mehr ‚autoritär‘ sein oder etwa durch eine zu laute Stimme auffallen oder so etwas, man spricht ganz leise, macht die Beine nicht breit beim Sitzen … Also dieses Infantile wird verknüpft mit einer extrem moralischen und selbstverneinenden Haltung. Das ist auch wieder eine einseitige Entwicklung, eine Flucht vor der Verantwortung und auch vor der Authentizität, denn ich nehme es durchaus so wahr, dass solche Männer auch in keinem authentischen Selbstverhältnis stehen, sondern eben eine Seite von sich selbst künstlich verdrängen, die sie vielleicht stärker ausleben sollten. Man sollte den ‚inneren Mann‘, den ‚inneren Vater‘ in sich wertschätzen lernen – das ist vielleicht unsere Aufgabe in der jetzigen Situation.
HH: Wäre das nicht ein gutes Schlusswort für unser Gespräch?

VIII. „Wie die Kinder werde!“
PS: Etwas würde ich vielleicht noch einbringen. Wir haben ja viel über Lou Salomé gesprochen und über Nietzsche – da liegt es vielleicht nahe, auf den Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) einzugehen, der etwa eine Generation jünger als Nietzsche war und witzigerweise mit Lou Salomé nicht nur befreundet war, sondern vielleicht das geschafft hat, von dem Nietzsche geträumt hat, also in einer Beziehung mit ihr war. Witzigerweise nahm er in dieser auch wieder eher die Rolle eines ‚großen Kindes‘ ein und Lou eine mütterliche – das ist bei Dichtern und Denkern ja vielleicht gar nicht mal so selten. Von ihm gibt es jedenfalls ein großartiges Gedicht, in dem er diese Haltung des Kindlichwerdens in sogar noch lyrischeren und beeindruckenderen Worten als Nietzsche zum Ausdruck bringt, und damit würde ich unser Gespräch sehr gerne ausklingen lassen:
Träume, die in deinen Tiefen wallen,
aus dem Dunkel lass sie alle los.
Wie Fontänen sind sie, und sie fallen
lichter und in Liederintervallen
ihren Schalen wieder in den Schoß.
Und ich weiß jetzt: wie die Kinder werde.
Alle Angst ist nur ein Anbeginn;
aber ohne Ende ist die Erde,
und das Bangen ist nur die Gebärde,
und die Sehnsucht ist ihr Sinn –35
Das ist doch vielleicht ein gutes Schlusswort: „Und ich weiß jetzt, wie die Kinder werde.“ Aber vielleicht muss man teilweise dann doch auch mehr Verantwortung übernehmen – das ist dann aber wieder die philosophische Ebene.
HH: Dem kann ich mich sehr anschließen. Vielen Dank, Paul, für dieses erhellende Gespräch.
Das Artikelbild ist ein Gemälde von Felix Nussbaum aus dem Jahr 1931, Leierkastenmann. Fotograf: Kai-Annett Becker. Quelle: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/6CQPR6PYR3GSAEFLYDCJDO7VC7ZKNCK7
Literatur
Wer ist der „homo sovieticus“? Ein Dialog der Narthex-Redaktion mit Vitalii Mudrakov. In: Narthex. Heft für radikales Denken 6 (2020), S. 56-63.
Diethe, Carol: Vergiss die Peitsche. Nietzsche und die Frauen. Übers. v. Michael Haupt. Hamburg & Wien 2000.
Key, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes. Übers. v. Francis Maro. Berlin 1905.
Kimmel, Michael S.: Masculinity as Homophobia. Fear, Shame, and Silence in the Construction of Gender Identity. In: Harry Brod (Hg.): Theorizing Masculinities. Thousands Oaks 1994, S. 119-141.
Orwell, George: Farm der Tiere. Ein Märchen. Übers. v. Ulrich Blumenbach. München 2021.
Picart, Caroline: Classic and Romantic Mythology in the (Re)Birthing of Nietzsche's Zarathustra. In: Journal of Nietzsche Studies 12 (1996), S. 40-68.
Prideaux, Sue: Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche. Übers. v. Thomas Pfeiffer und Hans-Peter Remmler. Stuttgart 2021.
Rilke, Rainer Maria: Gedichte 1895 bis 1910. Werke Bd. 1. Hg. v. Manfred Engel & Ulrich Fülleborn. Frankfurt a. M. & Leipzig 1996.
Stephan, Paul: Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung. 2 Bd.e. Stuttgart 2020.
Ders.: »Vergiss die Peitsche nicht!«. Eine Untersuchung der Metapher des »Weibes« in Also sprach Zarathustra. In: Murat Ates (Hg.): Nietzsches Zarathustra Auslegen. Marburg 2014, S. 85-112.
Wagner, Richard: Brief an Nietzsche v. 25. 6. 1872 (Nr. 333). In: Briefe an Friedrich Nietzsche Mai 1872 – Dezember 1874. Kritische Gesamtausgabe Briefwechsel Bd. II/4. Hg. v. Giorgio Colli & Mazzino Montinari. Berlin & New York 1978, S. 29 f.
Ders.: Brief an Nietzsche v. 24. 10. 1872 (Nr. 372). In: Ebd., S. 102-106.
Fußnoten
1: Stand 20. 12.: Unsere Tochter lässt sich immer noch Zeit.
2: Aph. 108.
3: Also sprach Zarathustra, Von alten und jungen Weiblein.
4: So heißt es auch an anderer Stelle: „Wir Männer wünschen, dass das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren: wie es Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche dekretirte: mulier taceat in ecclesia!“ (Jenseits von Gut und Böse, Aph. 232) Und unter Bezug auf die erwähnte berüchtigte Passage aus Zarathustra schreibt er in Ecce homo: „‚Emancipation des Weibes‘ – das ist der Instinkthass des missrathenen, das heisst gebäruntüchtigen Weibes gegen das wohlgerathene“ (Warum ich so gute Bücher schreibe, Abs. 5).
5: Also sprach Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 23.
6: Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede, Abs. 3.
7: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 232.
8: Man findet diese Konzeption von Männlichkeit auch in der Philosophie, vor allem bei Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie der Rechts (1820), dieser furchtbaren Apologie des unauthentischen Menschen, der seine „wahre Freiheit“ im Opfer findet, sei es als „Marktplatzmann“ – ein Begriff der kritischen Männlichkeitsforschung (vgl. Michael S. Kimmel, Masculinity as Homophobia) –, sei als treuer Bürokrat im Staatsdienst, sei es, in seiner höchsten Form, als Soldat, der fürs „Vaterland“ fällt. Der Soldat und der „Krieger“ – da treffen sich seltsamerweise Hegel und Nietzsche, auch wenn es bei Nietzsche da ja eher um den resoluten Willen zur Selbstverwirklichung geht. Noch im 18. Jahrhundert, man denke nur an Rousseaus Émile (1761), dieses große Plädoyer für einen aktiven Vater als verantwortungsvollen Erzieher der Kinder, dachte man darüber noch ganz anders – doch genau gegen dieses Bild vom sorgenden Vater wandte sich Nietzsche ja, wenn er von der „Verweichlichung“ Europas spricht!
9: Vgl. hierzu Wer ist der „homo sovieticus“?
10: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 7.
11: Hinzu kommt eine, allerdings sehr früh verstorbene, Tochter. Für seinen unehelichen Sohn übernahm Hegel zumindest zeitweilig die erzieherische Verantwortung.
12: Hinzu kommt möglicherweise ein unehelicher Sohn.
13: Der Extremfall ist vielleicht Rousseau, der zwar, wie erwähnt (vgl. Fn. 8), die Idee einer engagierten Vaterschaft verfocht – freilich idealerweise nur mit einem Kind –, seine eigenen Kinder jedoch ausnahmslos ins Waisenhaus gab.
14: Vgl. den Bericht von Emma Schunack auf diesem Blog (Link).1
15: Aus meinem Leben, Die Jugendjahre.
16: Hier genüge der Hinweis, dass es alles andere als ausgemacht ist, dass Nietzsche sich für Frauen überhaupt in sexueller Hinsicht interessierte. Vgl. Dionysos ohne Eros von Christian Saehrendt und das Interview, das ich mit Andreas Urs Sommer über dessen neue Nietzsche-Biographie geführt habe.
17: Zu Nietzsches zeitweiligen Bemühungen um eine Ehefrau vgl. Christian Saehrendts Artikel Dionysos ohne Eros auf diesem Blog. Allerdings gilt es hier hervorzuheben, dass eigentlich nur ein Antrag an eine Frau, die junge Russin Mathilde Trampedach, eindeutig belegt ist. Wie der Kommentator „Rafael“ zu Recht darlegt, gibt es berechtigte Zweifel an der in der Forschung immer wieder vertretenen These, Nietzsche habe, je nach Variante, ein, zwei oder gar drei Mal um Lou Salomés Hand angehalten. Für diese Erzählung gibt es nämlich keinerlei zeitgenössischen Beleg, sie stützt sich fast ausschließlich auf Salomés eigene Autobiographie (vgl. dazu auch ausführlicher diesen Blogartikel). – An Nietzsches jedenfalls zeitweiligem Wunsch sich zu vermählen besteht kein Zweifel (vgl. etwa Bf. an Malwida von Meysenbug v. 25. 10. 1874). Seiner Schwester berichtet er am 25. 4. 1877 von dem Plan, eine „nothwendig vermögliche[] Frau“ zu heiraten, um seine beschwerliche Professur aufgeben zu können (Link). Er erhofft sich von einer Ehe in jener Zeit, so in einem Brief an Meysenbug vom 1. 7. 1877, eine „Milderung [s]einer Leiden“. Später schreibt er an Franz Overbeck – ironischerweise kurz, bevor er Lou Salomé persönlich kennenlernt, angesichts seines sich verschlechternden Gesundheitszustands: „Nun müssen mir meine Freunde noch eine Vorlese-Maschine erfinden: sonst bleibe ich hinter mir selber zurück und kann mich nicht mehr genügend geistig ernähren. Oder vielmehr: ich brauche einen jungen Menschen in meiner Nähe, der intelligent und unterrichtet genug ist, um mit mir arbeiten zu können. Selbst eine zweijährige Ehe würde ich zu diesem Zwecke eingehen“ (Bf. v. 17. 3. 1882). An Overbeck berichtet er später, seine Mutter wolle ihn verheiraten, um ihm eine „fürsorgliche Pflegerin“ zu verschaffen (Bf. v. 6. 10. 1885) – doch er hat zu diesem Zeitpunkt mit dieser Idee schon abgeschlossen, schrieb er doch an seine Mutter selbst Ende April desselben Jahres: „Meine liebe Mutter, Dein Sohn eignet sich schlecht zum Verheirathet-werden; unabhängig sein bis zur letzten Grenze ist mein Bedürfniß, und ich bin für meinen Theil äußerst mißtrauisch geworden in diesem Einen Punkte. Eine alte Frau, und noch mehr ein tüchtiger Diener wäre mir vielleicht wünschenswerther“ (Link). – Diese Briefe bezeugen Nietzsches eher pragmatisches Verhältnis zum Thema Ehe, wobei man, wie Carol Diethe argumentiert (vgl. Vergiss die Peitsche, S. 38), derartige Äußerungen immer cum grano salis nehmen sollte, zeigt sich Nietzsche in seinen Briefen doch oft als großer Ironiker. Er betont zumal immer wieder auch, dass eine Ehe auf Freundschaft gründen soll und gibt seinem Abscheu über die gängigen „Conventionsehe[n]“ (Bf. an Carl v. Gersdorff v. 15.04.1876) Ausdruck. Er sucht zumal klar nach einer gebildeten Frau und keinem ‚netten Dummnchen‘.
18: Nachgelassene Fragmente 1881 16[19].
19: Vgl. Ich bin Dynamit.
20: Vgl. Richard Wagner, Brief an Nietzsche v. 25. 6. 1872 & Brief an Nietzsche v. 24. 10. 1872.
21: Dass er es beim ersten Mal ignorierte, folgt implizit daraus, dass Wagner sich genötigt sah, den Vorschlag überhaupt zu wiederholen. Doch in dem überlieferten ausführlichen Antwortbrief auf diesen wiederholten Vorschlag geht Nietzsche auf diese Offerte mit keiner Silbe ein, so als hätte er sie ‚überlesen‘ (vgl. Brief an Richard Wagner v. Mitte Nov. 1872, Nr. 274).
22: Classic and Romantic Mythology in the (Re)Birthing of Nietzsche’s Zarathustra, S. 41. Übers. PS.
23: Vgl. hierzu Diethe, Vergiss die Peitsche und auch die entsprechenden Kapitel in Paul Stephan, Links–Nietzscheanismus.
24:Aph. 94.
25: Von alten und neuen Tafeln, Abs. 12.
26: Generell gibt es im Zarathustra das Ideal der Ehe als Symbiose, um gemeinsam das Kind als Projekt der gemeinsamen „Selbstüberwindung“ zu realisieren (vgl. insbesondere die Rede Von Kind und Ehe).
27: Vgl. insbesondere die zentrale Reden Von den drei Verwandlungen und Von den Tugendhaften.
28: Vgl. seine eher skeptischen Erwägungen in Menschliches, Allzumenschliches, Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 265.
29: Vgl. den als Vorwort zu Farm der Tiere entworfenen Text Die Pressefreiheit (Link zum Original).
30: Vgl. die Verlagswebseite.
32: Niemand geringerer als Simone de Beauvoir zitiert diese Stelle etwa zur Untermauerung ihrer konstruktivistischen Position in Das andere Geschlecht (vgl. Links–Nietzscheanismus, Bd. 2, S. 354) und auch Judith Butler bezieht sich in ihrem radikalen Konstruktivismus immer wieder auf Nietzsche (vgl. ebd., S. 473-478). Feminismen aller Spielarten können sich in Nietzsches Schriften wiedererkennen. (Vgl. dazu auch ebd., Bd. 1, S. 50-55.) Das Seltsame an Nietzsches bisweilen essentialistisch anmutenden Äußerungen zum Thema ‚Mann und Weib‘ ist ja gerade, dass sie in einem offenkundigen Gegensatz zu seinem prinzipiellen Antiessentialismus stehen – und er weiß darum, wenn er etwa in Jenseits von Gut und Böse betont, dass es sich bei diesen Ansichten um „meine Wahrheiten“ handelt (Aph. 231).
33: Vgl. hierzu ausführlich Stephan, »Vergiss die Peitsche nicht!«.
34: Man denke nur an die einschlägigen Berichte von Menschen, die sich entsprechenden Hormontherapien unterzogen haben.
35: Gedichte 1895 bis 1910, S. 72.
Vater sein mit Nietzsche
Ein Gespräch zwischen Henry Holland und Paul Stephan
Nietzsche hatte mit großer Gewissheit keine Kinder und äußert sich in seinem Werk auch nicht besonders freundlich zum Thema Vaterschaft. Der freie Geist ist für ihn ein kinderloser Mann, die Erziehung der Kinder die Aufgabe der Frauen. Gleichzeitig dient ihm das Kind immer wieder als Metapher für den befreiten Geist, als Vorahnung des Übermenschen. Vermag er dadurch heutige Väter vielleicht doch zu inspirieren? Und kann man gleichzeitig Vater und Nietzscheaner sein? Henry Holland und Paul Stephan, beide Väter, diskutierten über diese Frage.
Das komplette, ungekürzte Gespräch haben wir parallel auch auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie publiziert (Teil 1, Teil 2).
Der Übermensch im Hamsterrad
Nietzsche zwischen Silicon Valley und Neuer Rechter
Der Übermensch im Hamsterrad
Nietzsche zwischen Silicon Valley und Neuer Rechter


Dieser Essay, den wir mit dem ersten Platz des diesjährigen Eisvogel-Preises für radikale Essayistik auszeichneten (Link), untersucht Nietzsches Frage nach den „Barbaren“ im zeitgenössischen Kontext und analysiert, wie seine Philosophie heute politisch instrumentalisiert wird. Vor diesem Hintergrund zeigt der Text, wie Hustle Culture, Plattformkapitalismus und neoreaktionäre Ideologien den „Willen zur Macht“ ökonomisieren und zu einer neuen Form subtiler Barbarei werden: einer inneren Zersetzung kultureller Tiefe durch Marktlogik, technokratische Mythen und performativen Nihilismus. Dabei kann Nietzsches Denken gerade eingesetzt werden, um diese Tendenzen in ihrer Genealogie zu beschreiben, ihren immanenten Nihilismus zu enttarnen und einen (über-)humanen Gegenentwurf zu ihnen aufzuzeigen.
„[W]o sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?“1
Diese Frage aus einem Nachlassfragment Nietzsches provoziert auch heute noch: Wer sind nun die gegenwärtigen Kräfte, die die bestehende Ordnung herausfordern – und das nicht aus Zerstörungslust, sondern als Antwort auf eine Kultur, die sich zunehmend in Resignation und Marktlogik erschöpft? Wer sind die Barbaren unserer Zeit? Dieser Essay nimmt Nietzsches Frage als Ausgangspunkt für eine Gegenwartsanalyse: Wer hat dem fortschreitenden Nihilismus unserer Zeit etwas entgegenzusetzen – und was steht auf dem Spiel, wenn Philosophie zum Werkzeug politischer Mythologie wird? Um die Tragweite dieser Frage zu erfassen, gilt es zunächst, die unterschiedlichen Auslegungen Nietzsches im politischen Denken des 20. und 21. Jahrhunderts zu analysieren.
I. Machtmythologie vs. Kritik
Ein deutlicher Unterschied zwischen rechter und linker Nietzsche-Rezeption liegt in der Art, wie seine Texte gelesen und verstanden werden. VertreterInnen der Neuen Rechten neigen dazu, Nietzsche „beim Wort“ zu nehmen und somit affirmativ zu interpretieren. Begriffe wie der „Übermensch“ oder der „Wille zur Macht“ werden hier als Leitbilder für eine Politik verstanden, die Hierarchie, elitäres Denken und eine grundsätzliche Ablehnung des Egalitarismus rechtfertigen sollen. Hier erscheint Nietzsche als lehrender Prophet einer neuen aristokratischen Ordnung. Die Vereinnahmung Nietzsches durch rechte Strömungen stellt eine Kontinuität dar und lässt sich exemplarisch an der postum von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche veröffentlichten Textsammlung Der Wille zur Macht nachvollziehen: Obwohl von Friedrich Nietzsche selbst nie autorisiert, wurde sie zum Referenztext für eine affirmativ-rechte Nietzsche-Rezeption – schon im Nationalsozialismus wurde Nietzsche als vermeintlicher Vordenker eines heroischen, völkischen Weltbildes missbraucht –, obwohl er selbst Antisemitismus, Nationalismus und jedes autoritäre Denken verurteilte. So stützte sich Martin Heidegger zunächst auf die verfälschte Ausgabe und reduzierte Nietzsche auf eine „Vollendung der Metaphysik“ – womit seine existenzielle und genealogische Radikalität entleert wurde.2 In der Neuen Rechten wird, von Alain de Benoist bis zu Götz Kubitschek, Nietzsche weiterhin als Projektionsfläche eines postliberalen Elitarismus stilisiert, während seine Kritik an Macht, Moral und Ressentiment gezielt umgedeutet oder schlicht ignoriert wird. So findet eine instrumentelle statt philosophische Rezeption statt: pseudointellektuell operierend, ideologisch aufgeblasen – und steht somit im Widerspruch zu jeder ernsthaften und dialektischen, also differenzierten und die internen Paradoxien von Nietzsches Werk reflektierenden statt leugnenden, Lektüre Nietzsches. Außerdem ist auffällig, wie sich die rechte Nietzsche-Rezeption stellenweise mit neoliberalen und auch libertären Weltbildern verbindet: Wird Nietzsche wortwörtlich als Prophet des „Willens zur Macht“ und als Kritiker egalitärer Moral gelesen, lässt sich darauf aufbauend eine Legitimation ungebremster Konkurrenz und gesellschaftlicher Hierarchie ableiten. So gilt der Erfolg der Starken – in wirtschaftlicher Hinsicht zum Beispiel erreicht durch die Vermeidung von Steuern – nicht mehr nur als ökonomisches Ergebnis, sondern wird mit dem Begriff der Moral erhöht: Er erscheint als Ausdruck einer natürlichen Überlegenheit. Eine ursprünglich kulturkritische Haltung kippt derart in eine neoliberale Ideologie, in der der Markt als natürliche Arena des „Übermenschen“ verstanden wird. So wird – paradoxerweise – Moral selbst zum Werkzeug der Herrschaft. Dem gegenüber liegend steht eine (linke) Nietzsche-Rezeption, die genau diese Mechanismen aufdeckt und kritisiert. Anstatt Nietzsche als Vordenker einer neuen Elite zu lesen, nutzt sie seine Gedanken genealogisch, um so zu zeigen, wie Moral und Diskurs zur Stabilisierung von Macht- und Profitinteressen missbraucht werden. So wird der „Willen zur Macht“ nicht affirmativ verherrlicht – stattdessen wird er analysiert als das, was gesellschaftliche Normen, Institutionen und Ideologien antreibt. Nietzsches Philosophie wird somit zu einem Werkzeug, um Herrschaft als kulturell erzeugtes, nicht „natürliches“ Phänomen sichtbar zu machen (zu „enttarnen“) – und somit Räume für Emanzipation, Solidarität und Kritik zu öffnen.
II. Hetzen in der Plattformwelt
Eine wortwörtliche Nietzsche-Lektüre, in der der „Wille zur Macht“ und der Erfolg des Starken moralisch verklärt werden, findet eine zeitgenössische Entsprechung in der „Hustle Culture“, welche auf Social-Media-Plattformen massenhaft propagiert wird.3 Permanente Selbstausbeutung – der Hustle –, das Optimieren, das Selbstvermarkten gilt hier als Zeichen von Stärke, von Tatkraft und kippt fast schon, je nach Darstellung, in ein heroisches Übermenschentum. Diese Hustle Culture lässt sich auch in Anlehnung an Max Webers Analyse des protestantischen Arbeitsethos als säkularisierte Heilslehre begreifen: Erlösung wird durch Leistung ersetzt und Produktivität wird somit zur moralischen Pflicht.4 Diese Ideologie stellt Arbeits- und Leistungsdruck als individuelle Tugend dar, verschweigt aber gezielt, wie sehr sie zugleich bestehende Machtverhältnisse und Eigentumsbedingungen stützt: Denn die Plattformen, auf denen dieser Kult verbreitet wird – ob auf TikTok, Instagram oder X (ehem. Twitter) –, gehören milliardenschweren Techkonzernen, die selbst nach der Logik des Willens zur Macht agieren und, ganz nebenbei, unvorstellbare Profite aus Aufmerksamkeit, Daten und unbezahlter Arbeit ziehen. Hier deckt die linke Nietzsche-Rezeption den Kern des Problems auf: Dass Moral und Diskurse – und auch „Selbstverwirklichung“ an sich – instrumentalisiert werden, um Plattformkapitalismus und digitalen Feudalismus zu legitimieren. Während einige wenige Konzerne den Löwenanteil der Gewinne einstreichen, wird dem Einzelnen suggeriert, er könne durch Hustle zum Übermenschen werden – eine Illusion, die den Status Quo zementiert, anstatt ihn zu hinterfragen.
Vor diesem Hintergrund erscheint die eingangs gestellte Frage, wer die „Barbaren“ in Nietzsches Sinn heute sind, in einem neuen Licht: die rechte, oft wortwörtliche Rezeption Nietzsches deutet die „Barbaren“ häufig als heroische Elite, die mit ihrem Willen zur Macht die Gesellschaft umstürzen wird, um neue Hierarchien errichten zu können; als „natürliche“ Führende im Zeitalter einer dekadenten Masse. Doch blickt man aufmerksam auf die heutige Realität von Hustle Culture, Plattformkapitalismus und digitalem Feudalismus, so zeigt sich eine eindeutige Wendung: Nun erscheinen genau die Konzerne und Plattformen, die nach außen den Kult des unbedingten Erfolgs, der grenzenlosen Selbstoptimierung und des Übermenschen promoten, als die eigentlichen Barbaren; nicht im romantischen, heroischen Sinn, sondern als destruktive Kräfte, die alles Untergründige, alles Fragile, alles Humane zerstören, um den Profit zu maximieren. Dadurch wird auch die Masse der Selbstausbeutenden, die auf Social-Media-Plattformen endlos Content produziert und sich selbst vermarktet, Teil einer neuen Barbarei: Nicht, weil sie diejenigen sind, die brutal herrschen, sondern weil sie unfreiwillig die Logik der Stärkeren reproduzieren und damit kulturelle Tiefe, kritische Reflexion und Solidarität opfern. So wird sichtbar, wie Barbarei heute nicht nur rohe Gewalt bedeutet, sondern auch die kalte, systematische Auslöschung von Differenz, von echtem Denken: also von dem, was Kultur im eigentlichen Sinn ausmacht. Die Barbaren von heute zerstören also nicht (nur) von außen, sondern sie wirken subtil von innen, wenn sie die Herrschaft der Plattformen und den Mythos vom Übermenschen als selbstoptimierte Unternehmerperson normalisieren. Die sogenannte „Hustle Culture“ ist dabei kein kulturelles Randphänomen, sondern Ausdruck einer tieferliegenden Ideologie, die auch in den Sphären der Tech-CEOs und ihrer diskursiv-theoretischen Vordenkenden wirkt. Wo einst Religion, Moral und Philosophie normative Orientierungen boten, tritt heute eine (vermeidlich) entpolitisierte Erfolgsästhetik an ihre Stelle – gespeist aus einem technokratisch gewendeten Willen zur Macht, der, wie Adorno und Horkheimer warnen würden,5 längst nicht mehr der Aufklärung dient, sondern ihr dialektisches Gegenteil produziert: Mythos in der Maske von Fortschritt. Diese Verschiebung ebnet den Weg für Strömungen wie die „Neoreaktionäre Bewegung“, abgekürzt oft „NRx“ – auch bekannt als „Dunkle Aufklärung“ –, die sich explizit an Nietzsche anlehnen, dabei jedoch alle dialektische, historisch-kritische Tiefe abwerfen. Die NRx denkt diesen Kult des Erfolgs, den die Hustle Culture emotional auf Plattformen inszeniert, konsequent zu Ende: als Möglichkeit der Unmenschlichkeit, als kybernetische Reorganisation von Herrschaft nach marktwirtschaftlichem Maßstab. Die „Theorie“ der NRx basiert auf pseudowissenschaftlichen Konzepten wie „Human Biodiversity“6 – einer Ethik des Stärkeren, aufbauend auf rassenideologischen Trugschlüssen – oder einem rechtslibertären Verständnis von Staat als Unternehmensstruktur. Dabei verzichten ihre Vertreter stets auf Kontextualisierung, historisches Bewusstsein oder moralische Reflexion. Die Dunkle Aufklärung performt Nihilismus, wo Nietzsche ihn überwinden wollte. Ihre AnhängerInnen kultivieren den Gestus der Radikalität – aber bleiben dabei, unfreiwillig komisch, in der Pose stecken. Ihr Barbar ist eine Karikatur: ein kybernetischer Reaktionär mit provokanten Social-Media-Profil, kein schöpferischer Geist. Wer die Frage des Barbaren ernst nimmt, wird sich dieser Vereinnahmung Nietzsches entziehen müssen: Sind die wahren Barbaren nicht die, die den kulturellen Zynismus verweigern? (Neu-)Rechte Akteure inszenieren sich gerne als die „stärkere Art“, von der Nietzsche in dem eingangs zitierten Nachlassfragment spricht: als diejenigen, die dem „kosmopolitische[n] Affekt- und Intelligenzen-Chaos“ ein Ende setzen könnten. Doch ihre Revolte zielt letztlich nicht auf neue Werte (oder gar: moralisch fundierte), sondern auf die Reaktivierung alter Ordnungsphantasien: Autorität, Hierarchie – in Form einer technologischen Herrschaft. Sie predigen Entzauberung, beschwören dabei aber eigene Mythen: der Markt als Maschine der Offenbarung, der Code als Gottesbeweis, das Ewige Leben in der Cloud, der CEO als Souverän. In dieser Welt wird Nietzsche nicht gelesen, sondern gebraucht: als (pseudo-)ästhetische Chiffre eines Willens zur Macht.

III. Ein linksnietzscheanischer Gegenentwurf?
Die entscheidende Differenz liegt hier darin, dass Nietzsche seine Barbaren nicht als Funktionäre eines neuen Systems gedacht hat, sondern als existenziell Störende: als diejenigen, die durch radikale Arbeit in und an ihrem Innern zur Schöpfung fähig und tätig werden. Es ist der Einzelne, der bei Nietzsche zählt, nicht die Elite. „Der Übermensch ist der Sinn der Erde“7, ruft Zarathustra „allen und keinem“ zu – und dieser Übermensch entsteht nicht durch technologischen Fortschritt: Er ist kein Cyborg, kein posthumanes Subjekt, sondern zur Umwertung, zur Verwandlung, zur künstlerischen Selbstschöpfung fähig. So bleibt die Frage: Sind die neuen Tech-CEOs wirklich die Barbaren, auf die Nietzsche gehofft hat – oder eine postironische Simulation derselben Idee? Vielleicht sind sie die Karikatur des Wandels, den Nietzsche gefordert hat: zukunftsvergessen, strategisch überheblich, metaphysisch hohl. Und doch wird gerade dieser radikale, existenzielle Ernst in der Ästhetik der Neuen Rechten karikiert: Was sich dort als Barbarentum inszeniert – in Podcasts, vermeintlicher Guerilla-Ästhetik und pseudo-intellektuellem Tech-Bro-Gehabe – ist keine Antwort auf den Nihilismus, sondern dessen performativer Vollzug. Die Neue Rechte und ihre SympathisantInnen verstecken sich hinter dieser Maske des „(post)ironischen Barbaren“: einer Pose, die sich zugleich über Ernsthaftigkeit erhebt und sich dennoch als Avantgarde behauptet. Ihre ProtagonistInnen agieren wie Figuren einer kantischen Parodie: Sie handeln, als ob sie einer transzendentalen Maxime folgen, nur um sich im nächsten Augenblick vom Spielcharakter ihres eigenen Handelns zu distanzieren.8 Kant würde hier keine Freiheit diagnostizieren, viel eher Heteronomie durch Zynismus, eine moralische Fehlleistung, die Freud als „Rationalisierung“ bezeichnen würde: Ein kulturelles Über-Ich wird simuliert, während der Wille zum Nihilismus schon längst regiert.9 Nietzsche wäre der schärfste Kritiker dieses Spiels, denn seine Idee des Barbaren setzt eine radikale „psychologische[] Nacktheit“ 10 voraus, eine existenzielle Offenheit, die sich nicht vom zynischen Lachen nährt, sondern vom Risiko zur Selbstgestaltung. Wenn Nietzsche schreibt, dass die „Barbaren“ „der größten Härte gegen sich selber fähig“ (ebd.) sein müssen, dann meint er eben keinen kalten Technokratismus, sondern ein kritisches Durcharbeiten der eigenen Verstrickung in das, was man selber kritisiert. Der Barbar ist also nicht der, der bestehende Ordnungen verspottet, sondern derjenige, der fähig ist, nach dem Zusammenbruch eine neue Ordnung zu schaffen, die sich nicht mehr auf die Ressentiments der alten stützt. Die Neue Rechte hingegen ersetzt Gestaltung durch Affektökonomie: Sie imitiert Tiefe, ohne sie zu erleiden. Ihre „Barbaren“ sind SchauspielerInnen in einem ideologischen Theater. Das Resultat ist kein neuer Mythos, sondern ein nihilistischer Kulturkampf, der sich an den Trümmern der Moderne berauscht, ohne dabei etwas Neues zu erdenken oder gar zu erbauen.
So führt die eigentliche Frage nach dem „Barbaren“ letztlich auf eine paradoxe Bewegung zurück: Kaum gestellt, so verrät diese Frage die eigene Sehnsucht nach dem Außen, das es nicht gibt – ein Symptom jener Dekadenz, die man zu überwinden hofft (und die Nietzsche selbst stark kritisiert hat). Auch dieses Essay hier bleibt – neben einer Analyse des Status Quo – selbst Teil einer Ordnung, die er infragestellt und zugleich fortschreibt. Die Barbarei unserer Gegenwart ist daher eben nicht das rohe Außen, sondern das subtile Innen: die totale Erschöpfung, die jede Revolte in Pose verwandelt; die Langeweile einer Welt, in der auch das „dagegen sein“ zum Ornament des Marktes wird. Die neuen Barbaren treten nicht als heroische Gestalten auf, sondern als Algorithmen – die unsere Aufmerksamkeit strukturieren, während wir noch glauben zu wählen. Es sind Machtapparate, die sich selbst als Fortschritt markieren und gerade darin die eigentliche Kultur liquidieren. Im Zustand der Entropie bleibt das Werden möglich – man denke nur an Deleuzes Werdensbegriff11: nicht als harmonische Lösung, sondern als riskante Bejahung von Differenz. Das Chaos ist nicht nur Zerfall, sondern gleichzeitig Bedingung für Schöpfung, eine Bewegung im Innern der Auflösung: das Risiko, ohne Garantie zu handeln, als Imperativ. Letztlich bleibt weder Barbar noch Humanist – nur die Frage, ob es möglich ist, im Bewusstsein der eigenen Verstrickung anders zu handeln, ohne dabei zu wissen, was dieses „Anders“ bedeuten kann.
Tobias Kurpat (geb. 1997 in Leipzig) studiert in der Klasse für Künstlerisches Handeln und Forschen an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Prof. Christin Lahr. In seiner Arbeit untersucht er virtuelle Räume als ideologisch aufgeladene Territorien und analysiert die Spannung zwischen technokratischen Machtstrukturen, Künstlicher Intelligenz und immersiven Medien. Dabei setzt er sich kritisch mit den Mythen des Silicon Valley sowie pseudowissenschaftlichen Narrativen auseinander. In Essays, Malerei und digitalen Praktiken erforscht er, wie postdigitale Infrastrukturen gestaltet, instrumentalisiert und ästhetisch zurückerobert werden können.
Quellen
Adorno, Theodor W. & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer 1969 [zuerst: Amsterdam: Querido 1947].
Dasgupta, Kushan, Nicole Iturriaga & Aaron Panofsky: How White nationalists mobilize genetics: From genetic ancestry and human biodiversity to counterscience and metapolitics. In: American Journal of Physical Anthropology 175/2 (2021), S. 387-398; doi:10.1002/ajpa.24150.
Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. München: Rogner & Bernhard 1976 [franz. Original: Nietzsche et la philosophie. Paris: PUF 1962].
Deleuze, Gilles & Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000 [franz. Original: Qu’est-ce que la philosophie? Paris: Éditions de Minuit 1991].
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1930.
Heidegger, Martin: Nietzsche. Der europäische Nihilismus. In: Gesamtausgabe Bd. 47. Frankfurt a. M.: Klostermann 2004; abrufbar auf https://www.beyng.com/gaapp/recordband/46.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga: Hartknoch 1785.
Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, hrsg. von Elisabeth Förster-Nietzsche. Leipzig: Naumann 1901 (abgerufen über Project Gutenberg: https://www.gutenberg.org/files/60360/60360-h/60360-h.htm). [Nicht von Nietzsche autorisiert!]
Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr Siebeck 1920 [zuerst in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904/5].
Bildnachweis
Artikelbilder: Ausschnitte aus der Installation „Fotoalbum (made in GDR)“ von Tobias Kurpat (Fotograf: Sven Bergelt)
Portrait: Foto von Aaron Frek
Fußnoten
1: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 13[31].
2: Heidegger, Der europäische Nihilismus, S. 7 f. (§ 1).
3: „Hustle Culture“ bezeichnet einen gesellschaftlichen Trend, in dem ständige Arbeit, Produktivität und beruflicher Ehrgeiz glorifiziert werden. Dabei wird das „Sich-Abrackern“ (to hustle) nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als erstrebenswerter Lebensstil inszeniert, oft auf Kosten von Freizeit, Gesundheit und Schlaf.
4: Vgl. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
5: Vgl. Theodor W. Adorno & Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung.
6: Vgl. Kushan Dasgupta, Nicole Iturriaga & Aaron Panofsky, How White nationalists mobilize genetics.
7: Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3.
8: Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
9: Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. Für eine vertiefte Analyse dieses Phänomens am Beispiel des neoreaktionär-„avantgardistischen“ KünstlerInnen-Kollektivs The Unsafe House vgl. meinen Artikel Wenn die Avantgarde rückwärts marschiert.
10: Nachgelassene Fragmente 1887, Nr. 13[31].
11: Vgl. Gilles Deleuze & Félix Guattari, Was ist Philosophie? und Deleuze, Nietzsche und die Philosophie.
Der Übermensch im Hamsterrad
Nietzsche zwischen Silicon Valley und Neuer Rechter
Dieser Essay, den wir mit dem ersten Platz des diesjährigen Eisvogel-Preises für radikale Essayistik auszeichneten (Link), untersucht Nietzsches Frage nach den „Barbaren“ im zeitgenössischen Kontext und analysiert, wie seine Philosophie heute politisch instrumentalisiert wird. Vor diesem Hintergrund zeigt der Text, wie Hustle Culture, Plattformkapitalismus und neoreaktionäre Ideologien den „Willen zur Macht“ ökonomisieren und zu einer neuen Form subtiler Barbarei werden: einer inneren Zersetzung kultureller Tiefe durch Marktlogik, technokratische Mythen und performativen Nihilismus. Dabei kann Nietzsches Denken gerade eingesetzt werden, um diese Tendenzen in ihrer Genealogie zu beschreiben, ihren immanenten Nihilismus zu enttarnen und einen (über-)humanen Gegenentwurf zu ihnen aufzuzeigen.
Barbarinnen – wenn Frauen zur Gefahr werden
Barbarinnen – wenn Frauen zur Gefahr werden


In der heutigen Welt, die sich modern und gleichberechtigt nennen will, wirken alte Muster fort – Rivalität statt Solidarität, Anpassung statt Aufbruch. Der Essay fragt provokant: Wo sind die Barbaren des 21. Jahrhunderts? Er zeigt das Entstehen einer neuen weiblichen Kraft – einer Frau, die nicht zerstört, sondern verweigert, die sich alten Rollen entzieht und aus Schmerz schöpferische Kraft gewinnt. Durch Beispiele aus der Realität und der Literatur versucht der Text zu zeigen, dass wahre Veränderung nicht in Gehorsam, sondern im mutigen „Nein“ beginnt – und dass Solidarität unter den Frauen die eigentliche Revolution sein könnte.
Wir prämierten den Text mit dem zweiten Platz des diesjährigen Eisvogel-Preises für radikale Essayistik (Link).
Wer ihn lieber anhören möchte, findet ihn zusätzlich eingelesen von Caroline Will auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie (Link) oder auf Soundcloud (Link).
I. Einleitung
Als ich vor über zwanzig Jahren mein Studium beendete, hatte ich das Gefühl, dass unsere Zeit gekommen war. „Jetzt sind wir dran, Mädels!“, dachte ich voller Enthusiasmus. Gebildet, mutig und stark wollten wir eine neue Realität schaffen, in der Frauen nicht mehr nur eine Nebenrolle spielen, sondern Schöpferinnen ihres eigenen Lebens sind. Es schien mir, als seien alle Grenzen meiner Phantasie und meiner Möglichkeiten offen.
Die Realität erwies sich jedoch als komplexer. Ja, das stimmt, wir Frauen sind heute deutlich präsenter als das noch zum Beispiel im 20. Jahrhundert der Fall war. In der Politik, Kultur und Wissenschaft sind zahlreiche beeindruckende Beispiele zu finden. Wir bekleiden hohe Ämter, kämpfen mutiger für unsere Rechte, gehen auf die Straße, um zu demonstrieren. Unter der Oberfläche der emanzipatorischen Erfolge bestehen jedoch weiterhin alte Strukturen fort. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen – gleichzeitig perfekte Arbeitnehmerinnen, Mütter und Betreuerinnen zu sein – sind nicht verschwunden. Es besteht weiterhin eine Diskrepanz zwischen Frauen- und Männerwelten: Eigenschaften, die bei Männern bewundert werden (Stärke, Ehrgeiz, Unabhängigkeit), werden bei Frauen oft negativ beäugt. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld: Frauen sollen sich einerseits emanzipiert und selbstbewusst zeigen, andererseits aber weiterhin traditionelle Vorstellungen erfüllen.
Meiner Meinung nach liegt das Problem bei uns Frauen in der mangelnden Solidarität untereinander. Die Frauen wurden nicht immer im Geiste der Gemeinschaft erzogen, sondern eher im Geiste der Rivalität und des Wettbewerbs, im ständigen Ringen um Anerkennung und Akzeptanz in einer patriarchalischen Welt. Dabei ist es gerade die Gemeinschaft, die die Möglichkeit eröffnet, individuelle Schwächen zu überwinden, neue Kräfte freizusetzen und bestehende Machtverhältnisse nachhaltig zu verschieben.
Allzu oft handeln wir allein und wiederholen dabei die uns auferlegten Muster der Rivalität. Wer nur gegeneinander kämpft, schwächt die eigene Position und verhindert die Entstehung einer solidarischen Bewegung. Die Erfahrung echter Gemeinschaft – das Teilen von Wissen, das gegenseitige Stärken, das Aufbrechen von Konkurrenz – ist dagegen unsere größte Ressource. Dabei liegt gerade in der Erfahrung der Gemeinschaft unsere größte Stärke.
Daher die Frage: „Wo sind die die Barbaren des 21. Jahrhunderts?“. Kann die moderne Frau zu einer Figur werden, die Nietzsche als „Barbar” bezeichnete – nicht als zerstörerische, sondern als schöpferische Kraft, die alte Ordnungen zerbricht, um Platz für Neues zu schaffen?
Vielleicht bedeutet dies, dass die Frau von heute nicht länger in den Kategorien denkt, die ihr vorgegeben wurden, sondern eigene Formen von Macht, Kreativität und Gemeinschaft entwickelt. In dieser Gestalt könnte die Frau tatsächlich zu einer historischen Kraft werden, die nicht nur Gleichheit fordert, sondern die Grundlagen des Miteinanders neu definiert.
II. Solidarität als Kraft
Die Geschichte zeigt uns, dass Männer über Jahrhunderte hinweg die Kunst der Zusammenarbeit perfektioniert haben. Armeen, Bruderschaften, Gewerkschaften – all dies basierte auf gemeinsamen Zielen, klaren Strukturen und unerschütterlicher Loyalität gegenüber der Gruppe. Frauen hingegen agierten meist als Einzelpersonen im familiären Umfeld. Uns wurde nie wirklich vermittelt, dass wir gemeinsam mehr erreichen können, dass Zusammenhalt nicht nur eine Tugend, sondern eine Überlebensstrategie ist.
Doch gerade in dieser Erkenntnis liegt ein Wendepunkt. Erst in der Gemeinschaft entdecken wir unsere wahre Kraft. Was in der Einsamkeit eine Last ist, wird durch viele Schultern geteilt und damit tragbar. Was allein wie ein leises Flüstern klingt, wird in der Gemeinschaft zu einer Stimme, die niemand ignorieren kann. Solidarität unter Frauen bedeutet, alte Muster der Rivalität hinter sich zu lassen, um neue Ordnung zu schaffen. Es geht nicht darum, Männer nachzuahmen, sondern eigene Formen der Kooperation zu entwickeln – geprägt von Empathie, Kreativität und gegenseitiger Stärkung.
III. Nietzsche und die Figur des Barbaren
Friedrich Nietzsche verwendete den Begriff „Barbar“ in einem Sinn, der weit vom Alltagsverständnis abwich. Er meinte damit nicht einen primitiven, wilden Menschen, sondern jemanden, der die Kraft hat, die Grenzen der alten Moral zu überschreiten. Der Barbar war für ihn eine kreative Figur – jemand, der sich nicht scheut, die bestehende Ordnung zu zerstören, um Platz für neue Werte zu schaffen.
Nietzsche sah im Barbaren die Antwort auf den Nihilismus der Moderne. Wenn alte Wertesysteme zerfallen, braucht es Menschen, die den Mut haben, sich ins Unbekannte zu wagen und der Welt von Grund auf einen neuen Sinn zu geben. Der Barbar ist also kein Zerstörer aus Hass, sondern jemand, der durch Verweigerung und Rebellion Raum für die Zukunft schafft.
Nietzsche schrieb darüber in männlichen Kategorien – seine Sprache ist voller Figuren von Kriegern und „Übermenschen“. Über Frauen äußert er sich oft ironisch, manchmal sogar misogyn. Und doch lässt sich Nietzsche „gegen ihn” lesen und erkennen, dass seine Kategorie des Barbaren geschlechtsneutral ist. Nicht das Geschlecht, sondern die innere Stärke und die Authentizität entscheiden über die Fähigkeit, neue Werte hervorzubringen.
In dieser Lesart wird die Figur des Barbaren – oder besser: der Barbarin – zu einem Symbol für Transformation. Sie verkörpert die Kraft, nicht nur Teil einer Geschichte zu sein, sondern selbst Geschichte zu schreiben.
IV. Eine Frau – Die Barbarin
Wenn wir den Barbaren als eine Figur der kreativen Verweigerung betrachten, dann verkörpert gerade die moderne Frau eine Figur der Barbarin.
Über Jahrhunderte hinweg wurde sie an den Rand der patriarchalischen Kultur gedrängt – ein Rand, der zugleich Ausschluss und Widerstand ermöglichte. Von dort aus konnte sie nicht nur beobachten, sondern auch einen neuen Weg erlernen, um das gesamte System in Frage zu stellen.
Ihre „Barbarei“ besteht nicht aus Gewalt, sondern der Verweigerung, Rollen anzunehmen, die sie verstummen lassen. Der Verweigerung, sich dem System anzupassen, das sie als „minderwertig“ einstuft. Verweigerung des Lächelns, wenn Gehorsam verlangt wird. In der Verweigerung, die Regeln eines Spiels zu akzeptieren, das sie nie erfunden hat.
Eine Barbarin ist eine Frau, die sich weigert, eine „bessere Version eines Mannes“ zu sein. Sie spielt nicht nach fremden Regeln. Sie will kein Material im Projekt eines anderen sein, sondern schreibt ihre eigenen Regeln. Ihre Stärke entsteht aus Schmerz – aus der Erfahrung von Verrat, Verlust, Gewalt und verwandelt sich in die Entscheidung, nicht aufzugeben und alte Abhängigkeiten zu durchbrechen. Sie durchschneidet die alten Abhängigkeiten, wie eine Kriegerin, die ihre Fesseln sprengt. Sie trägt die Spur des „Außen“ in sich – und genau daraus zieht sie ihre schöpferische Kraft.

V. Frauen in der Mafiawelt
In Alex Perrys Roman The Good Mothers lernen wir die Geschichten von Frauen kennen, die mit der kalabrischen Mafia „Ndrangheta“ in Verbindung stehen. Dort sind Männer – Väter, Brüder, Partner – keine romantischen Krieger, sondern kalte, organisierte Kriminelle. Im Namen der „Ehre“ und „Loyalität“ foltern, morden und zerstören sie das Leben ihrer eigenen Familien. In diesem System soll die Frau nur ein Rädchen im Getriebe sein: gehorsam, still, unterwürfig. Doch gerade in dieser Maschinerie entstehen die Risse.
Frauen wie Lea Garofalo, Maria Concetta Cacciola und andere beginnen, „Nein” zu sagen. Ihr Widerstand ist keine heroische Pose, sondern entspringt der schieren Verzweiflung. Sie verraten die Clans, brechen das Schweigegelübde, sie wenden sich an den Staat, wissend, dass dies einem Todesurteil gleichkommt.
In einer Welt, in der Schweigen Überleben bedeutet, wird ihre „Stimme“ zur gefährlichsten Waffe. Es ist ein Akt kreativer Zerstörung – echte Barbarei gegenüber einem kranken System.
Sie besitzen keine Armee, kein Geld und keine Macht. Sie haben nur ihr Wort, ihre Weigerung, ihren Widerstand. Ihr „Nein“ wird zu einem Akt der kreativen Zerstörung: einer Barbarei, die nicht auf Blut, sondern auf Verweigerung gründet. Und das erweist sich stärker als der gesamte Mafia-Clan. Die Tragik liegt darin, dass viele von ihnen den höchsten Preis zahlen. Doch ihr Verrat ist zugleich ein Aufbruch – ein Zeichen, dass selbst in einem System, das totale Kontrolle verlangt, der Bruch möglich ist.
Ihr Widerstand beweist, dass die größte Bedrohung für die Mafia nicht von außen kommt – nicht von Polizei oder Politik, sondern von den Stimmen jener, die man jahrelang zum Schweigen erzogen hat.
VI. Margaret Atwoods Gilead
Ein ähnliches Bild – wenn auch in literarischer Form – zeichnet Margaret Atwood in ihren Romanen Der Report der Magd und Die Zeuginnen. Gilead ist eine totalitäre Utopie, in der Frauen auf ihre Funktionen reduziert werden: Mutter, Dienerin, Objekt eines Rituals. Ohne Namen, Sprache und Freiheit sollen alle Mägde zur Verfügung stehen, um in dem Projekt der männlichen Herrschaft die Menschheit „neu“ zu definieren.
Doch der erste Widerstand entsteht nicht durch Waffen, sondern durch Verweigerung. June, Emily, Moira – zunächst eingeschüchtert – entdecken, dass die wahre Kraft in der Gemeinschaft liegt. Geflüsterte Worte, verstohlene Blicke, Solidarität werden zum Beginn einer Revolution. In diesem Sinne ist ihre Schwesternschaft eine moderne Form der Barbarei: nicht auf Dominanz gegründet, sondern auf Solidarität und der Weigerung, sich an der Lüge zu beteiligen.
Atwoods Bild macht deutlich: Barbarei ist hier nicht rohe Gewalt, sondern die kreative Kraft, sich zu entziehen, sich neu zu verbünden, sich nicht brechen zu lassen. So zeigt Gilead, dass selbst im scheinbar totalen System – in dem die Frauen auf Symbole reduziert, auf Rollen fixiert, auf Unterwerfung dressiert werden – der Aufbruch möglich bleibt. Jede Verweigerung, jedes Weitergeben von Hoffnung ist ein Angriff auf die alte Ordnung. Die Solidarität der Unterdrückten wird zur Waffe. Die „Barbarin“ in Gilead ist also jene, die nicht nur überlebt, sondern das Überleben in Widerstand verwandelt – und dadurch den Raum für eine andere Zukunft öffnet.
VII. Barbarei als Verweigerung
Die Figur des Barbaren der heutigen Zeit ist keine Figur des Kriegers mit dem Schwert. Er kommt nicht von außen, um Mauern niederzureißen und Städte zu plündern. Er ist jemand, der von innen heraus „Nein” zu einer Ordnung sagt, die ihn zerstört. Er ist eine innere Figur, ein Störenfried, der mitten in der Ordnung lebt – und dennoch „Nein“ sagt zu einer Zivilisation, die ihn verschlingt.
Die Barbarei des 21. Jahrhunderts ist eine subtile Kunst der Verweigerung: die Verweigerung des Gehorsams, die Verweigerung, nach den Drehbüchern anderer zu leben. Die Verweigerung, sich in Rollen pressen zu lassen, die nur der Stabilität des Systems dienen.
Heute brauchen wir keine weitere Utopie. Wir brauchen den Mut, nicht als Rohstoff für die Projekte anderer zu dienen. Die Barbarin ist nicht mehr der Eroberer, sondern der Verweigerer, jemand, der sagt: Heute? Nein Danke!
VIII. Persönliche Perspektive
Ich wurde Ende der 1970er Jahre im kommunistischen Polen geboren. Frauen waren überall – auf den Feldern, in Büros, manchmal auch in der Politik. In meiner Kindheit wirkten sie unersetzlich zu sein. Heldinnen des Alltags.
Nach Jahren wurde mir klar, wie sehr wir in alten Mustern verhaftet waren. Bei Demonstrationen riefen wir Parolen, aber im Alltag überschritten wir selten die Schwelle des echten Widerstands. Wir wählten immer noch das „bekannte Übel”, anstatt das Risiko einzugehen, etwas Neues aufzubauen. Wir gehorchten, anstatt zu verweigern.
Heute sehe ich, dass die größte Kraft diejenigen Frauen haben, die Schmerz erfahren haben: Verrat, Abtreibung, Armut, Gewalt. Sie sind es, die nach dem hundertsten Sturz wieder aufstehen können. Sie sind es, die keine Abhängigkeit mehr suchen, sondern sich für die Verweigerung entscheiden. Sie sind die wahren Barbarinnen – diejenigen, die sich weigern, am System teilzunehmen, das an einer kompletten Anpassung beruht.
IX. Schlussfolgerungen
Wo sind also die Barbaren des 21. Jahrhunderts? Es sind nicht mehr fremde männliche Krieger vor den Toren, sondern Frauen, die sich von innen heraus weigern, an dem alten Tändeln teilzunehmen. Sie sind es, die am Rande stehen und die Kraft haben, die Grundlagen des Systems zu zerstören. Nicht durch Gewalt, sondern durch Verweigerung, durch Solidarität, durch Gemeinschaft.
Barbarei ist heute nicht das Ende der Zivilisation, sondern die Möglichkeit eines Neuanfangs. Es ist das „Nein“, das zur Sprache der Freiheit wird. Es ist der Mut, sich nicht für das bekannte Übel zu entscheiden, sondern in die Dunkelheit einzutreten und dort – gemeinsam – etwas Neues zu schaffen.
Vielleicht liegt gerade darin die paradoxe Wahrheit unserer Zeit: Die Frauen, die jahrhundertelang an den Rand gedrängt, als „minderwertig“ behandelt, zur Unsichtbarkeit gezwungen wurden, sind heute die Einzigen, die den Mut haben, „Barbarinnen“ zu sein.
Das Artikelbild trägt den Titel Barbarin des 21. Jahrhunderts und wurde von der Autorin selbst gemalt (Gemälde, Acryl/Öl). Sie schreibt selbst dazu: „Die Barbarin des 21. Jahrhunderts bittet nicht um Erlaubnis und rechtfertigt sich nicht. Geboren aus Zivilisationsmüdigkeit, trägt sie einen Bruch in sich – zwischen dem Menschlichen und dem, was sich der Zivilisation entzieht. Ihr Gesicht ist eine Landkarte moderner Emotionen: Wut, Ironie, Zärtlichkeit und Schmerz verschmelzen zu einer Maske, die offenbart, statt zu verbergen. Sie blickt nicht in die Vergangenheit, sondern durch uns hindurch, zerstört Illusionen der Harmonie und zeigt, dass Schönheit aus Mut und nicht aus Ordnung entsteht. Die Figur ist kein Porträt, sondern ein Spiegel.“
Olimpia Smolenska wurde 1976 in Zielona Góra, Polen, geboren. Mit siebzehn Jahren ging sie nach Neuzelle in Brandenburg, um dort ihr Abitur an einem deutsch-polnischen Gymnasium zu absolvieren. Ihr Diplom in Kulturwissenschaften schloss sie 2010 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) mit einer Arbeit zum Thema Integration über die Sprache – unter Berücksichtigung des Zweitspracherwerbs polnischer Gymnasiasten im brandenburgischen Neuzelle ab. Derzeit arbeitet sie an der Goethe-Universität im Geschäftszimmer des Instituts für Philosophie.
Literatur
Atwood, Margaret: Der Report der Magd. Übers. v. Helga Pfetsch. München 1987.
Dies.: Die Zeuginnen. Übers. v. Monika Baark. Berlin 2019.
Perry, Alex: The Good Mothers. The Story of the Three Women Who Took on the World’s Most Powerful Mafia. New York 2018.
Barbarinnen – wenn Frauen zur Gefahr werden
In der heutigen Welt, die sich modern und gleichberechtigt nennen will, wirken alte Muster fort – Rivalität statt Solidarität, Anpassung statt Aufbruch. Der Essay fragt provokant: Wo sind die Barbaren des 21. Jahrhunderts? Er zeigt das Entstehen einer neuen weiblichen Kraft – einer Frau, die nicht zerstört, sondern verweigert, die sich alten Rollen entzieht und aus Schmerz schöpferische Kraft gewinnt. Durch Beispiele aus der Realität und der Literatur versucht der Text zu zeigen, dass wahre Veränderung nicht in Gehorsam, sondern im mutigen „Nein“ beginnt – und dass Solidarität unter den Frauen die eigentliche Revolution sein könnte.
Wir prämierten den Text mit dem zweiten Platz des diesjährigen Eisvogel-Preises für radikale Essayistik (Link).
Wer ihn lieber anhören möchte, findet ihn zusätzlich eingelesen von Caroline Will auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie (Link) oder auf Soundcloud (Link).
Der Sinn ist gefallen, doch ich träume noch
Der Sinn ist gefallen, doch ich träume noch


Dieser Essay widersetzt sich der Leere einer Welt, die zu Gunsten der Funktion ihren Sinn verloren hat. Mit Nietzsche, Camus und dem Schatten des Sisyphos im Rücken, suche ich nach dem Wilden, nach dem Träumerischen, nach jenen, die sich nicht fügen und sich weigern, zu verstummen. Ich schreibe über die modernen Barbaren: Über Menschen, die das Nichts sehen und dennoch weiteratmen, weiterschreien, weiterträumen. Dieser Text ist meine Hymne an den Trotz, an das Ungeformte, an den Mut, die Sinnlosigkeit nicht zu fürchten. Denn selbst ohne Sinn werde ich nicht verstummen. Nicht jetzt, nicht in dieser Welt. Und eine andere gibt es nicht.
Der Essay entstand als Antwort auf die Preisfrage des diesjährigen Eisvogel-Preises (Link). Wir zeichneten ihn nicht aus, doch publizieren ihn dennoch als wichtigen Beitrag zum Thema der «neuen Barbaren» aufgrund seiner ausserordentlichen literarischen Qualität. Wer ihn lieber anhören möchte, findet ihn zusätzlich eingelesen von Caroline Will auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie (Link) oder auf Soundcloud (Link).
Die verlorene Welt und die Suche nach den neuen Barbaren
«Wo sind die Barbaren?», fragte Friedrich Nietzsche. Meine Stimme hallt der seinen nach wie ein Echo. Ja, wo sind sie denn, die anderen Barbaren? Denn ich bin einer von ihnen und stehe hier. Nicht mit einem Schwert, nicht mit Feuer, sondern mit einem Traum in der Hand, einem Traum, der so vergänglich wirkt wie die Wolken am Horizont. Doch ich kann und werde ihn nicht loslassen. Ich werde mich ihnen nicht fügen. Die Welt hat sich eingerichtet: Ihre Werte sind glatt und ihre Gedanken steril. Dennoch bin ich hier und rufe, doch niemand hört mich, und sehen wollen sie auch nicht. Alles hat einen Platz in dieser traurigen Welt, ausser das Wilde und das Ungeformte.
Nihilismus und die Geburt der Träumer
Der Nihilismus, von dem Nietzsche sprach, war nicht bloss eine Warnung, nein, es war der Untergang der Welt selbst. Die Werte sind wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Schuld daran ist nicht die Evolution, nicht der Lauf der Zeit, sondern der Mensch selbst. Denn wir sind müde geworden und haben unseren Kampfgeist verloren. Daraus entstand eine Welt, die sich mit dem Schein von etwas Fundamentalem zufriedengibt. Technik ersetzt die Neugierde, Fortschritt ersetzt den Willen und alles hat eine Funktion, doch nichts hat einen Sinn. Und irgendwo inmitten dieser funktionalen Wüste stehen wir, die Träumer. Wir werden als unbrauchbar abgestempelt, denn wir fühlen zu viel, wir brechen zu leicht und wir wollen die Uniform nicht anziehen. Vielleicht sind wir die neuen Barbaren. Nicht, weil wir zerstören, sondern, weil wir nicht gehorchen, und das scheint den grössten Schaden überhaupt anzurichten.
Die lautlose Invasion der Leere
Die Leere kam also nicht mit einer Fanfare. Sie kündigte sich nicht an mit einem: «So, hier bin ich.» Nein, sie war plötzlich da, still und selbstverständlich, und wir haben es nicht einmal gemerkt. Jetzt ist es zu spät. Die Leere ist längst unter uns verteilt; sie sitzt in unseren Körpern, sie ist in unsere DNA geschrieben. Wir leben in einer funktionalen Welt, in der alles möglichst simpel sein muss, denn jeder Gegenstand, ja, selbst jedes Lebewesen erfüllt eine bestimmte Funktion. Wir sind geprägt vom Gedanken, dass wir die Welt optimieren müssen, dass das menschliche Leben praktischer werden soll, dass alles schneller und immer schneller funktioniert. Doch mir wird übel auf dieser Achterbahn.
Sisyphos, unser alter Freund
Funktion wird als Sinn missbraucht, weil wir den Gedanken nicht ertragen, dass unsere Existenz vielleicht gar keinen Sinn hat. Ich denke an den Mythos des Sisyphos. An jenen Mann, der von den Göttern dazu verdammt wurde, einen Stein den Berg hinaufzurollen, nur um ihn immer wieder hinunterstürzen zu sehen, für alle Ewigkeit. Sisyphos’ Aufgabe war sinnlos und damit auch funktionslos. Was bringt sie ihm schlussendlich? Genau: Nichts. Und doch er tat es, aus Trotz gegenüber den Göttern. Er wollte ihnen die Genugtuung seiner Niederlage nicht gönnen, also machte er weiter, auch ohne Ziel und ohne Ertrag. Ich denke auch an Albert Camus, der diesen Mythos als Ebenbild der menschlichen Existenz betrachtete: Das Leben ist sinnlos, und doch leben wir weiter, einfach so, weil wir es können. Wir tanzen auf dem Grab der Sinnhaftigkeit, nicht weil wir glauben, sondern weil es uns Freude macht. Die heutige technische Welt tut so, als kenne sie weder Camus noch Sisyphos, und wer weiss, vielleicht kennt sie die beiden wirklich nicht. Sie ist zu verbissen darin, Fortschritt zu machen. Zu verbissen darin die grösste Erfindung des Jahrhunderts zu vollbringen. Und wofür? Genau, für einen angeblichen Sinn. Doch diesen Sinn gibt es nicht, und etwas anderes zu behaupten wäre eine Lüge.
Technik als Religion des Fortschritts
Nietzsche warnte einst vor einem Nihilismus, der den Willen des Menschen zerstören würde. Doch seine Angst war nur ein Bruchteil von dem, was wirklich eingetreten ist: Die Menschen sind nicht nur müde geworden, sie leben eine Lüge. Technik, und das Streben nach dem Sinn, den sie verspricht, ist der neue Gott.
Widerstand der modernen Barbaren
In dieser Welt, die alles braucht, Zahlen, Tempo, Ziele, und nicht weiss wozu, gibt es Körper, die zu weich sind, Seelen, die zu langsam träumen und Ziele, die nichts weiter sind als Bilder über den Wolken. Vielleicht sind sie es, die Widerstandsfreudigen, die den Nihilismus stürzen wollen, auch wenn er längst eingetreten ist. Sie erkennen den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe, doch sind sie bereit, mit ihren Ideen das Menschliche, das Wilde und das Träumerische zurückzuholen. Ich nenne sie die modernen Barbaren.
Randfiguren des Systems
Die modernen Barbaren werden ausgestossen. Denn die technische Welt, längst vom Nihilismus wie eine Seuche befallen, ist bequem geworden, und niemand will sie hergeben. Die Barbaren stören. Sie erinnern. Sie hinterfragen. Also drängt man sie an den Rand, denn sie sind in der Unterzahl. Man nennt sie «verrückt», «gestört», «krank im Kopf». Und erneut findet eine Umkehrung der Werte statt, eine, wie sie Nietzsche einst voraussah, unfreiwillig Prophet. Die Barbaren sind das Abbild des Übermenschen: Jene, die verstanden haben, worum es geht, was wirklich zählt, und die keine Angst haben vor der Sinnlosigkeit. Der Rest aber? Die sind Sklaven. Sklaven, die sich blind von einem Pseudo-Sinn treiben lassen. Eigentlich sind sie schwach, doch Technik macht sie stark. Die Technik, diese Pseudo-Funktionalität, wirkt wie Waffen in einem Videospiel, und die Sklaven sind nichts als Charaktere. Avatare mit Namensschild. Nur dort in ihrer Scheinwelt sind sie stark. Nur dort, gemeinsam, als Allianz der Armen. Sie selbst würden sich nie arm nennen, nein, denn in ihrer Welt ist alles bedeutungsvoll: Sie glauben, sie existieren wegen des Urknalls, weil der Zufall es so wollte. Sie gehen morgens zur Arbeit, weil sie «einen Unterschied machen» wollen. Sie kaufen Stocks, denn Reichtum ist das Ziel. Doch die Wahrheit, die sie nicht hören können, oder nicht hören wollen, ist diese: Das alles ist eine grosse Lüge. Einen Sinn hat es nie gegeben. Aber wer würde schon den Barbaren glauben? Die passen ja nicht ins System. Die stören nur. Die sind doch sowieso krank im Kopf. Und im Rennen um die Funktionalität ist für sie kein Platz vorgesehen.
Nützlichkeit als Zwang
Wer morgens nicht aufstehen will, ist depressiv. Wer keinen Ehrgeiz zeigt, gilt als behandlungsbedürftig. Wer zu leise oder zu sensibel ist, der ist falsch und passt nicht rein. Niemals wird die Welt hinterfragt, sondern immer nur der Mensch, der an ihr zerbricht. Doch es heisst nicht «Warum bricht er?», sondern: «Deshalb sollte er nicht brechen.» Und schon sitzt der Barbar mit einer Diagnose in einem zu hellen Raum und wundert sich, warum seine Augen brennen.
Denn alles, was den Fortschritt der Technologie stoppen könnte, alles, was eine Gefahr für die robotisierten Menschen darstellen könnte, wird eingesperrt. Nicht Heilung ist das Ziel, nicht das Wiederherstellen eines Wohlbefindens, sondern eine Notlösung: Die Barbaren sollen funktionsfähig werden. Nutzbar und anpassbar. Daraus entsteht eine Zwangsnorm, in der Individualität und Menschlichkeit keinen Platz mehr haben. Am Ende zählt also nicht, ob es einem Menschen besser geht, sondern nur, dass es weitergeht.
Simulation, Scheinwelt und der Hunger nach Echtheit
Die Welt ist schon lange nicht mehr echt, sie ist effizient. Und das reicht den meisten. Doch nicht den Barbaren. Sie sehen, dass der Mensch den Sinn verloren hat, und trotzdem suchen die Barbaren weiter danach. Alles, was man ihnen dafür anbietet, sind Klicks und Geräte. Die ganzen Avatare merken längst nicht mehr, dass sie in einer Simulation leben, denn es ist bequem und es gibt Belohnungen, wenn sie mitmachen. Genau wie Gott einst das Paradies versprach. Die Barbaren sehen, dass die Welt brennt und dass sie dringend Hilfe benötigen. Doch sind ihnen die Hände gebunden und als Trost wird ihnen Bluetooth angeboten. Es ist alles fort.
Die letzte Rebellion
«Es ist alles fort», flüstere ich vor mich hin und betrachte die Gestalt im Spiegel. Sie ähnelt mir sehr, doch ihre Augen sind müde und ihre Seele wirkt leer. Auch ich werde langsam müde, denn Barbarin sein, ist anstrengend. Es gibt Tage, da möchte ich einfach dazugehören. Da will ich morgens aufstehen und in das System passen. Ich sehe die Uniform, die über meinem Stuhl hängt, und stelle mir vor, wie es wäre, zu lächeln, wenn sie es erwarten. Ich wünschte, meine Gedanken wären einfacher, doch ich kann sie nicht ausschalten und ich will es auch nicht, denn ich glaube noch an das Wilde. Ich glaube an die Traumwolken, die ich selbst erschaffen habe, mit meinen eigenen Werten, mit meinem eigenen Sinn. Nicht, weil ich die Sinnlosigkeit nicht aushalte, sondern, weil ich die Kraft habe, etwas zu schaffen, genau wie Sisyphos. «Wo sind die Barbaren?», fragte Friedrich Nietzsche. Meine Antwort hört er längst nicht mehr, doch spreche ich sie aus: «Ich bin hier.» Meine Beine sind noch nicht so müde, dass sie mich nicht mehr tragen würden, und in meinen Armen trage ich noch genug Kraft, um meine Träume zu halten. Ich habe der Welt nichts zu bieten, nicht wirklich; aber ich gebe nicht auf. Und vielleicht ist das meine letzte Form von Rebellion: Nicht still zu werden. Denn selbst, wenn ich verliere, ich bin eine Barbarin. Und das schreibe ich mit Stolz.
Giulia Romina Itin wurde 2007 in der Nähe von Luzern geboren und studiert derzeit Philosophie und Geschichte an der Universität Basel. In ihren Texten setzt sie sich mit existenziellen und gesellschaftskritischen Fragen auseinander: Sinn und Sinnlosigkeit, Auflehnung, Identität, das Träumerische und der Widerstand gegen das Vorgeformte. Ihr Denken wird vor allem von Friedrich Nietzsche und Albert Camus geprägt, deren Perspektiven auf Freiheit, Revolte und Absurdität ihren Blick für die Brüche der Gegenwart schärfen. Neben dem Studium schreibt Giulia Lyrik und Prosa, um in einer sinnleeren Welt nicht innerlich zu verstummen. Schreiben bedeutet für sie, weiterzufragen, wo andere schweigen.
Das Artikelbild stammt von der Autorin. Sie schreibt dazu: «Ich habe es im Januar 2025 selber fotografiert, irgendwo zwischen Madeira und Teneriffa auf offenem Meer. Ich habe dieses Bild gewählt, weil es dieselbe Stimmung trägt wie mein Text: Schwere Wolken, Lichtbrüche und ein Himmel, der zugleich droht und träumt. Diese Wolken erinnern mich an die ‘Traumwolken’, von denen ich im Text spreche. Jene, die ich mir selbst erschaffen habe, trotz einer Welt, die Sinn verloren hat. Das Foto zeigt eine Wirklichkeit, die dunkel, aber nicht hoffnungslos ist, und genau aus dieser Motivation heraus existiert mein Text.»
Der Sinn ist gefallen, doch ich träume noch
Dieser Essay widersetzt sich der Leere einer Welt, die zu Gunsten der Funktion ihren Sinn verloren hat. Mit Nietzsche, Camus und dem Schatten des Sisyphos im Rücken, suche ich nach dem Wilden, nach dem Träumerischen, nach jenen, die sich nicht fügen und sich weigern, zu verstummen. Ich schreibe über die modernen Barbaren: Über Menschen, die das Nichts sehen und dennoch weiteratmen, weiterschreien, weiterträumen. Dieser Text ist meine Hymne an den Trotz, an das Ungeformte, an den Mut, die Sinnlosigkeit nicht zu fürchten. Denn selbst ohne Sinn werde ich nicht verstummen. Nicht jetzt, nicht in dieser Welt. Und eine andere gibt es nicht.
Der Essay entstand als Antwort auf die Preisfrage des diesjährigen Eisvogel-Preises (Link). Wir zeichneten ihn nicht aus, doch publizieren ihn dennoch als wichtigen Beitrag zum Thema der «neuen Barbaren» aufgrund seiner ausserordentlichen literarischen Qualität. Wer ihn lieber anhören möchte, findet ihn zusätzlich eingelesen von Caroline Will auf dem YouTube-Kanal der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie (Link) oder auf Soundcloud (Link).
„Friede mit dem Islam“?
Wanderungen mit Nietzsche durch Glasgows muslimischen Süden: Teil 2
„Friede mit dem Islam“?
Wanderungen mit Nietzsche durch Glasgows muslimischen Süden: Teil 2


Im zweiten Teil seines Artikels über seine Reise durch den muslimisch geprägten Süden Glasgows geht unser Stammautor Henry Holland vertieft auf Nietzsches immer wieder aufflammende Beschäftigung mit der Religion Mohammeds ein, erläutert näher, wie der französische Künstler und Theoretiker Pierre Klossowski in seinem experimentellen Roman Der Baphomet Nietzscheanismus, sexuelle Transgression und vom Islam inspirierte Mystik in eigensinniger Weise verband und kehrt dann noch einmal zurück in die schottische Großstadt, um seinen Reisebericht abzurunden.
Wir publizieren diesen Artikel zunächst nur im englischen Original. Eine deutsche Übersetzung folgt in Kürze.
I. Nietzsche’s Historical Islam?
Our famously philosophizing rambler was mainly ignorant, creatively rather than stupefyingly so, of the historiographical argument voiced in Part One: the new religion spread in the first centuries following the Revelation to Mohammed primarily through speaking to new adherents, rather than coercing them. Instead, Nietzsche read Julius Wellhausen, historian of ancient religions, and provider of perhaps the most comprehensive histories of early Islam available in German in this period. Besides the author’s account of pre-Islamic culture in the Arabic world, published 1887, in which the author depicts Islam ‘as the culmination of the religious development of Arabic heathendom’, Nietzsche also devoured Wellhausen’s singular and furore-generating histories of ancient Judaism, prior to penning The Antichrist, which has also be translated as The Anti-Christian, in 1888.1 Wellhausen’s were only some of the flurry of ‘orientalist’ and Islam-focussed texts appearing in German, or in German translation, from the 1860s, which Nietzsche couldn’t get enough of. These included Gifford Palgrave’s Journeys Through Arabia, and several works by the era’s star orientalist, Max Müller. Nietzsche had read and excerpted Max Müller’s Essays on eastern religions in 1870-1871, finding confirmation that at least a ‘part of the Buddhist canon’ should be considered ‘nihilist’.2 Much points towards Müller’s writings on Indian philosophy as an entry point for Nietzsche’s later obsession with what he calls The Legal Code of Manu, and with what Indologists call the Manusmṛti — a metrical, Sanskrit text, written between 200 BCE-200 CE.3 From this base, Nietzsche’s immediate guide to the Code of Manu was what modern scholar Andreas Urs Sommer decrees a ‘highly dubious source’ in religious science terms, Louis Jacolliot’s 1876 book Les législateurs religieux. Manou. Moïse. Mahomet.4 Inspired by Jacolliot’s polemical juxtaposition of Manu with the Prophet, Nietzsche sought to bind Manu and Islam together, in a dense fragment from spring 1888, spaced carefully on the page but only published posthumously, which attempts a meta-philosophy of ‘Aryan’ and ‘Semitic’ religion:
What a yea-saying Aryan religion, spawned by the ruling classes, looks like:
Manu’s lawbook .
What a yea-saying Semitic religion, spawned by the ruling classes, looks like:
Muhammed’s lawbook. The Old Testament, in its older parts
What a nay-saying Semitic religion, spawned by the oppressed classes, looks like:
according to Indian-Aryan concepts: The New Testament — a Chandala religion
What a nay-saying Aryan religion, which has grown under the ruling estates, looks like
: Buddhism.5
Bizarrely, fantastically, some progressive Muslims are now turning to Nietzsche’s conception of Islam as a religion created by an exceptional (late ‘heathen’, Arabian, Medina-based) ruling class, which showed much metaphorical spunk. They view this as a pluralistic bastion against a singularizing, revivalist tendency among their co-religionists. The latter readily say ‘no — Islam was and is and can never be this way’; thus shutting down the conversation on how it could still serve as a life-affirming, modern religion. Nietzsche integrates his sketch linking Manu’s and Muhammed’s ‘law books’ into his best-known position on Islam, chapter 60 of The Anti-Christian. Ready for print by November 1888, the severe and permanent breakdown in Nietzsche’s mental health in January 1889 meant that the book didn’t appear until 1894, edited by his sister, and in a doctored form. Following the appearance of Colli and Montinari’s authoritative edition from the 1960s on, we can now be sure what Nietzsche wanted to say about the youngest major monotheism. Sounding like the rant a brilliant orator might deliver from Speakers’ Corner in Hyde Park, Nietzsche pounds Christianity with a barrage of heavy, insulting charges and praises Islam for how it manifested in ‘Moorish’ culture:
Christianity has conned us out of the harvest of the culture of antiquity and later it conned us out of the harvest of Islamic culture. The wonderful, Moorish culture world of Spain, fundamentally more familiar to us and speaking to our senses and taste more than Rome and Greece do, was trodden into the ground — I won’t say by what kind of feet — and why? Because it had noble instincts, men’s instincts to thank for its emergence, because it said yes to life, even through the rare and refined delicacies of Moorish life.
Condemning the Crusades that decimated this lifeworld, and the German nobility for their part in the Crusaders’ plundering, our orator suggests causes for this cultural degenerateness, and enjoins the reader to take sides in this culture clash:
Christianity, alcohol — the two large means of corruption … Per se, a choice shouldn’t even exist concerning Islam and Christianity, just as little as a choice should exist between an Arab and a Jew.6 The decision is given, no one is free to still choose something in this case. Either one is a Chandala or one is not … “War with Rome down to the knife! Peace, friendship with Islam!” — this is how that great free spirit Frederick II [1194-1259 CE], the genius amongst the German Kaisers, experienced and acted [in the situation] .7
Dividing all historical agents into either ‘Chandala’ or ‘the noble-minded [die Vornehmen]’ is a specifically 1888 move in Nietzsche’s philosophy. He appropriates the former term from Hinduism, where it means a member of the lowest caste (and specifically those who dispose of corpses), and makes it stand for ‘the lower [classes of the] people, the outcasts, and “sinners”’ the world over.8 Insisting that those who participated in Islam’s beginnings and enabled it to flourish are not Chandala is Nietzsche’s way of separating Islam categorically from latter-day, decadent Christianity. This taking-of-sides is picked up by Roy Jackson, author of seemingly the only full study on the subject in recent years, who maintains that ‘Islam can learn a good deal from Nietzsche’s critique of the “dead God” of Christianity’.9 By contending that Nietzsche doesn’t disown religious lives as such, but rather merely life-denying forms of the religious impulse, Jackson can set out the ‘two most fundamental options’ Islam is facing, either
to follow the same trajectory of Christianity in Europe and turning [sic.] its God into the ‘dead God’ that Nietzsche is so critical of, or to learn from Nietzsche’s religiosity and embrace a ‘living God’ that does not perceive secularisation as an enemy.10
Jackson’s intellectual manoeuvrings are hardly watertight. As Peter Groff reminds us, although Nietzsche’s modes and means of thinking are so radical that they go beyond atheism, this going beyond does not constitute a return to theism.11 But what matters here is not whether all the substrata of Jackson’s argument convince — they don’t; and Nietzsche’s own picture of a ‘yes-saying’ religion fits poorly to the religiosity on Pollockshields’ streets today — but rather the political and cultural battles, inter-Islam, that motivate Jackson to turn to Nietzsche in the first place. These are battles about the right way to re-encounter the religion’s ‘“key paradigms”: the Qur’an, the Prophet Muhammad, the city-state of Medina, and the four Rightly-Guided Caliphs [632-661 CE]’.12 For Jackson and his camp, this re-encounter must be ‘critical-historical’, so that believers can excavate honestly what Islam has been and could become, in semi-secular modernity. Groff and Jackson pit this approach against the way recent revivalist (Islamist) thinkers like Mawlana Mawdudi (1903-79 C.E.) have, transhistorically, refused to re-encounter these same paradigms, insisting instead that they are beyond critique, ‘pristine and all-encompassing’.13
Above all Jackson turns to Nietzsche in Beyond Good and Evil, not wanting to rid philosophical discourse of ‘the soul’ itself, but to redefine it as ‘mortal’, ‘as the multiplicity of the subject’, as a ‘societal construction of drives and affects’.14 This empowers Jackson to be multiple, and refusing of unilateralist accounts, in considering the souls who built the religious life and society of the ‘key paradigms’ period. Soon we arrive at a place utterly other to the mental maps most non-Muslims have of it: the first Islamic city-state was, on Jackson’s reading, ‘profoundly pluralistic’, recognised that ‘the secular and the religious’ should be separate realms, and was enlivened by the Prophet: less ‘a religio-political ruler (as assumed by contemporary revivalists), but rather a “charismatic arbiter of disputes”’.15

II. Souls and ‘Muslimness’ in Pierre Klossowski’s Maddening Art
Timothy Winter’s creating an Islamic take on Nietzsche builds on Pierre Klossowski’s reading of the same, and follows the trail of coded and yet decodable traces of Muslimness the French artist left behind him. These coagulate to a maximum density in The Baphomet, a 1965 novel that won the cachet-granting Prix des Critiques, but which has infuriated many readers and other critics since. The book is so weird that after lobbing it hard against a wall, its fascination may still exert itself, and have you picking up its scattered pages, and beginning reading it again. Not for nothing does Klossowski choose to locate the novel amongst a historical community that reactionary Catholic but also influential conspiracist voices have, over the centuries, recurringly suggested was Islamophile or even crypto-Islamic: the Knights Templar.16 The author throws such hints at the readers’ feet, then waits to see how they will react. Introducing Nietzsche as a character, and conflating him deliberately with the Islamophile Friedrich II is another bait Klossowski is setting up for us. The benefit of this book, and of Winter’s hermeneutic riff off it, is that spending time with these can shake up omnipresent rationalist prejudices against Islam. Klossowski’s aesthetics enact that which Islamic Studies scholar Thomas Bauer calls ‘constitutive of Sunnism’, namely ‘the process of making ambiguous’.17
Through the prologue, set in 1307 in a Knights Templar Order, immediately before the violent accusations of heresy and the crackdown on that organisation unleashed by King Philip IV of France, Klossowski just about maintains narrative tension. The plot’s far-fetched, but at least there is one. Valentine de Saint-Vit, Lady of Palençay, who has lost land by feudal order to the Templars, has been tipped off about King Philip’s plans, and decides to send her gorgeous fourteen-year old nephew, Ogier de Beauséant, into the Brothers at the Commandery. She hopes they’ll fall sexually for his charms so that she’ll get the evidence of ‘heresy’ she needs to discredit the ‘soldier-monks’ and thus get her land back. The sex, coats of mail and flagellation ‘games’ that ensue are no games for the graphically abused Ogier, whose inner voice we’re denied access to: our perspective on the action is that of the entitled and pederastic men. When this narrative culminates in the ritualistic killing of Ogier, who is stripped naked and hung, and left dangling from a rope, ‘in the void’ above the costumed knights, you’re left feeling that you’ve witnessed something that you shouldn’t have. It’s like reading a well-written report on a well-directed snuff movie.

That which Klossowski thinks justifies such a presentation only emerges slowly from the conversations between the ‘breaths’, or disembodied souls in Christian parlance, who debate one another in the novel’s main section. These breaths were, on death, ‘exhaled from the bodies that had contained them in life’, in the novel’s case from Ogier’s, and from many other bodies associated with the Templar Order, until the time when they will be ‘inhaled’ again, into new bodies, although not necessarily as new souls: with sometimes several entering a single human. Or will remain guarded for countless centuries, until ‘the Last Judgment and the Resurrection of the flesh’, which this theology states will allow them to rejoin their original bodies.18
Here we’ve left historical time, and indeed quotidian causality, and have entered what Winter, citing Louis Massignon (1883-1962 CE), might call ‘Islamic time […] a “milky way of instants”’.19 We could also term the dimension in which Klossowski locates the heart of the novel suprahistorical rather than transhistorical: it doesn’t deny linear, historical time, and the reality of what plays out there, but nor is it subordinate to this form of revelation. Klossowski choosing this cosmic time frame is providing a novelistic answer to Nietzsche’s take on the philosophy of souls. He articulates what he wants his book to enact in a letter to Jean Decottignies, subsequently reprinted as an appendix in the English edition of The Baphomet. Typically oblique, and in the tone of a guy who has important things to say but is refusing to say them, Klossowski nonetheless let’s slip clues about his theological preoccupations:
The Baphomet (gnosis or fable, or Oriental tale), should in no way be seen as a demonstration of the substratum of truth in the semblance of doctrine that is Nietzsche’s Eternal Return, nor as a fiction constructed on this personal experience of Nietzsche. On the other hand, my book purports to take into consideration the theological consequences thereof [i.e., of the Eternal Return] (i.e., a soul’s travels through different identities), as these coincide with the metempsychosis of Carpocrates [founder of a Gnostic sect, early 2nd century C.E.]20
Nietzsche establishment scholars today have mostly little truck with associations linking the Eternal Return with metempsychosis, or reincarnation as we would call it – if we talk about it at all. You do not, however, have to sign up to believing in reincarnation to question the over-determination, in the philosophy of souls, which still obsesses about the mortality question, and particularly about moments of death. Seen Islamically, these are no more than fleeting sparks, in a supernovic infinity of instants. If the soul is, qua Nietzsche, the subject’s multiplicity, i.e., if that subject is always a plurality and never a unity, why should the notion of a single soul in a single body make more rational sense than several souls inhabiting the same? If, as Nietzsche argues in Daybreak §109, none of us possess an impartial ‘intellect’ or sovereign soul, which can govern the conflicts we experience between our drives – if, on the contrary, this intellect is no more than ‘the blind tool of a different drive, a rival to that other drive, which is tormenting us with its vehemence’21 – then, and hypothesising that we could have chatted live to Nietzsche over tripe in the 1880s, why should we valorise the phantasm of the unified soul we would have then experienced over the plurality of his ideas, lyrically his souls, which have taken on multiple new lives since the cessation of his physical heart on 25 August 1900?
Klossowski gets his nose into this same material, but with more humour, by smuggling Nietzsche as a character into Baphomet. We encounter him in chapter VIII when we learn that he has incarnated ‘in the guise of an anteater’22 – yes, you heard – and under the name of Frederick the Antichrist, in the circle led by the last Grand Master of the Knights Templar, Jacques de Molay (c.1240-1314 CE). Burnt at the stake in historical time after dozens of Templars had already been executed in the crushing of the order, the novel has ‘the Grand Master’ continuing to direct his knights in this in-between life, in what feels like an interminable waiting room. He has been tasked by the ‘Thrones and Dominions’, two orders or classes of angels, with guarding the souls of his murdered knights until the rightful Resurrection of the flesh at the Last Judgement; but pressures on Molay / the Master mean that his policing of this divine plan is hardly strict. One such pressure is this anteater. The Grand Master confuses the anteater Nietzsche with the aforementioned Friedrich II, and is not easily persuaded to give up his confusion: ‘What have I to do with Frederick? Hohenstaufen, no doubt? The Antichrist . . . an anteater?’23 Knowing that Friedrich II von Hohenstaufen had been decried by the papacy as ‘the anti-Christ’ for challenging its theocratic dominion was a further reason for Nietzsche selecting this title for the last work he wrote during his sane life. The German title, Der Antichrist translates just as relevantly as The Anti-Christian, and being anti everyday modern Christians is indeed the work’s core. Nietzsche also enjoyed the title’s ambiguity, allowing him to pose as the devil incarnate.
The devilish Nietzsche turns comical when we don’t just hear about him but first see him in Baphomet, ridden by none other than the murdered Ogier, who has disappeared for a long while, and astonishes with this stylish re-entry:
The group of guards disperse this crowd and form a barrier, while Ogier, mounted on a furry monster that he guides with a chain, slowly advances through the rows of tables; there is not a single guest that does not detain him at each step to examine as closely as possible the animal whose diminutive head and long muzzle obstinately sliding along the flagstones contrast with the enormous body and paws armed with long claws.24
Klossowski’s procession triggers several associations at once. It’s hard not to think of the tragi-comic photo of Nietzsche harnessed up beside Paul Rée, to pull the cart of the whip-wielding Lou Salomé. But it’s hard to also not think that this is a Dionysian inversion of Christ’s entry into Jerusalem mounted on a donkey: both scenes contain the deliberately ridiculous; both contain the ridiculed and the humiliated shedding their humiliation and their ridicule in acts of improbable overcoming. Beyond such obvious associations, we could consider Winter’s mode of interpretation: commensurate with Klossowski’s ‘ambiguous’ conversion to Islam, Winter suggests we can decode ‘Muslimness’, as opposed to Islam explicitly, ‘as a theme in his [Klossowski’s] later writings’.25 Reading the ‘furry monster’ scene this way, both Ogier, through what he has endured, and Nietzsche himself, in the form of the utterly othered anteater, are ‘the excluded’ who harbour a ‘just claim’. Again Winter returns to the polymathic and ecumenical Catholic Louis Massignon to describe Islam as the religion of that claim:
Islam is a great mystery of the divine will, the just claim [revendication] of the excluded, those exiled to the desert with their ancestor Ishmael, against the “privileged ones” of God, Jews and above all Christians who have abused the divine privileges of Grace.26
It’s possible to reject wholeheartedly Massignon and Winter’s claims about what Islam is, and to refute that Klossowski’s novel has anything to do with Muslimness, and yet still remain engrossed in the philosophical material that these debates are based on. Can Nietzsche’s unpublished note about ‘the eternal return of the same’ written in the Swiss Alps in August 1881, itself enduringly ambiguous and a catalyst for all of Klossowski’s responses to Nietzsche, really be dismissed as merely a no-nonsense ‘thought experiment’? No spiritual revelation, no epiphanic moment, nothing to see here, move along please, move along? Carefully laid out on the paper, headed ‘Draft.’, and annotated with the remark ‘6000 feet above sea level and much higher above all human things! –’, the note has certainly encouraged religiously-minded readers of Nietzsche to propagate their worldviews from within Nietzsche’s own work.27 According to Klossowski, the 1881 note is not a draft of an embryonic theory, but rather the description of a lived experience:28
The Return of the Same.
Draft.
- The incarnation of the foundational errors.
- The incarnation of the passions.
- The incarnation29 of knowledge and of the knowledge that destroys. (Passion of Cognizing)
- The innocent one. The individual as experiment. The relieving of life, humiliation, weakening – transition.
- The new heavyweight: the eternal return of the same. Infinite importance of our knowledge, errors, of our habits, ways of life for all that will come. What shall we do with the rest of our life – we, who have spent the greatest part of the same in the most essential ignorance? We shall teach the doctrine [die Lehre] – it is the strongest means of incarnating it within ourselves. Our kind of beatitude, as teacher of the greatest teaching.
Start of August 1881 in Sils-Maria30

III. Epilogue: Walking Pollockshields with Fatima and Ishmael
As I write this article I’m conducting an online interview with a woman in her late twenties who I’m friends with and who grew up in Pollockshields. Although she, like me, enjoys going hiking and trekking, neither of us have yet tramped the alpine paths around Sils-Maria, to follow in Nietzsche’s footsteps. Leaving behind thoughts about the Eternal Return speaking to a myriad of unfulfilled wishes, whether for pakora or for Swiss hikes, I find myself back on a video call. Again.
Fatima is an engineer working in aeronautics in the south of England, who defines herself primarily as Scottish and, as a secondary attribute, as Muslim. Nonetheless she agrees to talk to me about her faith. She speaks about her less religious dad, whose greater concern has been to work hard in routine jobs to ensure that his kids get the good school and university education they have now received. She describes her more religious mum, with whom she has talked more about questions of religious observance, like the hijab her mum had wanted her to wear when she was a teenager. When Fatima made it clear she didn’t want to, neither her mum nor any other family member insisted on this dress code. As if feeling a duty to educate me on the basics, Fatima foregrounds Islam’s ‘five pillars’, which she learnt about attending Muslim ‘Sunday school’: the profession of faith, prayer, charitable giving, fasting during Ramadan, and the once in a lifetime Hajj, or pilgrimage to Mecca. Fatima explains that she hasn’t been on the Hajj yet, but she has been on the `Umrah, or lesser pilgrimage.
Like many other believers I speak to, theological questions are not Fatima’s big thing. From the outside, her life looks entirely secular: working hard, traveling the globe, spending time with both female and male friends, and able to play bass guitar. In this last regard, she’s unimpressed by the entreaties of the hyper-literalists. Muhammad ibn Adam al-Kawthari is a pro-caliphate cleric based in Leicester, England, who propagates a ban on both playing and listening to instruments, but this is hardly the kind of voice that Fatima is listening to.31 Considering such ascetic and irrationalist manifestations in Britain’s Muslim community, and experiencing Fatima as their opposite, a level-headed person who affirms life’s diversity, I ask if she can imagine anything that would make her give up her religion altogether? Pausing for an instant, she labels her childhood religious education matter-of-factly as ‘indoctrination’, and talks about how people internalise the same – that it’s nothing you can just shrug off. She doesn’t forget how Glasgow Sunnis, the grouping she belongs to, ensure that those who formally renounce their faith get the ‘right’ message: ‘you will burn forever in hell’. I don’t press Fatima on this – adults recalling the existential religious images stamped on them as children need some of this to stay private. But I get the sense that she neither believes in hellfire nor refuses to disbelieve in it entirely. Religion is bound tight to family, culture, geographical community: the things that co-define you while you become who you are. With no alternative philosophical or religious worldview on the horizon with a substance and a pull comparable to that which Islam exerts, why would individuals like Fatima risk exiling themselves from it?
Back in Glasgow in the summer, and with time to kill before my evening interview with the imam at the Dawat-E-Islami mosque on Niddrie Road, I go and wait in Queen’s Park, just to the south of Pollockshields. Under soaring church spires, groups sit on the freshly-cut grass and gear up for the weekend, drinking and smoking joints as the heat recedes. A bare-footed Glaswegian of middle-Eastern heritage is even walking around with a tamed but untethered parrot on his shoulder. I’ve never seen such a display in public. If he or his ancestors ever belonged to a ‘nay-saying religion’ he’s now saying yes to life so vigorously that you sense it could end dangerously. The North Sudanese barbers’ who I’d popped into for a trim on the way to the park were also full of patter,32 their self-professed Muslimness no barrier to treating life as a convivial and slowly-evolving party. When I get into the mosque the mood changes. Courteously, the Pakistani imam, Shafqad Mahmood, his assistant Mansoor Awais, who interprets for him when the English gets more complex, and a further elder male congregant, Haji Ahmad, have found half-an-hour or so for me at short notice, before evening prayers begin. My uneasiness is down to what I’ve read about the Dawat-E-Islami organisation in Ed Husain’s liberal Muslim critique of the current state of his religion in the UK. Translating as ‘Invitation to Islam’, the Pakistan-based group first opened mosques in the UK around 1995 and now, as the imam tells me proudly, they have three centres in the greater Glasgow area, catering for over five hundred believers weekly.33 Husain for his part discusses the sectarian murder, in 2016, of Asad Shah, less than a mile from where we’re sitting and talking, by ‘a Dawat-e-Islami man’: albeit one from Bradford in the north of England, and not by a fellow Glaswegian.34 Shah’s ‘offence’, at least in his killer’s eyes, was to be an Ahmadi, a follower of the Indian Ghulam Ahmad (1835-1908 CE) who claimed to be, concurrently, a ‘renewer of the faith’, ‘the promised messiah’, and ‘the mahdi (the rightly guided one who will appear at the end times together with the messiah)’: thus kickstarting a major new religious movement that is rejected uniformly by orthodox Muslims.35 As Husain had already interviewed a previous imam at the Queen’s Park mosque about Dawat-e-Islami and the 2016 murder, and had gotten evasive answers, I restrict myself to asking about the mosque’s attitudes to Shi’a, the Ahmadiya Muslim community, and other Muslim denominations. My overly orthodox question harvests a no-frills answer: ‘the Ahmadiya are not Muslims’. Surprisingly, Haji Ahmad adds that ‘we have Shi’a who come to pray here every week. Ahmadiya could even come and pray here if they wanted. If they didn’t say anything.’
Meant generously, the message is clear: mosque leaders tolerate non-standard beliefs only to the extent they remain utterly private. This strategy for ensuing conformity fits with what my question on the mosque’s attitude ‘to homosexual Muslims or to trans people?’ evinces: ‘We don’t accept them. But we wouldn’t say anything [if they came to pray at the mosque].’ I have to think of the story Fatima told me about a lesbian Muslim friend of hers trying to come out to her mother, and the friend’s mother being unable to embrace or support this reality. Hearing the story, you think the friend’s mother must have known long before about her daughter’s relationships – and tolerated them, as long as they remained hushed up.

No one is keeping quiet at the queer bookshop, Category is Books, just up the road from the Dawat-E-Islami mosque and religious school. Sadly I arrive outside opening hours, but the shop window is shouting out winning slogans to passers-by: ‘encourage lesbianism’, ‘better gay than grumpy’, ‘freedom of movement for all!’ and, in huge letters, the potentially game-changing ‘GET OFF THE INTERNET. DESTROY THE RIGHT WING.’ You’ll be forgiven for thinking that there is no dialogue between this shop’s community and that of the mosque. But the cause that has and will continue to generate dialogue arises when I ask the mosque’s leaders about the recipients of the organisation’s formal charitable status: ‘Over the last two years we’ve been funding aid deliveries via airplane into Gaza and the West Bank, food, water, and clothes, also looking after the orphans, no matter if the people there are Muslims, Christians or whatever.’ As the major British news platform The Canary reported recently, the group ‘No Pride in Genocide’ (Glasgow branch), ‘a broad coalition of LGBTQ+ Glaswegians’ demand of those running the city’s annual Pride march that they reject what Canary journalists call ‘companies directly profiting from Israel’s illegal occupation and ongoing genocide in Palestine.’36 If these concerns seem worlds removed from Nietzsche’s philosophical and Klossowski’s artistic hunches regarding Islam, we should turn to Judith Butler, surely the most widely-read philosopher of queerness of their generation, to see connections from them back to philosophy. Fighting back against Donald Trump’s Executive Order 14168 from January 2025, whose title makes its targets clear – ‘Defending Women from Gender Ideology Extremism and Restoring Biological Truth to the Federal Government’ – Butler joins up the dots on the common cause that trans people, Muslims, and other people of migrant heritage can find and are finding, in today’s polarised societies. Moreover, they [Butler] hone in on that group of trans people most vilified by the far Right: ‘people assigned male at birth who seek to transition [to a female or other gender identity]’.37 They point out that ‘presumption[s]’ about such men held by an increased number in society are unevidenced, and that the great majority of such men transition because ‘they hope for a more livable life’. Topping this, Butler argues that there is no philosophical justification for taking the ‘few recorded instances’ in which men have transitioned to ‘seek entry into women’s spaces in order, it is presumed, to harm the women there’ as a general ‘model for transition’. Extrapolating from here, and writing in the ‘first-person we’, Butler concludes:
We do not point to the nefarious actions of particular Jews or Muslims and conclude that all Jews or Muslims act in that way. No, we refuse to generalise on that basis, and we suspect that those who do so generalise are using the particular examples to ratify and amplify a form of hatred they already feel.38
Was Nietzsche being nefarious and intending harm by calling Islam ‘a yea-saying Semitic religion, spawned by the ruling classes’, then cementing this prejudice in favour of Islam over both Christianity and Judaism in print? – ‘Either one is a Chandala or one isn’t.’ If so, the remedy for such damage could be found in his more circumspect, more moderate and more ambiguously artistic successors. Whether you’ll find such successors on the streets of Glasgow’s Southside or in great artists, and latter-day Muslims, like Pierre Klossowski, will depend on the kind of cultural or religious home you’re looking for.
All pictures are photographs taken by the author. The title image shows a stone-mason’s yard on the edge of Pollockshields, offering bilingual gravestones for the district’s Muslim residents.
Bibliography
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Canary Journalists, The: ‘Glasgow Pride was just exposed as being complicit in Israel’s genocide’ in The Canary, 20 July 2025, unpaginated, https://www.thecanary.co/uk/news/2025/07/20/glasgow-pride-2025/.
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Footnotes
1: Wellhausen, Reste arabischen Heidentums (1887), cited from Andreas Urs Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, 294-295. Sommer confirms Nietzsche was reading this work by Wellhausen in this period; see Sommer’s ‘Personenregister’, ibid., 920, for comprehensive references on Nietzsche’s reading of Wellhausen. Most translators continue to the follow the translation tradition established by Walter Kaufmann and others, and title their English works The Antichrist. Yet Tim Newcomb, author of one of the few translations to opt for The Anti-Christian as its title, is right to point out that Nietzsche’s primary target was Christians of his own age. Because ‘ein Christ’ translates as ‘a Christian’, deciding for the alternative title of The Anti-Christian is legitimate. Cf. Tim Newcomb, ‘Afterword’ in Friedrich Nietzsche, Anti-Christian: The Curse of Christianity.
2: Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, 110.
3: All references to Manu / the Law Book of Manu in Nietzsche’s work, and to the related concept of Chandala, date to 1888. A letter to Heinrich Köselitz on 31 May 1888 (link) suggests he has just discovered this work: ‘I thank these last weeks for an essential lesson: I found the Legal Code of Manu in a French translation [presumably Louis Jacolliot’s], which was made in India under the precise control of the highest-ranked priests and scholars. This [is an] absolutely Aryan product, a priestly codex of morality on the foundation of the Vedas, the notion of castes, and ancient ancestry’. (Emphasis in the original.) This and the other translations from Nietzsche’s writings in this essay are the author’s own. For more on orientalist texts read by Nietzsche, cf. Ian Almond, ‘Nietzsche's Peace with Islam’, 43; and indeed for sufficient context, the whole text of: Andrea Orsucci, Orient-Okzident: Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europaischen Weltbild.
4: Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, 9 and 265.
5: Nachgelassene Fragmente 1888 14[95].
6: As Andreas Urs Sommer demonstrates, Nietzsche only inserted this cheap, anti-Semitic jibe into the final draft of this text: Sommer suggests this is Nietzsche playing to popular anti-Semitic sentiments among his potential readers. Cf. Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, 298.
7: The Anti-Christian, § 60. There has been much recent scholarship on Friedrich II’s fondness for and proximity to Islam. On Nietzsche’s sources for the same subject, see Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, 298-299, which also highlights the role played by August Müller’s writings on Friedrich II in Nietzsche’s reading. Müller recounts ‘as common knowledge […] how he [Friedrich II] took the most lively interest in the Arabs’ language and literature, pursued logic with his Muslim court philosophers, and even became half or even a whole heathen [i.e., a Muslim] himself, thus scandalising all pious people’. (Cited from Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, 298.)
9: Summary of the position argued by Jackson as given by: Peter Groff, ‘Nietzsche and Islam’, 431.
10: Roy Jackson, Nietzsche and Islam, e-book-location: chapter 1, location 7.51.
11: Groff, 435. Groff considers The Joyous Science, §346 as one of Nietzsche’s clearest statements about ‘going beyond atheism’. Here Nietzsche writes: ‘If we wanted simply to name ourselves with an older expression like godless or unbelievers or even immoralists, we would still believe ourselves to be far from described by such epithets’.
12: Groff, 430.
13: Cf. ibid. 431; and Jackson, Nietzsche, chapter 2, 8.46-8.50.
14: Beyond Good and Evil, § 12.
15: Summary of Jackson’s argument given in Groff, ‘Nietzsche and Islam’, 432.
16: For a well-researched historical summary of such viewpoints, see Malcom Barber, The New Knighthood, 321. For an Islamophile account of the same history that is open to conspiracist thinking, see HRH Prince Michael of Albany and Walid Amine Salhab, The Knights Templar of the Middle East: The Hidden History of the Islamic Origins of Freemasonry, x-xi and 22-23.
17: Thomas Bauer, A Culture of Ambiguity: An Alternative History of Islam, 11, cited from Timothy Winter’s unpublished manuscript ‘Klossowski’s reading of Nietzsche from an Islamic viewpoint’, 1, which Winter generously shared with me in October 2025. I thank Winter heartily for his colleaguiality in sharing this book in progress with me at this stage. The text of Winter’s manuscript is mostly identical to his aforementioned YouTube lecture, but includes some minor changes.
18: Klossowski, The Baphomet, xv.
19: Winter, unpublished manuscript ‘Klossowski’s reading of Nietzsche from an Islamic viewpoint’, 8.
20: Pierre Klossowski, ‘Notes and Explanations’ in The Baphomet, 166-167.
21: Daybreak, § 109.
22: Italics my own. Klossowski, Baphomet, 111.
23: Ibid., 112.
24: Ibid., 125.
25: Winter, ‘Klossowski’s reading’, 10. Klossowski’s conversion is ambiguous in the sense that is recorded in a single, terse passage by his younger brother, Balthus: ‘My brother, Pierre, became a Dominican monk when he was young. Then, a lot later, he converted to Islam.’ Cited in: Balthus (Count Balthazar Klossowski de Rola Balthus), Balthus in his Own Words, 11. There is no reason to question Balthus’s account just because it’s terse: we could instead conclude that Klossowski’s Muslimness was a mostly private affair. Relevantly, this is not the only conversion in Klossowski’s life that Balthus describes: ‘[Adam-Maxwell Reweski] left my brother and me a sum of money that we could use for our education if we became Catholics. And we did convert to Catholicism, whereas my father was a Protestant.’ Ibid., 5.
26: Christian Krokus, The Theology of Louis Massignon, 175; cited in Winter, ‘Klossowski’s Reading of Nietzsche’, 11.
27: Nachgelassene Fragmente 1881 11[141].
28: See for example, the paper ‘entitled “Forgetting and Anamnesis in the Lived Experience of the Eternal Return of the Same”, which Klossowski presented at the famous Royaumont conference on Nietzsche in July 1964’, as described in Daniel Smith, ‘Translator’s Preface’, viii.
29: While the noun Einverleibung used in points 1 to 3 of this note could also be translated as ‘embodiment’ or even, more weakly and figuratively, as ‘incorporation’, disputing ‘incarnation’ as one valid translation makes no etymological sense. ‘Incarnation’ derives the from Late Latin incarnationem (nominative incarnatio), ‘act of being made flesh’ or entering into a body, while ‘embodiment’ in English also refers back primarily to the ‘embodiment of God in the person of Christ’, i.e., to the Old French incarnacion ‘the Incarnation’ (12th century C.E.). ‘Einverleibung’ in German carries strong Christian connotations, of which Nietzsche was evidently aware, just as ‘incarnation’ does in English.
30: Nachgelassene Fragmente 1881 11[141].
31: Al-Kawthari cited from Ed Husain, Among the Mosques, chapter 1.
32: Scottish English, patter: ‘A person’s line in conversation. This can mean ordinary chatting, as in “Sit doon an gie’s aw yer patter”; it can also mean talk intended to amuse or impress, as in “He’s got some patter that pal a yours”’. Cited from the Dictionaries of the Scots Language, https://www.dsl.ac.uk/entry/snd/sndns2837.
33: Dawat-e-Islami is estimated to own and run around forty properties in the UK as a whole.
34: For details of Shah’s murder and the theological role played by Dawat-e-Islami in it, see: Ed Husain, Among the Mosques, in the Glasgow section of chapter 8, ‘Edinburgh and Glasgow’.
35: Marzia Balzani, Ahmadiyya Islam and the Muslim Diaspora, 2.
36: The Canary Journalists, ‘Glasgow Pride was just exposed as being complicit in Israel’s genocide’ 20 July 2025, unpaginated.
37: Judith Butler, ‘This is Wrong: Judith Butler on Executive Order 14168’, unnumbered.
38:This and the previous citations taken from Butler, ibid., unnumbered.
„Friede mit dem Islam“?
Wanderungen mit Nietzsche durch Glasgows muslimischen Süden: Teil 2
Im zweiten Teil seines Artikels über seine Reise durch den muslimisch geprägten Süden Glasgows geht unser Stammautor Henry Holland vertieft auf Nietzsches immer wieder aufflammende Beschäftigung mit der Religion Mohammeds ein, erläutert näher, wie der französische Künstler und Theoretiker Pierre Klossowski in seinem experimentellen Roman Der Baphomet Nietzscheanismus, sexuelle Transgression und vom Islam inspirierte Mystik in eigensinniger Weise verband und kehrt dann noch einmal zurück in die schottische Großstadt, um seinen Reisebericht abzurunden.
Wir publizieren diesen Artikel zunächst nur im englischen Original. Eine deutsche Übersetzung folgt in Kürze.
Im Bann der Maschine
Nietzsches Umwertung der Maschinenmetapher im Spätwerk
Im Bann der Maschine
Nietzsches Umwertung der Maschinenmetapher im Spätwerk


In der vergangenen Woche berichtete Emma Schunack von der diesjährigen Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft zum Thema Nietzsches Technologien (Link). Ergänzend dazu untersucht Paul Stephan in seinem Beitrag in dieser Woche, wie Nietzsche die Maschine als Metapher einsetzt. Der Befund seiner philologischen Tiefenbohrung mitten durch Nietzsches Schriften: Während er in seinen Frühschriften an die romantische Maschinenkritik anknüpft und die Maschine als Bedrohung der Menschlichkeit und Authentizität beschreibt, vollzieht sich ab 1875, zunächst in seinen Briefen, eine überraschende Wendung. Auch wenn Nietzsche noch gelegentlich an die alte Entgegensetzung von Mensch und Maschine anknüpft, beschreibt er sich nun zunächst selbst als Maschine und befürwortet schließlich eine Verschmelzung bis hin zur Identifikation von Subjekt und Apparat sogar, konzipiert Selbst- als Maschinenwerdung. Dies hängt mit der sukzessiven allgemeinen Abkehr Nietzsches von den humanistischen Idealen seiner frühen und mittleren Schaffensperiode und der zunehmenden ‚Verdunkelung‘ seines Denkens zusammen – nicht zuletzt der Entdeckung der Idee der „ewigen Wiederkunft“. Aus einer Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine wird ihre radikale Affirmation – amor fati als amor machinae.
Nietzsches Kulturkritik ist in ihrer Ausrichtung gegenüber der Moderne äußerst ambivalent. Mal wirkt es so, als vertrete er einen geradezu modernistischen Standpunkt, mal tendiert er ins Romantische oder gar ins Reaktionäre. Um sich diese Zweideutigkeit von Nietzsches Kulturkritik und seiner Positionierung zur Moderne zu vergegenwärtigen, ist es äußerst aufschlussreich, seine Äußerungen zum Begriff der „Maschine“ in den Blick zu nehmen. Dies ermöglicht nicht zuletzt einen differenzierten Blick auf seine Ethik der Authentizität.
I. Ein Kämpfer gegen die Maschinen-Zeit
Wie ein roter Faden ziehen sich durch Nietzsches Werk von den frühesten bis zu den spätesten Schriften Äußerungen, in denen er die Maschine kritisiert und als Metapher für den modernen Kapitalismus verwendet. Er kritisiert etwa, dass der moderne „äußerliche akademische Apparat, […] die in Thätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität“1 die Gelehrten gleich Fabrikarbeitern zu bloßen Maschinen herabwürdige.2 Die modernen Philosophen seien „Denk-, Schreib- und Redemaschinen“3. In ähnlicher Weise wie Karl Marx kritisiert Nietzsche in dieser Periode sogar die Unterwerfung der Arbeiter, die genötigt sind, „sich als physische Maschinen [zu] vermiethen“4, selbst unter die Maschinerie und macht sie für ihre sittliche Degeneration verantwortlich bzw. für das Aufkeimen dessen, was er später als „Ressentiment“ bezeichnen sollte:
Die Maschine controlirt furchtbar, daß alles zur rechten Zeit und recht geschieht. Der Arbeiter gehorcht dem blinden Despoten, er ist mehr als sein Sklave. Die Maschine erzieht nicht den Willen zur Selbstbeherrschung. Sie weckt Reaktionsgelüste gegen den Despotismus – die Ausschweifung, den Unsinn, den Rausch. Die Maschine ruft Saturnalien hervor.5
An anderer Stelle formuliert Nietzsche die Dialektik der Maschinisierung wie folgt:
Reaction gegen die Maschinen-Cultur. – Die Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden. Sie macht thätig und einförmig, – das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müssiggange dürsten lernt.6
Die Maschinerie diene so als Erzieherin zur Inauthentizität, produziert flexible Maschinenmenschen, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu erziehen:
Die wilden Thiere sollen über sich wegsehen lernen, und in den Andern (oder Gott) zu leben suchen, sich möglichst vergessend! So geht es ihnen besser! Unsere Moraltendenz ist immer noch die der wilden Thiere! sie sollen Werkzeuge großer Maschinerien außer ihnen werden und lieber das Rad drehen als mit sich zusammen sein. Moralität war bisher Aufforderung sich nicht mit sich zu beschäftigen, indem man sein Nachdenken verlegte und sich die Zeit raubte, Zeit und Kraft. Sich niederarbeiten, müdemachen, Joch tragen unter dem Begriff der Pflicht oder der Höllenfurcht – große Sklavenarbeit war die Moralität: mit der Angst vor dem ego.7
Auch noch im Spätwerk gilt Nietzsche die Unterwerfung unter die „ungeheuren Maschinerie“8 der „sogenannten ‚Civilisation‘“ (ebd.) – ihre Hauptmerkmale: „die Verkleinerung, die Schmerzfähigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel“ (ebd.) – als Hauptgrund für „die Heraufkunft des Pessimismus“ (ebd.). Er spricht abfällig von den beliebig fungiblen „kleine[n] Maschinen“9 der modernen Gelehrten und spottet darüber, dass es die Aufgabe des modernen „höheren Schulwesens“10 sei, „[a]us dem Menschen eine Maschine zu machen“ (ebd.), einen pflichtbewussten „Staats-Beamte[n]“ (ebd.) als, vermeintliche, vollkommene Manifestation der Ethik Kants. Bei ehrlicher Betrachtung
ergiebt sich jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance als die letzte grosse Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit – sammelnd, ökonomisch, machinal – als eine schwache Zeit[.]11
Und zu guter Letzt spricht er dann noch in Ecce homo von der „Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre“12 als „vollkommene[r] Höllenmaschine“ (ebd.).
Im Nachlass der frühen 1870er Jahre heißt es sogar programmatisch:
Handwerk lernen, nothwendige Rückkehr des Bildungsbedürftigen in den kleinsten Kreis, den er möglichst idealisirt. Kampf gegen die abstracte Production der Maschinen und Fabriken. Ein Hohn und Hass gegen das zu erzeugen, was jetzt als „Bildung“ gilt: dadurch dass man eine reifere Bildung dagegen stellt.13
Die moderne utilitaristische Maschinenwelt ist Nietzsche in ihrer Totalität ein Graus, das er kritisch mit der dionysischen Kultur der Antike konfrontiert:
Das Alterthum ist im Ganzen das Zeitalter des Talents zur Festfreude. Die tausend Anlässe sich zu freuen waren nicht ohne Scharfsinn und großes Nachdenken ausfindig gemacht; ein guter Theil der Gehirnthätigkeit, welche jetzt auf Erfindung von Maschinen, auf Lösung der wissenschaftlichen Probleme gerichtet ist, war damals auf die Vermehrung der Freudenquellen gerichtet: die Empfindung, die Wirkung sollte in’s Angenehme umgebogen werden, wir verändern die Ursachen des Leidens, wir sind prophylaktisch [vorsorgend; PS], jene palliativisch [‚ummantelnd‘ im Sinne der Palliativmedizin; PS].14
In der Maschinenwelt umgäben sich die Menschen mit anonymen Waren anstatt mit wirklichen Dingen, über die sie in eine resonierende Beziehung zu ihren Urhebern treten könnten:
Inwiefern die Maschine demüthigt. – Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, – also sein Bisschen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein Auszeichnen von Personen, mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrath und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Werthschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sclaventhums zu leben scheinen. – Man muss die Erleichterung der Arbeit nicht zu theuer kaufen.15
Im Gegensatz zu persönlich gefertigten, authentischen, handwerklichen Produkten überzeugten die maschinellen Waren nicht durch ihre intrinsische Qualität, wie sie nur von Kennern ermittelt werden könnte, sondern nur durch ihren Effekt und betrögen damit das breite Publikum.16
Am schärfsten fasst Nietzsche diese umfassende Kritik an der modernen Warenproduktion und der von ihr verhexten Lebenswelt jedoch in Menschliches, Allzumenschliches zusammen:
Gedanke des Unmuthes. – Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nützlich. So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. – Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, – ist das die umana commedia [menschliche Komödie; PS]?17
Die Nähe dieser Gedanken zu einer rousseauistischen, romantischen Kapitalismuskritik, aber auch zu Marx, ist bemerkenswert und unübersehbar. Die „Maschine“ wird für Nietzsche zum Inbegriff dessen, was der Marxismus als „Fetischismus der Warenproduktion“ bezeichnet und er kommt einem klaren Verständnis der verdinglichenden Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise hier überraschend nahe. – Freilich erstaunt diese Metaphorik nicht vor dem Hintergrund, dass die Aufwertung der ‚authentischen Produktion‘ gegenüber dem Handwerk zu den „absoluten Metaphern“ (Hans Blumenberg) des modernen Authentizitätsdenkens gehört, in dessen Gleisen sich Nietzsche an diesen Stellen vollkommen bewegt. Das Lebendige und das Tote, die Maschine und die echte Praxis, werden schroff dualistisch gegenübergestellt.18
Angesichts dieser deutlichen Worte ist es bezeichnend, dass es, parallel dazu, ab etwa 1875 in Nietzsches Schriften zu einer geradezu diametralen Umwertung der Maschine kommt.
II. Der Mensch als Maschine
Diese vollzieht sich bemerkenswerterweise zunächst in Nietzsches Briefen. Zwischen 1875 und 1888 bezeichnet er in ihnen immer wieder seinen eigenen Leib bzw. sogar sich selbst als „Maschine“ und berichtet von ihrem guten oder schlechten Funktionieren.19 In diesem Sinne spricht er schon in der Morgenröthe in einem rein deskriptiven Sinne vom Leib allgemein als Maschine20 und geht auch dazu über, die Menschheit in neutraler Weise als solche zu titulieren.21 Er knüpft hier offenbar an den naturalistischen Flügel der Aufklärung an, beispielsweise Julien Offray de La Mettries L’homme machine (Der Mensch als Maschine, 1748), im Zuge seines allgemein wachsenden Interesses an naturalistischen Erklärungen menschlichen Verhaltens in jener Periode.
Schon in Menschliches, Allzumenschliches vergleicht Nietzsche in bewundernder Weise die griechische Kultur mit einer rasenden Maschine, deren ungeheures Tempo sie für die kleinsten Störungen anfällig machte.22 Im Nachlass der 1880er Jahre konzipiert Nietzsche dann ebenso unkritisch eine „Darstellung der Maschine ‚Mensch‘“23 und geht dazu über, in der Maschinisierung der Menschheit etwas Gutes zu erblicken:
Die Nothwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen „Maschinerie“ der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichniß für diesen Typus ist […] das Wort „Übermensch“.
Auf jenem ersten Wege […] entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstand im Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-Gesammt-Verwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner „angepaßten“ Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssigwerden aller dominirenden und commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen. Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung des M<enschen> an eine spezialisirtere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung – der Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisirung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann…
Er braucht ebensosehr die Gegnerschaft der Menge, der „Nivellirten“, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratism ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.
[…] [W]as ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer: – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein wozu? ein neues „Wozu!“ – das ist es, was die Menschheit nöthig hat…24
Im Sinne der auch im veröffentlichten Werk wiederholt diskutierten Vorstellung eines – erhofften – Umschlags von Nivellierung in eine neue Aristokratie25 hält Nietzsche nun an seiner früheren Kritik der Maschisierung zwar fest, doch erhofft sich von ihr zugleich die Geburt einer neuen Klasse von „Übermenschen“, die souverän über die „Heerde“ der Maschine gänzlich unterworfener Sklaven gebieten. Im Antichrist spricht er diese politische ‚Utopie‘ deutlich aus und begründet sie naturalistisch: „Dass man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu giebt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die Allermeisten bloss fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen“26.
Gibt es bereits in Menschliches, Allzumenschliches Aphorismen, in denen die Unterwerfung unter die Maschine zwar nicht apologetisch, aber auch nicht kritisch, sondern rein deskriptiv als ‚Pädagogik‘ beschrieben wird,27 geht er nun vermehrt dazu über diese Subordination, sogar im Fall der Gelehrten, als heilsame Methode gegen das Ressentiment zu empfehlen28 und erblickt in der Maschinisierung großer Teile der Menschheit durch eine kleine ‚Kaste‘ brutaler ‚Raubtiermenschen‘ die Urszene der zivilisatorischen Formung der Menschheit.29
III. Das Genie als Apparat?
Doch Nietzsches Faszination für die Maschine bleibt dabei nicht stehen. Zwar spricht er sich in der Fröhlichen Wissenschaft dagegen aus, die Gesamtheit des Seins als Maschine zu begreifen, doch nicht, weil dies eine Abwertung oder Verdinglichung bedeuten würde, im Gegenteil: „Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort ‚Maschine‘ eine viel zu hohe Ehre an“30. Den menschlichen Intellekt hingegen beschreibt Nietzsche in demselben Buch ganz unkritisch als Maschine31 und ebenso soll nun das menschliche Seelenleben insgesamt als Maschine begriffen werden32. Dies betrifft nun ausgerechnet das seit dem Frühwerk als Inbegriff höchsten authentischen Selbstseins verklärte „Genie“, das Nietzsche ab der Morgenröthe immer wieder mit einer Maschine vergleicht.33 Er spricht in der Götzen-Dämmerung, mit niemand geringerem als Julius Cäsar als Beispiel, gar von „jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst“34 und in einem späten Nachlassfragment von ihm als der „sublimste Maschine[n], die es giebt“35.
Die moderne „Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit“36 feiert Nietzsche nun als „Macht und Machtbewusstsein […][,] Hybris und Gottlosigkeit“ (ebd.) und mithin als Gegenpol zur modernen Dekadenz.37 In einem Nachlassfragment von 1887 heißt es sogar:
Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar <zu> machen, und ihn soweit es irgendwie angeht der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (– er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwerthigen empfinden lernen: dazu thut noth, daß ihm die anderen möglichst entleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden…)
Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Thätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen und nicht nur ertragen, die Langeweile von einem höheren Reize umspielt sehen lernen[.] […] Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgend einer unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewerthet werden; die „Pflicht an sich“, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist – und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit, Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch… Die machinale Existenzform als höchste ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend.38
Damit ist die Umwertung endgültig vollzogen: Es geht nicht mehr nur darum, einen Sklavenstand von ‚Maschinenmenschen‘ mit Sinne der ‚Höherentwicklung‘ der Gattung zu erzeugen, der eine kleine Gruppe von ‚authentischen‘ Führern gegenüberstehen, sondern alle Menschen sollen gleichermaßen als Rädchen einer großen Gesamtmaschine fungieren, deren Prozess als Selbstzweck bejaht wird. Es kann eigentlich nur noch ein Unterschied zwischen Menschen gemacht werden, die Rädchen sind, und solchen, die selbst in sich geschlossene Maschinen bilden und dadurch zur Herrschaft bestimmt sind. Selbstwerdung als Maschinisierung.
Nietzsche wird damit zum Vordenker eines kybernetischen Technofaschismus, wie ihn bereits Ernst Jünger am Vorabend der ‚Machtergreifung‘ als möglichen Alternativentwurf zum liberalen Humanismus erahnte39 und heute in ‚avantgardefaschistischen‘ Zirkeln40 wieder en vogue ist, aber auch der postmodernistischen Verklärung des „Maschinen-Werdens“ als vermeintliche subversive Praxis, wie sie Gilles Deleuze und Félix Guattari unermüdlich propagieren. Die Utopie des flexiblen Menschen als „Cyborg“41. Es ist geradezu komisch, dass sich sowohl die kritische als auch die affirmative Verwendung der Maschinenmetapher in Nietzsches letzten Schriften gleichermaßen antrifft und bezeugt die Zerrissenheit seines Denkens bzw. seine subjektive Unentschlossenheit.
Bringt man diese letzte Wendung in Nietzsches Denken in Verbindung mit dem Konzept der „ewigen Wiederkunft“, das im endlosen Kreisen der Maschinerie sein handgreifliches Pendant findet,42 auch wenn Nietzsche diese Parallele selbst nicht bemüht, dann offenbart diese Betrachtung den tieferen Grund für Nietzsches ‚Abfall‘: Die wachsende Einsicht in die Strukturdynamik moderner Gesellschaften ließ ihn immer mehr an der Möglichkeit (ver)zweifeln, in ihr Authentizität zu realisieren. Nicht zuletzt, weil er – wie seine erwähnten Briefe bezeugen, die wohl nicht zufällig ganz am Anfang seiner ‚Kehre‘ vom Maschinenstürmer zum -verehrer stehen – erkannte, dass die Maschinisierung der Welt kein bloß äußerliches Geschick, sondern ein inneres Geschehen ist, dem man sich subjektiv nicht zu entziehen vermag. Authentizität ließe sich dann nur als fortwährender Kampf gegen sich selbst realisieren. Damit unzufrieden, bemüht sich Nietzsche nun um die radikale Bejahung der als „ewige Wiederkunft“ mythologisierten Maschinisierung der Welt. Eine Bejahung, die jedoch, wie die Rede von „Höllenmaschine“ in Ecce homo unterstreicht, nur um den Preis der völligen Selbstaufgabe gelingen könnte, handelt es sich doch in seinem Wesen – wie der frühe Nietzsche so glasklar erkannte – um einen menschenfeindlichen Prozess, der die Menschen dazu zwingt, etwas zu bejahen, was sich anders als wahnhaft nicht bejahen lässt.
Der naheliegende Ausweg bestünde eben genau darin, diesen Kampf gegen die innere und äußere Maschinisierung – sowohl im Sinne eines individuellen Heroismus als auch im Sinne politischer ‚Maschinenstürmerei‘ – eben auf sich zu nehmen und die innere Zerrissenheit, die die moderne Lebenswelt den Menschen aufnötigt, zu ertragen. Doch genau darin scheitert Nietzsche, er kann – anders, als von ihm selbst gefordert – diese Spannung nicht aufrechterhalten, muss den „Bogen“ seiner Ethik der Authentizität „abspannen“43 mit Hilfe seiner im Spätwerk immer grotesker, immer realitätsfremder werdenden mythologischen Konstruktionen. Die wahre Herausforderung, die das Authentizitätsideal an die Einzelnen stellt, ist es also, sich die eigene Authentizität in einer von Inauthentizität beherrschten Gesellschaft zu bewahren ohne verrückt zu werden oder der konformistischen Versuchung der Flexibilisierung zu erliegen.
Literatur
Benjamin, Walter: Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 1955.
Ders.: Zentralpark. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1977, S. 230–250.
Haraway, Donna: A Cyborg Manifesto. In: Socialist Review 80 (1985), S. 65–108.
Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 2022.
Stephan, Paul: Die Moderne als Kultur der Ver–gewaltigung. Nietzsche als Kritiker der Gewalt. In: engagée. politisch-philosophische Einmischungen 4 (2016), S. 20-23.
Fußnoten
1: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, Vortrag V.
2: Vgl. etwa ebd. und ebd., Vortrag I.
3: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Abs. 5. Vgl auch Schopenhauer als Erzieher, Abs. 3.
4: Nachgelassene Fragmente Nr. 1880 2[62].
5: Nachgelassene Fragmente Nr. 1879 40[4].
6: Menschliches, Allzumenschliches Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 220.
7: Nachgelassene Fragmente Nr. 1880 6[104].
8: Nachgelassene Fragmente Nr. 1887 9[162].
9: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 6.
10: Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 29.
11: Ebd., Aph. 37.
12: Ecce homo, Warum ich so weise bin, Abs. 3.
13: Nachgelassene Fragmente Nr. 1873 29[195].
14: Nachgelassene Fragmente Nr. 1876 23[148].
15: Menschliches, Allzumenschliches Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 220.
16: Vgl. ebd., Aph. 280.
17: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Aph. 585.
18: In dieser Phase äußert Nietzsche sogar dezidiert Verständnis für den Unmut der Arbeiter und empfiehlt ihnen seine Ethik der Authentizität als Ausweg aus dem Dilemma an, „entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu müssen“ (Morgenröthe, Aph. 206). Solche Gedankenspielen bringen ihn in dieser Zeit in bemerkenswerte Nähe zum Anarchismus (vgl. etwa Morgenröthe, Aph. 179).
19: Vgl. Bf. an Carl von Gersdorff v. 8. 5. 1875, Nr. 443; Bf. an dens. v. 26. 6. 1875, Nr. 457; Bf. an Elisabeth Förster-Nietzsche v. 30. 5. 1879, Nr. 849; Bf. an Heinrich Köselitz v. 14. 8. 1881, Nr. 136; Bf. an Franz Overbeck v. 31. 12. 1882, Nr. 366; Bf. an Malwida von Meysenbug v. 1. 2. 1883, Nr. 371; Bf. an Heinrich Köselitz v. 19. 11. 1886, Nr. 776; Bf. an Franziska Nietzsche v. 5. 3. 1888, Nr. 1003 und Bf. an Franz Overbeck v. 4. 7. 1888, Nr. 1056. Es zeigt sich, dass Nietzsche diese Briefe nicht an ‚irgendwen‘ schreibt, sondern seinen allerintimsten ‚kleinen Kreis‘. An Overbeck schreibt Nietzsche am 14. 11. 1886: „Die Antinomie meiner jetzigen Lage und Existenzform liegt jetzt darin, daß alles das, was ich als philosophus radicalis nöthig habe – Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Gesellschaft, Vaterland, Glauben u.s.w. u.s.w. ich als ebensoviele Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und nicht bloß eine Analysirmaschine und ein Objektivations-Apparat bin“ (Nr. 775). Bemerkenswert ist auch ein Brief an Heinrich Romundt vom 15. 4. 1876, in dem es heißt: „Ich weiß nie, wo ich eigentlich mehr krank bin, wenn ich einmal krank bin, ob als Maschine oder als Maschinist“ (Nr. 521).
20: Vgl. Aph. 86.
21: Vgl. Nachgelassene Fragmente Nr. 1876 21[11].
22: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches Bd. I, Aph. 261.
23: Nachgelassene Fragmente Nr. 1884 25[136].
24: Nachgelassene Fragmente Nr. 1887 10[17].
25: Vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, Aph. 242.
26: Abs. 57.
27: Vgl. Bd. I, Aph. 593 und Bd. II, Der Wanderer und sein Schatten, 218.
28: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1881 11[31] und Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 18.
29: Vgl. ebd., Abs. II, 17.
30: Aph. 109.
32: Vgl. Nachgelassene Fragmente Nr. 1885 2[113] und Der Antichrist, Abs. 14.
33: Vgl. Morgenröthe, Aph. 538; Götzen-Dämmerung, Streifzüge, Aph. 8 und Der Fall Wagner, Abs. 5.
34: Streifzüge, Aph. 31.
35: Nachgelassene Fragmente Nr. 1888 14[133].
36: Zur Genealogie der Moral, Abs. III, 9.
37: Es handelt sich bei dieser Passage um eine der zweideutigsten in Nietzsches Werk. Auf den ersten Blick liegt es nahe, sie als Kritik an der modernen Wissenschaft und Technik zu betrachten (vgl. hierzu auch mein eigener Aufsatz Die Moderne als Kultur der Ver–gewaltigung). Doch der späte Nietzsche verwendet ja „Macht“ und sogar „Vergewaltigung“ in überhaupt keinem kritische Sinne, hält er doch in der Genealogie an anderer Stelle klar fest: „[A]n sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts ‚Unrechtes‘ sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter“ (Abs. II, 11). Und in der Passage selbst heißt es: „[S]elbst noch mit dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus“. Nimmt man an, dass sich Nietzsche auch hier noch positiv auf die „alten Griechen“ und ihre Ethik des „Maßes“ bezieht, ist dieser Satz kritisch zu lesen – doch ebenso liegt es nahe, ihn so zu verstehen, dass Nietzsche in den beschriebenen Aspekten der Modernität gerade im Gegenteil „herrenmoralische“ Züge der Moderne erblickt, die ihrem allgemeinen Nihilismus entgegenstehen. Was sollte der erklärte „Antichrist“ auch gegen „Gottlosigkeit“ einzuwenden haben?
38: Nachgelassene Fragmente Nr. 1887 10[11].
39: Vgl. Der Arbeiter.
40: Man denke nur an die entsprechenden Visionen der Milliardäre Elon Musk und Peter Thiel.
41: Vgl. etwa Donna Haraway, A Cyborg Manifesto.
42: Diesen Zusammenhang zwischen „ewiger Wiederkunft“ und Zyklizität der kapitalistischen Ökonomie erkannte bereits Walter Benjamin (vgl. Einbahnstraße, S. 63 & Zentralpark, S. 241–246).
43: Vgl. Jenseits von Gut und Böse, Vorrede.
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Nietzsche und Cyborgs
Der internationale Nietzsche-Kongress 2025
Nietzsche und Cyborgs
Der internationale Nietzsche-Kongress 2025


Unter dem Thema Nietzsches Technologien wurden in diesem Jahr wieder internationale Besuchende zur Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft nach Naumburg an der Saale eingeladen. In der Zeit vom 16. bis zum 19. Oktober gab es neben verschiedenen Vorträgen, einem Film-Screening sowie einem Konzert außerdem eine Kunstausstellung zu besuchen. Unsere Autorin Emma Schunack war vor Ort und berichtet von ihren Eindrücken. Ihre Frage: Wie können Nietzsches Technologien im technologischen Zeitalter Ausdruck finden?
Friedrich Nietzsche selbst verbrachte viele Jahre seiner Kindheit und Jugend in der Stadt an der Saale. Sein Familienhaus steht noch heute im Weingarten 18. 2008 wurde hier die Friedrich-Nietzsche-Stiftung Naumburg gegründet, welche das Nietzsche-Dokumentationszentrum als öffentlich zugängliches Forschungs- und Kulturzentrum betreibt, das auch in diesem Jahr als Veranstaltungsort des Nietzsche-Kongresses dient.
Gelangt man vom Bahnhof zum Kongress, stößt man zunächst auf das ehemalige Familienhaus Nietzsches. Ein von Wein umranktes, verwinkeltes Haus, in dessen Erdgeschoss sich heute ein kleiner Buchladen mit einer Auswahl an Schriften Nietzsches befindet. Geht man nur wenige Schritte weiter, erstreckt sich direkt neben dem historischen Nietzsche-Haus das Dokumentationszentrum als moderner Neubau mit hellen Mauern und großen Fensterfronten. Im Inneren des Gebäudes befinden sich auf drei Etagen lichtdurchflutete Räume, die Platz für eine Bibliothek, ein Archiv, zwei Ausstellungsbereiche und zwei Plenarsäle bieten. In den Fluren stehen Nietzsche-Büsten, an Wänden und Treppen sind immer wieder große Schriftzüge mit Zitaten des Philosophen angebracht.
Die Tagung, geleitet von Edgar Landgraf, Catarina Caetano da Rosa und Johann Szews, beginnt am Donnerstagnachmittag mit verschiedenen Grußworten, unter anderem des Direktors der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, Andreas Urs Sommer, sowie dem Vorsitzenden der Nietzsche-Gesellschaft e. V., Marco Brusotti. Die an diesem Wochenende gehaltenen Vorträge zu Nietzsches Technologien sind gegliedert in verschiedene Sektionen, von „Kultur- und Körpertechniken“, „Techniken des 19. Jahrhunderts“ und „Anthropo- und Medientechniken“ über „Techniken der Disziplinierung und Subjektivierung“ bis „Sprachliche und rhetorische Techniken“. So wird der Begriff Technik breit gefasst und bietet Grundlage für verschiedene Auslegungen.

I. Menschliches Denken als Technik
Welche Techniken des Geistes muss der Mensch praktizieren, um wie Nietzsche zu denken? Mit dieser Frage und ihren Implikationen beschäftigt sich Emanuel Seitz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Basel, in seinem Vortrag Nietzsche, ein Stoiker des Rausches. Die Techniken einer geistigen Übung. Dabei geht es Seitz primär um die Fragen: Was muss ich tun, um Nietzsche zu werden? Kann Nietzsche als Stoiker bezeichnet werden? Zur Beantwortung erläutert Seitz zunächst drei Techniken der geistigen Besinnung der Stoa: die Übung des Denkens, des Begehrens und der Tatkraft. Jene Übungen beziehungsweise Techniken sollen sich erlernen lassen. Sie zielen darauf, sich durch Besinnung eine angemessene Vorstellung vom wahren Wert der Dinge zu machen. Der Mensch soll mithilfe der Übungen zu Werturteilen gelangen, die nicht bloß subjektiv sind, er soll Distanz praktizieren und wie Gott vom Universum nach unten blicken. Durch das Praktizieren jener Techniken des Denkens entsteht eine Art kosmisches Bewusstsein, so lehrt es die Stoa, was zu einer neuen Form der Freiheit im Urteil führe. Erst durch das Praktizieren dieser Übungen sei der Mensch zur Umwertung bestehender Werte befähigt.
Seitz verbindet jene Übungen der Stoa mit Nietzsches eigens gelebter Technik der Philosophie als Lebenskunst, in der es um Taten geht, nicht um Wissen, so Seitz. Er argumentiert, dass Nietzsche zwar zu völlig anderen Ergebnissen kommt als die Stoa, nicht zu einem humanistischen Ideal des Mitleids, sondern zur Selbstzucht und Selbstsucht als Leidenschaft. Nietzsche verachte zwar den Moralismus, beschäftige sich jedoch mit Fragen um den Willen zur kosmischen Gerechtigkeit. Seitz argumentiert daher, dass Nietzsche sehr wohl als Stoiker in Bezug auf die Methode seines Denkens bezeichnet werden könne, ganz im Gegensatz zu den Inhalten seiner Philosophie. Abschließend plädiert er daher ausdrücklich dafür, Nietzsche als Techniker des Denkens ernst zu nehmen.

II. Posthumanistische Perspektiven auf Nietzsche
Passend zu dem diesjährigen Thema des Kongresses beziehen sich einige der Vorträge auf posthumanistische Epistemologie sowie Science und Technology Studies. Besonderen Fokus auf posthumanistische Positionen legt Babeth Nora Roger-Vasselin, die in ihrem Vortrag Einverleibung außer Betrieb. Die Einverleibung als Technik betrachtet Nietzsches Begriff der Einverleibung mit der Figur der Cyborg nach Donna Haraway zu verbinden versucht.
Roger-Vasselin betrachtet Nietzsches Begriff der Einverleibung als Technik der Individuation. So bezeichne Einverleibung, wie ein Organismus seine sinnliche Erfahrung aktiv simuliert, ein gestaltgebender Prozess, den alle Lebewesen teilen. Roger-Vasselin beschreibt diesen Prozess der Einverleibung als Technik, da er nicht natürlich oder uns angeboren sei, stattdessen sei er das Ergebnis einer auf der Individuation beruhenden Erziehung. Bei dieser Technik handele es sich um standardisierte Prozesse durch Formen und Rhythmen.
Doch wie kann jene Technik der Einverleibung im technologischen Zeitalter aussehen? Roger-Vasselin argumentiert in diesem Zusammenhang unter Rückgriff auf die Figur der Cyborg und bezieht sich auf Donna Haraway. Die Cyborg wird von Haraway beschrieben als „ein kybernetischer Organismus, ein Hybrid von Maschine und Organismus, ein Produkt sowohl der sozialen Realität als auch der Einbildungskraft“1, eine Kreatur, die weder natürlich noch künstlich, sondern beides zugleich und nichts allein ist2. Kybernetische Organismen sind für Haraway weder Natur noch Kultur, sondern immer schon Naturkultur3. Konzeptionell lässt Haraway mit der Figur der Cyborg vermeintliche Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Maschinen verschwimmen und etabliert ein Denken von Differenz jenseits von Dualismen4: „Eins zu sein ist immer ein gemeinsam-Werden mit vielen“5. Und so spricht sich Roger-Vasselin dafür aus, dass Gemeinschaftsformen im technologischen Zeitalter Kollektive von Cyborgs sein sollten.
Eine weitere posthumanistische Perspektive auf Nietzsche präsentiert Matthäus Leidenfrost in seinem Vortrag Tierhaltung und Zähmung des Menschen. Nietzsche über anthropotechnische Praktiken, in welchem er sich mit dem Verhältnis von Tier, Mensch und Technik bei Nietzsche beschäftigt. Er erörtert, wie Nietzsche selbst den Menschen als krankes Tier bezeichnet habe, welches mit den Werkzeugen der Kultur gezähmt worden sei und sich hinter Kleidung und Moral verberge. In der Herde lebend sei der Mensch defizitär und sei seiner eigenen Anlagen beraubt, so Nietzsche. So leide der Mensch am Leben selbst. An dieser Stelle bezieht sich Leidenfrost auf Peter Sloterdijk, der in diesem Kontext eine Aufforderung an den Menschen formuliert, seine eigene Animalität anzuerkennen und Teil eines offenen bio-kulturellen Seins zu werden. Krankheit ist hier kein starrer Zustand, sie ist Zerfall, aber auch Erkenntnis und Neubeginn, eine Möglichkeit zum Wachstum. Leidenfrost bezieht sich weiter auf aktuelle trans- und posthumanistische Diskurse und auch er verweist an dieser Stelle auf Donna Haraway. Er liest Nietzsches diesbezügliche Überlegungen als eine Einladung an den Menschen, sich im Zeitalter der Perfektion und innerhalb seiner eigenen Domestizierung der eigenen Tierhaftigkeit in einer affektiven Dimension zu öffnen, ganz im Sinne des Endes von Also sprach Zarathustra: „Den wildesten muthigsten Thieren hat er alle ihre Tugenden abgeneidet und abgebraut; so erst wurde er – zum Menschen.“6

III. Ästhetische Erfahrung
Neben den wissenschaftlichen Vorträgen bot der Kongress auch ästhetische Zugänge zu Nietzsches Denken. So wurde die Ausstellung Nietzsches Echo. Bilder der Widersprüche des Malers Conny Gabora eröffnet. Die gezeigten Arbeiten sind von Nietzsche und seinen Gedanken und Lebenskonflikten inspiriert. Sie sollen eine künstlerische Hommage an den Philosophen darstellen. Ferner fand am Freitagabend die deutsche Filmpremiere von Nietzsches Landschaften im Oberengadin von Fabien Jégoudez statt und am Samstagabend gaben die Pianistin Silvia Heyder sowie die Sängerin Julia Preußler ein Konzert, bei dem sie einige ausgewählte von Nietzsches Kompositionen vortrugen. Uns so konnte Nietzsches Denken nicht nur Ausdruck in wissenschaftlicher Form, sondern auch in ästhetischer Erfahrung finden.
IV. Abschluss
Wie können Nietzsches Technologien im technologischen Zeitalter Ausdruck finden? Der Kongress in Naumburg hat gezeigt, wie Nietzsche heute als Techniker des Denkens zu lesen ist, einer Philosophie des Tuns, nicht des bloßen Wissens. Dieses Denken bietet die Grundlage für einen Blick auf den Menschen als ein Wesen, das seine Animalität und seine Einverleibungen anerkennt und sich in Kollektive von Cyborgs und in das offene biokulturelle Geflecht des Seins einschreibt: „Wir sind alle Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschinen und Organismen; in einem Wort, wir sind Cyborgs“7.
Die Photographien stammen von der Autorin. Das Artikelbild zeigt eine Nietzsche-Büste von Fritz Rogge aus dem Jahr 1943 in der ersten Etage des Nietzsche-Dokumentationszentrums.
Literatur
Fink, Dagmar: Cyborg werden: Möglichkeitshorizonte in feministischen Theorien und Science Fictions. Gender Studies. Transcript Verlag.
Haraway, Donna: Die Begegnung der Arten. In: Texte zur Tiertheorie, herausgegeben von Roland Borgards, Esther Köhring und Alexander Kling. Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 19178. Reclam.
Haraway, Donna: Manifestly Haraway. Posthumanities 37. University of Minnesota Press.
Fußnoten
1: „[A] cybernetic organism, a hybrid of machine and organism, a creature of social reality as well as a creature of fiction“ (Haraway, Manifestly Haraway, S. 5; Übersetzung der Redaktion).
2: Vgl. Fink, Cyborg werden: Möglichkeitshorizonte in feministischen Theorien und Science Fictions, S. 9 f.
3: Vgl. ebd. S. 59 f.
4: Vgl. ebd. S.9 f.
5: Haraway, Die Begegnung der Arten, S. 239.
7: „We are all chimeras, theorized and fabricated hybrids of machine and organism; in short, we are cyborgs“ (Haraway, Manifestly Haraway, S. 7; Übersetzung der Redaktion).
Nietzsche und Cyborgs
Der internationale Nietzsche-Kongress 2025
Unter dem Thema Nietzsches Technologien wurden in diesem Jahr wieder internationale Besuchende zur Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft nach Naumburg an der Saale eingeladen. In der Zeit vom 16. bis zum 19. Oktober gab es neben verschiedenen Vorträgen, einem Film-Screening sowie einem Konzert außerdem eine Kunstausstellung zu besuchen. Unsere Autorin Emma Schunack war vor Ort und berichtet von ihren Eindrücken. Ihre Frage: Wie können Nietzsches Technologien im technologischen Zeitalter Ausdruck finden?
„Friede mit dem Islam“?
Wanderungen mit Nietzsche durch Glasgows muslimischen Süden: Teil 1
„Friede mit dem Islam“?
Wanderungen mit Nietzsche durch Glasgows muslimischen Süden: Teil 1


In dem vorerst letzten Beitrag unserer Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ (Link) begibt sich unser Stammautor Henry Holland in eine für die meisten von uns unbekannte Welt. Er begab sich im Spätsommer zu Fuß in den muslimisch geprägten Süden der schottischen Großstadt Glasgow, um dort zwischen Charity-Shops, Moscheen, Buchläden und Restaurants mit den Bewohnern des Viertels ins Gespräch zu kommen und zu erkunden, wie es um den heutigen westlichen Islam bestellt: Wie ticken heutige in Europa lebende Muslime? Wie verstehen sie den Islam? Inwieweit sind sie in die säkulare britische Gesellschaft integriert? Und können Nietzsches Gedanken dabei helfen, ihre Perspektive besser zu verstehen?
Am Anfang seines Zweiteilers gibt Holland zunächst einen kurzen Einblick in den Forschungsstand zu Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Islam und seiner Aneignung in der muslimischen Welt. Er berichtet dann über einen Vortrag von Timothy Winter über den französischen Theoretiker und Künstler Pierre Klossowski und dessen Verhältnis zum Bekenntnis Mohammeds. Diese Vorlesung war es, die ihn dazu inspirierte, diese Reise zu unternehmen, die ihn mitten in eines der meistdiskutierten Themen im Europa unserer Gegenwart führte: „Sag, wie hast du’s mit der Religion des Propheten?“ Der Artikel schließt mit dem Beginn seiner Aufzeichnungen.
Aus dem Englischen übersetzt von Lukas Meisner. Zum englischen Originaltext.
I. Vorbereitende Spaziergänge
Ich habe es dem Herausgeber dieses Blogs zu verdanken, dass er, als er nach Essays zu Nietzsches programmatischer Liebe zum Wandern fragte, meinen Vorschlag von Stadtspaziergängen, zu diesem Zeitpunkt noch ungelaufen, unter Muslimen in Südglasgow und evangelikalen Christen in London nicht sogleich zurückwies. Als ich den ersten dieser beiden Spaziergänge unternahm und dessen Reisetagebuch schrieb, erwies sich die islamische Dimension als so faszinierend, dass allein daraus ein zweiteiliger Artikel entstand; die evangelikalen Christen müssen sich damit auf den Seiten meines Notizbuchs gedulden, bis die Zeit für ihre Veröffentlichung reif ist.1
Wie auch andere Nietzsche-Forscher, so weiß mein Herausgeber, dass es zahlreiche Berührungspunkte zwischen Nietzsche und dem Islam gibt, die von denjenigen, die sich beruflich mit dem Philosophen beschäftigen, jedoch gewöhnlich gemieden werden. Ian Almonds hervorragende und kurze Einführung in dieses Feld, die diesen Trend ändern möchte, stellt fest, dass zum Thema im Jahr 2003 „trotz gut über einhundert Referenzen auf den Islam und islamische Kulturen ([den persischen Dichter Hafiz [ca. 1325-1390 u. Z.], Araber, Türken) in der Gesamtausgabe nicht eine einzige Monographie“ existierte.2 Selbst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung konnte Almonds Behauptung eher der Tendenz nach als wörtlich genommen als korrekt gelten. Bereits der Artikel über Nietzsche und den berühmten Poeten Rumi aus dem 13. Jahrhundert, der 1917 vom indisch-muslimischen Philosophen und Dichter Muhammad Iqbal publiziert wurde, stellt eine Studie dar, die sich eingehend mit dem befasst, was der Islam und Nietzsche voneinander gelernt haben. Iqbal verfasste dieses Werk derweil zum Erreichen bestimmter Ziele, nämlich um Nietzsche einem breiteren muslimischen Leserkreis vorzustellen sowie zur Belebung einer antinihilistischen Version des Sufismus.3 Er kann nicht die objektive Vogelperspektive bieten, die Almond mit seinem Beitrag zu fördern versucht. Lobenswert ist, dass Peter Adamson in seiner derzeit achtbändigen Geschichte der Philosophie mehr als 500 Seiten dem Komplex „Philosophie in der islamischen Welt“ widmet. Trotz des totalisierenden Untertitels der Serie – „eine Geschichte ohne jedwede Lücken“ – offenbaren sich gähnende Löcher rund um Nietzsches pulsierendes Werk. Die einzige Referenz, die Adamson bereitstellt, ist Iqbals Bekenntnis zum preußisch aufgewachsenen, später staatenlosen Denker zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wenigstens Roy Ahmad Jacksons Nietzsche and Islam (2007) sollte, seiner Imperfektionen ungeachtet, hier Erwähnung finden, ebenso wie Peter Groffs scharfsinnige Antwort darauf (2010).
Da ich meinerseits eine Ethnografie einer Straße verfassen möchte, die von äußeren Verdächtigungen gesäumt ist, ist es am besten, wenn ich meine Vorbehalte offenlege und meine Position klarstelle. Ich bin ein schottischer weißer Nicht-Muslim; ein Agno-Atheist4, doch unzufrieden damit und daher notorisch flirtend mit dem Glauben, auch wenn meine Wellen des Glaubens in immer kürzeren Abständen zu kommen und zu gehen scheinen. Wie sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es nicht, echte Frömmigkeit auszustrahlen: Wenn ich mich gelegentlich mit Zeugen Jehovas unterhalte, machen sie sich einmal nicht die Mühe, mir ihre Bekehrungsrede zu halten, als würden sie spüren, dass ich reine Zeitverschwendung bin. Seit ich mit viereinhalb Jahren in Edinburgh in die Grundschule kam, blieb der Anteil der Muslime in meiner Klasse in den nächsten sieben Jahren stabil bei etwa fünfundzwanzig Prozent: Shiraz, Asharif, Zahir, Samir und ein einziges Mädchen, Javeria, waren die Menschen hinter dieser Statistik.5 Wir, und ja, die weißen schottischen Kinder fühlten sich wie ein „Wir“, spielten fast täglich mit den muslimischen Jungen auf dem Spielplatz Fußball, wobei die Mannschaften natürlich ausschließlich nach ihren Fähigkeiten ausgewählt wurden, und ich erinnere mich an mindestens eine Einladung zu Zahirs Geburtstagsparty. Aber in den letzten Jahren der Grundschule hatte sich meine Freundesgruppe auf drei oder vier andere nicht-muslimische, weiße schottische Jungen reduziert. Diese unsichtbare Barriere war ebenso sehr durch die Klasse wie durch Religion oder Hautfarbe entstanden. Unsere Schule lag, wo der östliche Rand der neoklassizistischen Neustadt Edinburghs mit ihrer selbstbewussten Mittelschicht auf den westlichen Rand der damaligen Arbeiterviertel Bonnington und Leith traf: Die muslimischen Kinder, die ich kannte, wuchsen größtenteils dort auf, in Arbeiterfamilien. Ich habe heute zu keinem von ihnen mehr Kontakt, aber diesen Menschen habe ich es zu verdanken, dass ich keine Angst vor dem Islam habe. Denn die unaufhörlichen Trommelschläge der extremen Rechten, dass die muslimische Kultur in den kommenden Jahrzehnten die nicht-muslimische Kultur überschwemmen werde – das Geschwätz über Scharia-Diktaturen, die es in Europa angeblich schon gibt, muss ich gar nicht erst wiederholen –, erregen zwar meine Aufmerksamkeit, können mich aber nicht überzeugen.
Bei solchen Kulturkämpfen geht es sicherlich nicht um demografische Fakten, die schwer zu bestreiten sind, sondern um die religiösen Identitäten und die politischen Absichten, mit denen diese Fakten verbunden sind. Wie Ed Husain in seinem Buch Among the Mosques feststellt – einem besorgten Alarmruf eines liberalen Muslims an die Politik über den Zustand des „muslimischen Großbritanniens“ heute –, wuchs die muslimische Bevölkerung Englands in den fünfzehn Jahren bis 2016, in denen die Gesamtbevölkerung Englands um etwa elf Prozent zunahm, fast zehnmal so schnell.6 Die Muslime in Schottland sind zahlenmäßig stärker marginalisiert als im übrigen Großbritannien, da sie etwa einen von 70 Einwohnern ‚Albas‘7 ausmachen, verglichen mit etwa einem von 20 Einwohnern der Gesamtbevölkerung des Vereinigten Königreichs. Dennoch bedeutet die im Vergleich zu nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen höhere Geburtenrate der muslimischen Bevölkerung8, dass die Zahl der Muslime in allen Teilen des Vereinigten Königreichs weiter steigen wird, wobei bis 2031 in einigen Londoner Stadtbezirken und Gebieten von Birmingham, Leicester, Bradford und mehreren anderen englischen Städten eine muslimische Mehrheit erwartet wird.9 In Schottland wird dies erst in einigen Jahrzehnten der Fall sein, aber bereits jetzt ist beispielsweise mehr als jeder vierte Einwohner des Wahlbezirks Pollokshields im Süden von Glasgow ein Moslem.10 Deshalb beschließe ich, meine Wanderung nach Pollokshields und Umgebung zu unternehmen. Diese Reise ist eher durch Statistiken motiviert als durch persönliche Beweggründe. Mein Wunsch, aus erster Hand zu erfahren, wie die Muslime in Glasgow die Welt sehen, verbindet sich mit einer unerwarteten Begegnung auf YouTube und veranlasst mich, den Zug um 9:45 Uhr von Edinburgh Waverly nach Glasgow Queen Street zu nehmen.
II. Lektüre vor der Wanderung
or etwa einem Jahr tauchte in meinem Feed, der wie üblich von reißerischen Überschriften und Indie-Bands der 1990er Jahre geflutet worden war, etwas auf, von dessen Existenz ich bislang nichts wusste: eine aktuelle Keynote-Vorlesung von Prof. Timothy Winter – alias Abdal Hakim Murad – über Pierre Klossowskis „Nietzsche-Interpretation aus einer islamischen Perspektive“. Der Name Klossowski (1905–2001 u. Z.) dürfte denjenigen bekannt vorkommen, die sich wirklich für die französische Theorie begeistern. Als bildender Künstler und Autor trug er in den 1930er Jahren zur avantgardistischen Zeitschrift Acéphale unter der Leitung von Georges Bataille bei (dessen Philosophie in Jenny Kellners POParts-Artikel vorgestellt wurde). Später veranlasste sein 1969 erschienenes Buch Nietzsche und der Circulus vitiosus deus Foucault, Deleuze und andere Größen der Pariser Intellektuellenszene dazu, ihre Haltung gegenüber Nietzsche zu überdenken. Winters Umgang mit dem, was Klossowski und Nietzsche uns und einander erzählen, ist meisterhaft. Er taucht auf ansprechende Weise in das weite Feld der Theorie, des Modernismus, der Religion und der ethnisch geprägten Politik im Globalen Norden und in den kommenden Jahrhunderten ein und überlässt es den intellektuell weniger Begabten, d. h. den meisten von uns, das Kleingedruckte auszubuchstabieren.
In meiner persönlichen Vorstellung des Paris der Deleuze-Ära ist Klossowski eher wegen seiner künstlerischen als wegen seiner philosophischen Genealogie bemerkenswert. Er war der älteste Sohn der Malerin Baladine Klossowska, die den Anhängern der modernen Poesie als letzte Geliebte Rainer Maria Rilkes und Inspirationsquelle für sein spätes Meisterwerk Sonette an Orpheus bekannt ist. Sein jüngerer Bruder war der weitaus bekanntere Maler Balthus, dessen Gemälde heute im MoMA und in der Fondation Beyeler bei Basel hängen; obwohl er erst spät seinen Stil konsolidierte, scheint er seinen Platz im künstlerischen Kanon des 20. Jahrhunderts gefunden zu haben. „Balthus brillanter Bruder“11 muss dagegen noch seinen Platz finden. Obgleich Pierre Klossowski auch als Übersetzer beeindruckend war und die ersten französischen Übersetzungen von Werken Nietzsches, Benjamins und Heideggers verfasste, rangiert er in der Kulturgeschichte nach wie vor meist unter den Fußnoten. Wer ein Spezialist oder Theoretiker mit einer außergewöhnlichen Leidenschaft ist, hat sicher schon von Klossowski gehört; andernfalls gibt es kaum einen Grund, warum man ihn kennen sollte.
Wie Winters weitere Namen vermuten lassen, ist er zum Islam konvertiert; er hat sein gesamtes Erwachsenenleben in diesem Glauben verbracht: 1979 wurde er im Alter von neunzehn Jahren Muslim. Auch Klossowskis Konversion zum Islam im hohen Alter wird von Winter erwähnt; er beschreibt sie als „ein zweideutiges Ereignis, auch wenn es von seinem Bruder Balthus explizit bezeugt wird“.12 Es ist hierbei wichtig zu berücksichtigen, dass Ambiguität in Winters ikonoklastischer Sichtweise auf politische und religiöse aktuelle Ereignisse eine stark positive Konnotation hat. Aussagekräftiger als die Details von Klossowskis persönlichem Glauben sei, was er bezüglich der „Pathologie der modernen Subjektivität“ zu bieten habe, „entliehen zu einem hohen Grad einer ungewöhnlichen Vermählung von Nietzsche und der Heiligen Teresa von Ávila [1515-1582 u. Z.]“.13 Von hier aus wendet sich Winter dem zu, was viele Menschen im Westen als fast unheilbare Wunde und Verlust empfinden – und zeigt auf, wie Klossowski dabei helfen könnte, diese Wunde neu zu empfinden und zu denken. Er bedient sich dabei der Antinomien des Apollinischen und des Dionysischen, deren aus den Fugen geratenes Gleichgewicht Nietzsche in Die Geburt der Tragödie beklagt, und beruft sich auf die „höchst originelle Deutung“, welche Klossowski „Nietzsches Erfahrung der ewigen Wiederkunft“ gebe.14 Winters Diagnose der okzidentalen Malaise lohnt ein längeres Zitat:
Die Nativisten schlagen Alarm: In ganz Europa sind die Geburtenraten der Einheimischen im freien Fall. Wir dürfen dieses Phänomen als „Biopause“ bezeichnen, eine Entwicklung, die in zwei Schritten zu erfolgen scheint. Zuerst unterbricht die postindustrielle, sich säkularisierende Menschheit gewaltsam ihre Symbiose mit den Gliedern der Natur, was ihren rapiden Zusammenbruch bewirkt. Darauf folgt dann die Abkehr der Menschheit selbst von ihrer eigenen Reproduktion. Zerronnen ist die Hoffnung ihrer kalifornischen Vorreiter, die sexuelle Revolution der 1960er Jahre mit einer spirituellen zu verbinden, sie zu sakralisieren. Sie hat schlicht und ergreifend zu einer herabgesunkenen, zukunftslosen Triebhaftigkeit geführt. Das augustinische Ideal einer Fortpflanzung ohne Begehren wurde in sein genaues Gegenteil verkehrt. […] Eine ganze Flotte labiler Archen segelt diesem Europa der Biopause entgegen. An Bord sind Einwanderer, die meist das Mal Ismaels und Hagars tragen, dieser archetypischen Exilanten.15 Diese neuen Europäer legen nicht nur, was ihre Fertilität angeht, keine Biopause ein, sondern bleiben auch in ihren traditionellen Kulturen verwurzelt. Ihre Religiosität nimmt zu, wie der 15. Arabische Jugendreport16 in diesem Jahr nahelegt oder Michael Robbins vom Arab Barometer,17 der […] sagt, dass Jugendliche im Alter zwischen 18 und 29 Jahren an der Speerspitze einer „Rückkehr zur Religion“, die sich quer durch den Nahen Osten und Nordafrika in den letzten zehn Jahren vollzogen habe, stehen würden. Dem widersetzt sich trotzig Europas „ewige Rückkehr“ zu seiner Dichotomie zwischen Selbst und dem Anderen. Überall auf dem Kontinent schießen neue christlich angehauchten Nationalismen wie Pilze aus dem Boden, wir erleben die Wiederkunft einer chronischen Abwehrreaktion gegen die Semitismen: Apoll gegen Dionysos, das Lineare und Verschlossene gegen das Lebendige und Polymorphe – immer dieselbe Leier der europäischen Selbstdefinition seit den Tagen von Euripides. Doch immer mehr stellen sich James Baldwins Frage: Möchte ich wirklich in ein brennendes Haus integriert werden?18
Leser, die vermuten, dass ich für Winter Schleichwerbung mache, mögen seine Glaubwürdigkeit überprüfen. Engagierte Säkularisten könnten von dem, auf das sie stoßen, beunruhigt sein. Jacob Williams betrachtet Winters als einen zentralen Knotenpunkt „in dem [islamischen] traditionalistischen Netzwerk im Westen“, zusammen mit zwei weiteren Denkern, die ebenfalls zum Islam konvertiert sind: Hamza Yusuf (alias Mark Hanson) und Umar Faruq Abd-Allah (Larry Gene Weinman).19 Williams möchte die Beziehungen dieser Denker „zu unterschiedlichen Strömungen innerhalb des westlichen Denkens“ in ihrer Erklärung und Darstellung des Islam untersuchen und dabei aufzeigen, wie sich diese Denker zur „zur traditionalistischen Schule“ verhalten.20 Diese definiert er, in Übereinstimmung mit dem Mainstream der Forschung, als „westliche esoterische Bewegung, die René Guénon [1886-1951 u. Z.] ins Leben rief und die sich um die Wiedergewinnung einer spirituellen Weisheit bemüht, die sich in allen Religionen finde, doch in der Moderne verloren gegangen sei“21. Julian Strube bestimmt „Traditionalismus“ als einen „Oberbegriff für unterschiedliche Autoren, die die Überzeugung eint, dass im Innersten der verschiedenen Traditionen eine ursprüngliche Wahrheit erhalten geblieben ist“. Er untersucht seinerseits die besondere Wendung, die Julius Evola (1898-1974 u. Z.) dem Traditionalismus verlieh. Dieser war, wie zahllose seiner Publikationen belegen, selbst ein begeisterter Nietzscheaner. Strube behauptet, dass der so verstandene Traditionalismus „ein integraler Bestandteil der Neuen Rechten“ seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren gewesen sei.22 Evolas berüchtigte politische Ansichten kulminierten etwa in seiner Selbstbezeichnung als „superfascista“23. Aktuelle kritische Forscher sprechen dementsprechend von einer politischen Positionierung Evolas, die „extremer als die offizielle Linie der [italienischen] Faschistischen Partei“ gewesen sei.24 Es wäre jedoch ein unzulässiger Kurzschluss, Winters Politik mit der von Evola gleichzusetzen, und es wäre kontrafaktisch, Winters Weltanschauung als Ablehnung der Moderne abzutun. Im direkten Widerspruch zu Evolas Antidemokratismus verweist Winter auf Forschungen von Sobolewska und anderen, um hervorzuheben, dass, wenn muslimische Einwanderer „die Staatsbürgerschaft erwerben, sie sie im Allgemeinen erstnehmen. Im Vereinigten Königreich erfüllen die [meist muslimischen] Bürger pakistanischer und bangladeschischer Herkunft mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre Pflicht, wählen zu gehen, als ihre weißen Landsleute.“24 Ich packe meinen Rucksack für Glasgow und denke weiter über Winters rebellische und aufrichtig vertretene Prophezeiung über die Rolle, die der Islam für Europa und für die Zukunft der Welt spielen wird, nach, wie sie in Ismael und Hagar verkörpert wird.

III. Charity-Shops, Buchläden, Restaurants: Ismael im Albert Drive
Obwohl ich seit ungefähr einem Jahrzehnt zum ersten Mal wieder hier bin, hat Glasgow nichts von seiner Faszination für mich verloren. Es ist der rote Sandstein, aus dem die Stadt seit Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde und der sich in schäbige Mietshäuser, stolze Herrenhäuser im Schottischen Baroniestil und alle möglichen Formen von behauenem Stein dazwischen einfügt, der mich nach Worten suchen lässt, die ich als biblisch bezeichnen möchte: „Habt ihr Augen und seht nicht?“26 Hätte das Schicksal andere Pläne für mich gehabt statt der Erziehung, die ich zwischen der Church of Scotland und den Episkopalen genossen habe, würde ich eine solche Sprache vielleicht als koranisch bezeichnen wollen. Nietzsche stellte sich in einem Brief an seine Schwester vom 11. Juni 1865 eine ähnliche Was-wäre-wenn-Frage:
Wenn wir von Jugend an geglaubt hätten, daß alles Seelenheil von einem Anderen als Jesus ist, ausfließe, etwa von Muhamed, ist es nicht sicher, daß wir derselben Segnungen theilhaftig geworden wären?27
Ich bin an einem besonders heißen Spätsommertag in Pollockshields unterwegs. Die katholische Kirche St. Albert‘s auf halber Strecke des Albert Drive erinnert an eine verblassende christliche Vergangenheit, aber es ist der heutige Islam, der hier ins Auge sticht. Islamic Relief und Ummah Welfare Trust sind zwei offensichtlich islamische Charity-Shops, an denen man vorbeikommt, wenn man vom Bahnhof Pollockshields East in die Gegend eintaucht. Ein Schild im Fenster des ersten Ladens verkündet: „Annahmestopp für Korane, islamische Texte oder Bilderrahmen in Spendenbeuteln.“ Wie gedruckte Bibeln in christlichen und postchristlichen Milieus kaum noch gefragt sind, steht auch der Islam vor der Herausforderung, eine textbasierte Religion in einem weitgehend post-alphabetisierten Zeitalter zu sein.
Während meinem Schaufensterbummel gehe ich in Gedanken weiter die Worte durch, mit denen ich hoffentlich mit den Bewohnern des Viertels ins Gespräch kommen werde. Wenn es darum geht, sie dazu zu bringen, offen über ihren Glauben und ihren Propheten zu sprechen, hilft es dann, Nietzsche zu erwähnen, eine Persönlichkeit, die für die meisten Menschen in diesen Straßen genauso viel bedeutet wie Leana Deeb für mich?28 Noch unentschlossen, welche Strategie ich wählen soll, sehe ich, dass Ummah Welfare in seinem Schaufenster eine altmodische gedruckte Einführung in den Islam für nur zweieinhalb Pfund anbietet. Ich gehe hinein und frage den Ladenbesitzer nach einem Exemplar. Obwohl uns ein anschließender Anruf beim Eigentümer mitteilt, dass diese Einführung nicht vorrätig ist, kommen wir zumindest ins Gespräch.
Atta Ali ist ein geselliger und gastfreundlicher Mann Anfang dreißig29, der mich sogleich hinaus auf den Bürgersteig führt, weil er spürt, dass ich mich dort beim Plaudern wohler fühle. Atta trägt einen vollen langen Bart und ist in einen Salwar Kamiz gekleidet, über dem er ein dickes, grünes Holzfällerhemd trägt, als würden ihn die – für diese Jahreszeit ungewöhnlichen – 26 Grad vor seinem Laden nicht stören. Er erzählt mir, dass er nur nach Pollockshields kommt, um ehrenamtlich zu arbeiten, aber eigentlich in East Renfrewshire, acht Meilen südlich, aufgewachsen sei. Dieses ist besser bekannt als ein jüdisches Viertel. Er scheint seine religiöse Toleranz signalisieren zu wollen, eine notwendige Vorsichtsmaßnahme vielleicht in einer Zeit, in der Vorwürfe des Antisemitismus gegen Europas Muslime unermüdlich sind. Als ich Winter erwähne, gibt Atta zu, dass er den „literarischen Mut“ des allgegenwärtigen Influencers Sam Harris bewundert, obwohl Harris sich im Internet einen Namen vor allem dadurch gemacht hat, dass er den Islam ernsthaft als das unerträgliche Andere darstellt.30
Atta fragt dann, ob Winter ein „Rückkehrer“ (revert) sei. Verwirrt antworte ich, dass Winter tatsächlich zum Islam konvertiert sei. Atta erklärt mir dann eine mittlerweile populäre theologische Sichtweise: Menschen, die als Kinder oder Erwachsene bewusst zum Islam konvertierten, kehrten lediglich zu dem Glauben zurück, den sie schon immer in sich getragen hätten. „Weißt du, wir waren einmal alle Moslems“, wie Atta es ausdrückt. Von dieser bizarren Behauptung überrascht, frage ich doch nicht weiter nach, obwohl ich natürlich neugierig bin. Wann soll das gewesen sein? Zu Lebzeiten des Propheten (ca. 570-632 u. Z.)? Oder gar schon bevor der Prophet inkarniert wurde?
Atta verbindet diese Tatsache mit dem pakistanischen Erbe der meisten Muslime in Pollockshields und erklärt, dass dieses Erbe überwiegend sunnitisch geprägt ist.31 Er ist nicht mit schiitischen Muslimen oder Muslimen anderer „Sekten“ befreundet, sagt aber, dass Schiiten in den örtlichen Moscheen zum Beten kämen, darunter auch in derjenigen, die hundert Meter weiter in einer Seitenstraße liege, und einfach nicht bekannt gäben, dass sie Schiiten seien. Nach dem Gebet zögen sie sich an und gingen leise, um Konflikte zu vermeiden. Attas Verwendung des Begriffs „Sekten“ macht mich auf etwas aufmerksam, das ich bei der Vorbereitung meiner Feldforschung hätte berücksichtigen sollen. Im Gegensatz zu der Art und Weise, wie Christen des 21. Jahrhunderts oft andere Kirchen und Konfessionen wahrnehmen, betrachten die meisten sunnitischen Muslime, ob in Glasgow oder weltweit, Schiiten, Sufis oder andere muslimische Minderheiten nicht als gleichberechtigte Glaubensgenossen, die Respekt verdienen, sondern als Ketzer. Heute können sie im Vereinigten Königreich zwar weitgehend in Frieden ihre alternativen Glaubenspraktiken und Theologien ausüben, aber sie werden in ökumenischen Debatten nicht als gleichberechtigte Partner angesehen.
Ein zu enger Fokus auf islaminternes Sektierertum jedoch würde die andere jüngere und von Fanatismus geprägte Geschichte Glasgows außer Acht lassen. Ich erinnere mich sofort an den antikatholischen Hass in der Stadt in den 1980er Jahren, als mein Bruder und ich noch Kinder waren, und der noch lange danach anhielt. Obwohl mein Bruder in Edinburgh lebte, bloß einen Steinwurf vom Epizentrum dieser Feindseligkeiten entfernt, war er dennoch Fan der Glasgow Rangers, einem Verein, der sein Weltbild auf protestantischem Isolationismus gründet, und bekam regelmäßig Tickets für dessen Heimspiele im Ibrox Stadium. Schon mit dreizehn Jahren war er kritisch genug, um die Lieder, die er dort hörte, nicht gut zu finden, aber natürlich beeindruckten sie ihn: rohe, emotionale Erscheinungen, eine Art besonders brutaler Wille zur Macht. Bis in die 1990er Jahre hinein hörten wir, wenn Robert mich mitnahm, wie Rangers-Fans provokante bis diffamierende Lieder über Bobby Sands sangen – das IRA-Mitglied, das 1981 im Alter von 27 Jahren nach einem 66-tägigen Hungerstreik im Gefängnis starb. Jim Slaven und Maureen McBride, zwei Mitglieder eines Teams von Soziologen, die sich mit Rassismus in Schottland befasst haben, lehnen sogar den „Begriff des ‚Sektierertums‘“ ab, um ein solches Verhalten zu verstehen, denn er
impliziert eine falsche Äquivalenz zwischen den Verhaltensweisen von Protestanten und Katholiken. Beide [Slaven und McBride] kommen darin überein, dass es hier in Wahrheit um Rassismus geht, der sich gegen Menschen von irisch-katholischer Abstammung richtet, und das dieser eine genuin schottische Entwicklung war und keine, die vom britischen Staat aufgezwungen worden wäre.32
Die Augustsonne ist zu stark, als dass ich mich mit dieser unrühmlichen Vergangenheit beschäftigen könnte. Zudem bekomme ich langsam Hunger. Das Café Reeshah in der 455 Shields Road hält sein Versprechen, „authentische asiatische Küche“ zu servieren – in diesem Fall authentische Küche aus Lahore, aus dem pakistanischen Teil des Punjab.33 Im Innenbereich schaffe ich es, den einen von zwei Tisch zu ergattern, der nicht in der Sonne steht; dort versuche ich, den riesigen Teller mit Gemüse-Pakora, der mir serviert wird und offiziell eine „Vorspeise“ ist, als Omen zu verstehen. Nietzsche war so sehr Chronist seiner eigenen Ernährung, insbesondere in Briefen und unveröffentlichten Notizen, dass unorthodoxe Gelehrte behaupten, seine implizite Ernährungsphilosophie könne bisher verborgene Bereiche seines Werks erschließen. Wenn man diese Fragmente erneut liest, tendieren sie eher Richtung Komik als Richtung universelle Magen-Gesetze, vor allem in Anbetracht des drängenden Bewusstseins, das Nietzsche dafür hatte, was ihn seine Café-Mahlzeiten kosteten. Als er im April 1881 aus Italien seiner Mutter und seiner Schwester in Deutschland Bericht erstattet, schwärmt der Essens-Guru:
Die Genueser Küche ist für mich gemacht. Werdet Ihr’s mir glauben, daß ich jetzt 5 Monate fast alle Tage Kaldaunen gegessen habe? Es ist von allem Fleische das Verdaulichste und Leichteste, und billiger; auch die Fischchen aller Art, aus den Volksküchen, thun mir gut. Aber gar kein Risotto, keine Makkaroni bis jetzt! So veränderlich ist es mit der Diät nach Ort und Klima!34

IV. Frittierte Fülle und Wortwörtlichkeit
Angesichts des Chana Masala, dem Kichererbsen-Curry, das in der Folge ebenso großzügig wie das Pakora serviert wird, möchte ich behaupten, dass die „Küche Glasgows“ wie für mich gemacht ist – mit ihrer frittierten Fülle und ihrem globalen Diaspora-Internationalismus. Später freue ich mich, zu entdecken, dass es etwas weiter südlich im Queen‘s Park einen Halal-Fish-and-Chips-Laden gibt. Was den Besitzer und die Mitarbeiter des Café Reeshah angeht, deutet nichts darauf hin, dass diese Männer in den Fünfzigern nicht auch Muslime sind. Aber sie kleiden sich westlich und zeigen keine Anzeichen dafür, dass sie sich an die wortgetreuen Grundsätze halten, denen Atta von Ummah Welfare die Treue schwört.
Ed Hussain kommt zu dem Schluss, dass wörtliche Auslegungen des Korans und der Hadithe35 heute die Lebensentscheidungen britischer Muslime dominieren – und dass das im Großbritannien des 21. Jahrhunderts am häufigsten zitierte Hadith-Kompendium möglicherweise das von Muhammad al-Bukhārī aus dem 9. Jahrhundert ist . Bärte wachsen von selbst, während wortgetreue Muslime auch von der Lehre des zweiten Kalifen, Omar (reg. 634–644 u. Z.), beeinflusst seien, dass Bärte nur einmal im Jahr getrimmt werden sollten.36 Gesichtsbehaarung an sich kann keinen Schaden anrichten, andere Formen des Literalismus hingegen schon. Al-Bukhārī überliefert ein Frage-Antwort-Gespräch zwischen dem Propheten und einer Gruppe ungenannter Gesprächspartner, in dem der Prophet berichtet, dass „die Mehrheit“ der Bewohner des ihm gezeigten „Höllenfeuers“ „undankbare Frauen“ seien. Von seinen Zuhörern zu weiteren Angaben über „widerborstige Weiber“ gedrängt, lässt al-Bukhārī sogar die Frauen unter seinen Zuhörern Mohammed zustimmen, dass „die Aussage einer Frau nur halb so viel zählt wie die eines Mannes“, wobei Mohammed erklärt, dass dies „aufgrund der Unzulänglichkeit des Verstandes einer Frau“ der Fall sei.37 Saqib Qureshi bezeichnet diese „grassierende Misogynie“ in seinem jüngsten muslimischen Beitrag Reclaiming the Faith from Orthodoxy and Islamophobia als ein Konzept, das „dem Koran völlig fremd“ sei.38 Mit solchen Argumenten verbündet sich Qureshi mit einer Minderheit von Intellektuellen am Oxford Institute for British Islam, die für „einen progressiven und pluralistischen muslimischen Glauben, der ausschließlich auf der Souveränität des Heiligen Koran basiert“, eintreten.39
Paigham Mustafa, ein Moslem aus Glasgow und Mitglied des Oxford Institute, musste fast ein Vierteljahrhundert lang extreme Gewaltandrohungen erdulden, weil er öffentlich diesen koranzentrierten Weg eingeschlagen hatte. Nachdem er Artikel veröffentlicht hatte, in denen er die Lehren der Moscheen in Frage stellte, erließ ein Ausschuss, der zwölf Moscheen in Glasgow vertrat, 2001 eine Fatwa gegen ihn. Das Dokument enthielt zwar keine explizite Todesdrohung, verglich Mustafa jedoch mit Salman Rushdie und stachelte damit zu schwerer Gewalt gegen ihn an.40 Mustafa, offensichtlich ein unorthodoxer Freigeist, der sich von der Drohung der Geistlichen nicht einschüchtern ließ, schrieb 2018 in einem auf Facebook veröffentlichten Brief über den Ramadan: „Entgegen der populären Praxis wird rituelles Fasten vom Koran nicht geboten.“41 Mögen Pakoras noch lange zu jeder möglichen Stunde genossen werden. Bevor ich das Café Reeshah verlasse, unterhalte ich mich mit seinem Chef, und wir finden eine gemeinsame Gesprächsgrundlage in den indischen und später pakistanischen Orten, in denen mein Urgroßvater und meine Großeltern jahrzehntelang gelebt und gearbeitet haben, und wo mein Vater geboren wurde: Lahore, Peshawar, Quetta. Was die Nachkommen der Kolonisierten und die Nachkommen der Kolonialisten verbindet und was sie trennt, ist ein und dasselbe.
Da ich mich mit islamischer Theologie bei Weitem nicht gut genug auskenne, um ihre Feinheiten eigenständig zu diskutieren, entscheide ich mich für einen journalistischen Ansatz und gebe meinem jeweiligen Interviewpartner den Raum, ohne Vorurteile zu sagen, was er wirklich denkt. In der Hoffnung, dass mir dies in der selbstbewusst „Islamic Academy of Scotland“ genannten Einrichtung am Maxwell Drive, nur wenige Minuten vom Café Reeshah entfernt, von Nutzen sein könnte, mache ich mich auf den Weg dorthin. Ich bewundere den kunstvollen viktorianischen Eingangsbogen des ehemaligen Pollockshields Bowling Club, aber als ich feststelle, dass die tristen Fertigbauten, in denen die Akademie untergebracht ist, geschlossen sind, kehre ich zum Madni Islamic Book Shop in der Maxwell Road zurück. Neben Brautkleidern und Lifestyle-Accessoires bietet der freundliche Ladenbesitzer dort Literatur in grellen Farben an, die mich an katholische Andachtshefte erinnert. Mir wird etwas mulmig. Ich entscheide mich für Understanding Islam von Maulana Khalid und Sayfulla Rahmani, das sich auf die islamischen Farben Grün und Weiß beschränkt. Als ich bezahlen will, legt der Verkäufer mir noch einen weiteren Brief Illustrated Guide kostenlos dazu. Auf dem Cover sind eine Million Muslime zu sehen, die sich nachts zum Gebet in der Masjid al-Haram, der großen Moschee von Mekka, versammelt haben – die Gläubigen leuchten in fluoreszierenden Farben. Am Sternenhimmel über ihnen strahlt ein fliegender Koran eine Milchstraße aus Licht aus, die unseren Globus umspannt, der sich, entgegen der Intuition, groß über den Menschenmassen und den Hochhäusern der Stadt dreht.
Auch meine beiden anderen Einkäufe vermitteln eine Botschaft, die sich deutlich von dem liberalen und unorthodoxen Islam unterscheidet, mit dem ich mich auf meine Reise vorbereitet habe. Mein Blick fällt auf The Need for Creed – Jinn: Beings of Fire. Diese populäre Dämonologie ist auf dickem Karton gedruckt und in überlangen Reimpaaren geschrieben, die nicht in Versfüße gegliedert sind. Illustriert mit kitschigen KI-Grafiken, verkündet es eine seltsame Theologie: „Dschinns sind sehr hochentwickelt und waren vor uns auf der Erde, doch sie bereiten Harm, / sie führen ein Parallelleben und hängen unterschiedlichen Religionen an – manche auch dem Islam“.42 Eher bedrohlich als nur seltsam ist der Titel Emergence of Dajjal: The Jewish King, eine schmale, groß gedruckte Abhandlung, in der Kapitelüberschriften wie „Die Auslöschung der Juden“ unmissverständlich machen, gegen wen sie sich richtet.43 Diese apokalyptische Literatur in Großdruck handelt von Imam Mahdi, einer Schlüsselfigur der Endzeit, von der jedoch die schiitischen und sunnitischen Muslimen ein völlig unterschiedliches Verständnis haben. Erst später erfahre ich, dass vergleichende Religionswissenschaftler Dajjal in einer groben Entsprechung zum Antichristen der christlichen Tradition sehen, und wundere mich erneut über die Zufälle, die mir meine Reise beschert hat. Ich schlüpfe in die Rolle eines Detektivs, um dieses Belegstück zu erhalten – am besten, ohne den Ladenbesitzer allzu direkt auf seinen Inhalt anzusprechen. Unaufgefordert erzählt er mir, als ich diesen Titel (für 3,50 Pfund) kaufe, dass sie als Kinder in der Elfenbeinküste oft Geschichten über Dajjal gehört hätten, dessen arabischer Name übersetzt „der Betrüger“ bedeutet.

V. Den Glauben bewahren, ungeachtet der Gewalt, die einem entgegengebracht wird
The Jewish King ist die Art antisemitischer Literatur, die sich überhaupt nicht darum bemüht, sich zu verklausulieren. Beiläufiger Antisemitismus unter den Muslimen in Glasgow und Großbritannien ist heute wahrscheinlich genauso verbreitet wie beiläufiger Antisemitismus unter den Christen Europas über Jahrhunderte hinweg bis zur zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Als ich am späten Nachmittag am St. Aloysius College, der Jesuitenschule im Zentrum von Glasgow, vorbeispaziere, kommt mir das Bild in den Sinn, dass die Muslime des 21. Jahrhunderts in Glasgow die Überlegenheit ihres Glaubens ebenso wenig in Frage stellen wie die Jesuitenpatres, die die Schule in den 1860er Jahren an ihrem heutigen Standort gründeten, diejenige des ihrigen. Wenn jedoch säkulare europäische Intellektuelle in den 2020er Jahren darauf bestehen, dass Antisemitismus für Muslime und in der islamischen Kultur tonangebend sei, verschließen sie bewusst mindestens ein Auge. Saqib Qureshi zeigt brillant, dass Muslime in der globalen Geschichte des Antisemitismus nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
Während des gesamten Mittelalters und der frühen Neuzeit unterstützten Kirchenführer theologisch die antijüdische Politik, die mit Zwangsmassenbekehrungen, Vertreibungen, Morden und andere Gräueltaten durchgesetzt wurde. Von 1347 bis 1349 wurden Juden in ganz Europa verfolgt und verbrannt, nachdem sie beschuldigt worden waren, durch die Vergiftung von Brunnenwasser die Pest verursacht zu haben; viele Bekehrungen begleiteten diese tödlichen Szenen, sowohl „erzwungene als auch ‚freiwillige‘“44. Als sich die antijüdische Gewalt auch auf Spanien ausbreitete, wurden Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts bis zu einem Drittel der Juden dieses Landes getötet und bis zur Hälfte zwangsweise konvertiert.45 Die genauen Zahlen sind umstritten, aber jüdische Augenzeugenberichte, wie der von Reuven Gerundi, der die Massaker von 1391 überlebte und angab, dass 140.000 Juden in deren Folge zwangsweise konvertiert wurden, müssen ernst genommen werden.46 Der Historiker David Nirenberg argumentiert, ohne notwendigerweise die Genauigkeit dieser Zahlen zu akzeptieren, dass die „massenhaften Konversionen“ von Juden auf der Iberischen Halbinsel in dieser Zeit in erster Linie Menschen betrafen, die „durch den Einsatz von [christlicher] Gewalt“ wurden, und dass diese Gewalt „die religiöse Demographie [der Region] verändert habe“.47
Qureshi stellt dieses blutige Erbe den „so gut wie nicht vorhandenen“ Zwangskonvertierungen gegenüber, die von Muslimen zur Zeit des Propheten und in dem Jahrhundert nach seinem Tod durchgeführt wurden. Qureshi behauptet, es gebe „keinen Beleg dafür, dass Mohammed irgendwen zur Konversion gezwungen habe“, und stützt sich dabei auf die Forschungsergebnisse von Asma Afsaruddin und Heather Keaney, um hinzuzufügen, dass bis zum Jahr 750 u. Z. „weniger als zehn Prozent der nichtarabischen Bevölkerung“, die vom entstehenden Islamischen Reich unterjocht worden war, zu der damals neuen Religion konvertiert war.48 Dieser Standpunkt wird von Sarah Stroumsa unterstützt, die „Zwangsbekehrungen“ im mittelalterlichen Islam als „nicht die Regel, sondern eine seltene Ausnahme“ bezeichnet.49 Wie Qureshi betont, ist es „amüsant und seltsam“, dass die allgemeine Meinung Zwangsbekehrungen in erster Linie mit dem Islam in Verbindung bringt, während es die christlich geprägte spanische Inquisition (1478–1834 u. Z.) war, die die größte gewaltsame Bekehrungskampagne in der Geschichte der Menschheit darstellt.50 Viele Belege deuten darauf hin, dass sowohl Juden als auch Muslime massiv unter dieser Gewalt gelitten haben. Trotzdem weigerten sich Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Zwangskonvertierten, ihren alten Glauben aufzugeben, und praktizierten mit geschickten Ausflüchten weiterhin eine Art Krypto-Judentum und einen Krypto-Islam.51
Diese Geschichte enthält eine Allegorie, die lautstark Gehör verlangt. So sehr Populisten und Rechtsextreme auch antimuslimische Ressentiments schüren und ein Maß an Assimilation fordern, von dem sie selbst wissen, dass es nicht erreicht werden kann, reagieren die muslimischen Bevölkerungsgruppen in Pollockshields, Madrid oder Leipzig nicht damit, dass sie zum Säkularismus konvertieren oder ihre Koffer packen und wegziehen. Angesichts der vorsätzlichen Taubheit einiger politischer Führer muss wiederholt werden: Muslime betrachten Pollockshields und ähnliche Orte zu Recht als ihre Heimat. Im abschließenden Teil dieses Essays wenden wir uns Nietzsches überraschender Auseinandersetzung mit dem Islam und Pierre Klossowskis künstlerischen und muslimischen Reaktionen darauf zu. Jenseits der Lebendigkeit des roten Sandsteins und der von Möwen frequentierten Bürgersteige erinnert hier vieles daran, dass Heimat nicht zuletzt ein intellektueller, spiritueller und für manche ein Ort stolzer Religiosität ist, der nicht getrennt von rein physischen Gebieten existiert, sondern diese erweitert.
Alle Bilder sind Fotos des Autors. Das Titelbild zeigt das Schaufenster des Islamic Relief Shops im Albert Drive.
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Fußnoten
1: Anm. d. Red.: Der zweite Bericht soll im Juni 2026 erscheinen.
2: Ian Almond, Nietzsche’s Peace with Islam, S. 43. Zitate aus englischen Texten wurden von der Redaktion ins Deutsche übersetzt.
3: Zu Iqbal und Nietzsche, s. Feyzullah Yılmaz, Iqbal, Nietzsche, and Nihilism. Zum hier diskutierten 1917er Artikel ad Nietzsche und Rumi s. ebd., S. 4 und 10-13.
4: Dieser unverblümte Neologismus soll meine eigene religiöse Position verdeutlichen: Ich bin zu sehr Atheist, um mich mit dem Titel „Agnostiker“ zu begnügen, bin aber dennoch unbeeindruckt von den Argumenten meines Verstandes für meinen Atheismus. Sie scheinen nur einer Version meines „Selbst“ zu dienen und nicht einer universellen Wahrheit. Daher der Begriff Agno-Atheist.
5: Kinder in Schottland beginnen die Primarschule zwischen viereinhalb und fünfeinhalb Jahren, abhängig von ihrem Geburtsdatum.
6: Vgl. Husain, Among the Mosques, Introduction.
7: Alba ist das gälische Wort für Schottland, s. Khadijah Elshayyal, Scottish Muslims in numbers, S. 8.
8: Dokumentiert in einer detaillierten Studie, die von Ed Husain als „unparteiisch“ beschrieben wird: The Pew Research Centre, The future of the global Muslim population, S. 15.
9: Vgl. Husain, Among the Mosques, Introduction.
10: Khadijah Elshayyal, Scottish Muslims in numbers, S. 8.
11: S. für mehr Informationen zu Pierre Klossowskis Biographie auch Ryan Ruby, Brilliant Brother of Balthus.
12: Aus Winters YouTube-Vorlesung, 40:16, https://www.youtube.com/watch?v=wC8YJfyOkOY&t=356s.
13: Ebd., 2:46.
14: Aus dem Abriss von Klossowskis engagiertem Verhältnis zu Nietzsche, den Klossowskis Übersetzer Daniel Smith in seiner englischen Übersetzung von dessen Hauptwerk gibt (The Vicious Circle, S. viii).
15: „Die drei großen abrahamitischen Religionen“ kommen darin überein, dass Ismaels der Sohn von Abraham und Hagar ist. Es ist bemerkenswert, dass Hagar, der Torah zufolge, (zunächst) keine Jüdin ist. Sie ist eine „Konkubine“ bzw. Sexsklavin, die Abraham in Ägypten als Magd für seine kinderlose Frau Sarah erworben hatte und die ihm Sarah dann überreichte, damit er mit ihr einen Erben zeugt. Als sie jedoch selbst schwanger wurde, fing Sarah an, Hagar garstig zu behandeln und setzte durch, dass sie mit ihrem kleinen Sohn in die Wüste vertrieben wurde. Dort befahl ihr „der Engel Gottes“, in ihre ägyptische Heimat zurückzukehren, wo sie Ismael aufzog und er zum Stammvater der Araber wird. Diese Bibelstelle (Gen. 16, 1-16 & 21, 8-21) ist eine Basis für Winters Verständnis von Ismaels und Hagars als „Exilanten“. (Vgl. die Einträge zu Hagar und Ismael in der Encyclopaedia Britannica.)
16: Anm. d. Red.: Gemeint ist der Fifteenth Arab Youth Survey, der 2023 von der in Dubai ansässigen Unternehmsberatung ASDA’A BCW durchgeführt wurde (Link).
17: Michael Robbins, MENA Youth Lead Return to Religion.
18: Winter, Klossowski’s Reading, 3:11-5:21.
19: Jacob Williams, Islamic Traditionalists: “Against the Modern World?”, S. 335 f.
20: Ebd., S. 335.
21: Ebd., S. 333.
22: Julian Strube, Esotericism, the New Right, and Academic Scholarship, S. 305.
23: Zit. n. Williams, Islamic Traditionalists, S. 333.
24: Peter Staudenmaier, Evola’s Afterlives: Esotericism and Politics in the Posthumous Reception of Julius Evola, S. 170.
25: Sobolewskas Forschung, wie sie von Winter referiert wird, in einem unpublizierten Manuskript der bereits genannten Videovorlesung, welche Winter im Oktober 2025 freundlicherweise mit mir teilte. Der Text des Manuskripts unterscheidet sich geringfügig vom gesprochenen. S. Timothy Winter, Klossowski’s Reading of Nietzsche From an Islamic Viewpoint, S. 2; vgl. Maria Sobolewska, Stephen D. Fisher, Anthony F. Heath und David Sanders, Understanding the effects of religious attendance on political participation among ethnic minorities of different religions, S. 271-287.
26: Markus 8, 18.
27: Brief Nr. 1865, 469.
28: Deeb ist eine erfolgreiche junge muslimische Influencerin, deren YouTube-Kanal mehr als 1,5 Millionen Abonnenten zählt. Man betrachte etwa ihr Video darüber, „was bei der Oxford-Debatte wirklich passierte“ aus dem Juli 2025 (Link).
29: Ich habe diesen Namen und die Namen mehrerer anderer im Text erwähnter Personen geändert, um ihre Identität zu schützen.
30: In Videodebatten taucht Harris stets prominent auf, etwa mit Titeln wie „Wie man den Islam widerlegt“, https://www.youtube.com/watch?v=PpWN1lOM1fE. Aber seine erfolgreichsten Kritiker, darunter Jonas Čeika, der bereits in POParts vorgestellt wurde (hier und dort), finden zumindest in ihren eigenen Kreisen mehr Gehör mit ihrer Kritik am Szientismus, den sie als Kernstück aller Polemiken von Harris betrachten. Vgl. A Critique of Sam Harris' ‘The Moral Landscape’.
31: Mehr schottische Muslime haben ihre Wurzeln in Pakistan als in irgendeinem anderen Land, s. Scotland’s Muslims Society: Politics and Identity, herausgegeben v. Peter Hopkin, 6 f.
32: Neil Davidson & Satnam Virdee, Introduction, S. 2.
33: Die philosophische Frage der Authentizität, insbesondere in Bezug auf Nietzsche, ist umstritten und komplex. Wir sind dankbar, dass Paul Stephan ihr eine ganze Doktorarbeit gewidmet hat.
34: Aus einer Postkarte an Franziska und Elisabeth Nietzsche, geschrieben am 6. April 1881 (Link).
35: Wörtlich übersetzt bedeutet Hadith „Bericht“ und bezieht sich auf die ursprünglich mündlich überlieferten Geschichten über Mohammed und seinen engsten Kreis, die ein oder zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten erstmals in separaten schriftlichen Sammlungen zusammengestellt wurden. Ed Husain erörtert den heutigen Einfluss der Hadithe von Mohammed al-Bukhārī (gestorben 870 u. Z.) in mehreren Abschnitten seines Buches Among the Mosques, darunter auch in Kapitel 1.
36: Ebd., Kapitel 5.
37: Muhammed al-Bukhārī, 52 Witnesses, Sunnah.com, abgerufen am 29. November 2022, http://sunnah.com/bukhari: 2658. Zit. n.: Saqib Iqbal Qureshi, Being Muslim Today, S. 100 f.
38: Ebd., S. 100 f.
39: OIBI website, https://oibi.org.uk/, Zugriff am 1. Oktober 2025.
40: Vgl. Peter Swindon, ”You will get your head chopped off” – Scots Muslim writer threatened by extremists.
41: Musatafa, zitiert nach ebd.
42: Moazzam Zaman, The Need for Creed — Jinn: Beings of Fire, ohne Nummerierung der Seiten.
43: Matloob Ahmed Qasmi, Emergence of Dajjal: The Jewish King, S. 66.
44: Vgl. Christine Ames, Christian Violence against Heretics, Jews and Muslims, S. 476 und 467, Fn. 17.
45: Vgl. Qureshi, Being Muslim Today, S. 214.
46: Vgl. Gerundi, zitiert in David Nirenberg, Mass conversion and genealogical mentalities: Jews and Christians in fifteenth-century Spain, S. 9.
47: Ebd., S. 10 & 3-41.
48: Vgl. Qureshi, Being Muslim Today, S. 216-219; Afsaruddin, The First Muslims: History and Memory, Kapitel „The Age of the Successors“, E-Book Abs. 13.3 und Heather N. Keaney, Uthman ibn ‘Affan: Legend or Liability?, Kapitel „Conquests“, E-Book Abs. 7.30.
49: Sarah Stroumsa, Conversions and Permeability between Religious Communities, S. 34. Dazu, wie sowohl sunnitische als auch schiitische Rechtsschulen Juden, Christen und einigen anderen religiösen Gruppen erlauben, ihre religiöse Identität zu bewahren, indem sie ihnen einen besonderen Schutzstatus gewähren, vgl. Yohanan Friedmann, Tolerance and Coercion in Islam: Interfaith Relations in the Muslim Tradition.
50: Vgl. Qureshi, Being Muslim Today, S 214 f.
51: Das Phänomen des Krypto-Judentums ist ein zentrales Thema in Benzion Netanyahus The Origins of the Inquisition in Fifteenth Century Spain, s. xvi-xviii. Zum Krypto-Islam s. L.P. Harvey, Fatwas in Early Modern Spain.
„Friede mit dem Islam“?
Wanderungen mit Nietzsche durch Glasgows muslimischen Süden: Teil 1
In dem vorerst letzten Beitrag unserer Reihe „Wanderungen mit Nietzsche“ (Link) begibt sich unser Stammautor Henry Holland in eine für die meisten von uns unbekannte Welt. Er begab sich im Spätsommer zu Fuß in den muslimisch geprägten Süden der schottischen Großstadt Glasgow, um dort zwischen Charity-Shops, Moscheen, Buchläden und Restaurants mit den Bewohnern des Viertels ins Gespräch zu kommen und zu erkunden, wie es um den heutigen westlichen Islam bestellt: Wie ticken heutige in Europa lebende Muslime? Wie verstehen sie den Islam? Inwieweit sind sie in die säkulare britische Gesellschaft integriert? Und können Nietzsches Gedanken dabei helfen, ihre Perspektive besser zu verstehen?
Am Anfang seines Zweiteilers gibt Holland zunächst einen kurzen Einblick in den Forschungsstand zu Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Islam und seiner Aneignung in der muslimischen Welt. Er berichtet dann über einen Vortrag von Timothy Winter über den französischen Theoretiker und Künstler Pierre Klossowski und dessen Verhältnis zum Bekenntnis Mohammeds. Diese Vorlesung war es, die ihn dazu inspirierte, diese Reise zu unternehmen, die ihn mitten in eines der meistdiskutierten Themen im Europa unserer Gegenwart führte: „Sag, wie hast du’s mit der Religion des Propheten?“ Der Artikel schließt mit dem Beginn seiner Aufzeichnungen.
Aus dem Englischen übersetzt von Lukas Meisner. Zum englischen Originaltext.
