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Zeitgemässer Blog zu den Erkenntnissen Friedrich Nietzsches

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I

Vietnam

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I

Vietnam

2.3.25
Natalie Schulte

Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.

Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.

Ankunft

Während ich im anschnalllosen, vor Schmutz starrenden und nach Rauch stinkenden Taxi durch die Straßen von Hanoi gefahren werde und durch die verschmierte Fensterscheibe (Öl, Butter?) nach draußen zu gucken versuche, bekomme ich leichte Zweifel, ob diese Verkehrszone eine glückliche Wahl gewesen ist. Nietzsche ist Wanderer gewesen, er hat herrlich verführerische Sätze über das Reisen zu Fuß geschrieben. Der Reiz des Wanderns hat mich allerdings nie ergriffen. Ich mag es nicht, Berge erst hoch- und dann wieder hinunterzutrotten. In den meisten Fällen blickt der Wandernde auch gar nicht nach oben zu all den farbenprächtigen, wogenden Baumwipfeln und dem azurblauen Himmel, sondern zu Boden. Zu den Steinen und Wurzelfallen, über die auch der außergewöhnlichste Vagabund nicht stolpern will. Noch viel schlimmer ist es, in Gesellschaft zu wandern oder auf gut besuchten Wanderpfaden. Immer den Blick auf den vorangehenden Wandererhintern frustriert mich dieses langsame Geeier bereits nach wenigen Minuten. Wandern in Gesellschaft bringt böse und misanthropische Gedanken hervor, die sich gegen die Schnelleren und Fitteren vor uns richten. Ich wäre auch nicht gern der Vordermann, wenn ich wüsste, dass jemand wie ich mit solchen Gedanken hinter mir ginge.  

Wandern zu Aussichtspunkten an schönen Sommertagen erinnert mich an Ameisenkolonien, die in eine hoch gelegene Sackgasse laufen – was suchen sie da oben? Da ist nichts zu fressen –, sich einmal umschauen – „Oh ist das schön, das hat sich aber gelohnt, gell?“ –, um dann wieder den Pfad hinunterzuwuseln, wieder der Vorderfrau hinterher, dann in eine Herberge und am nächsten Tag auf einen anderen Hügel. Ein reichlich sinnloses Unterfangen von einer angenommenen Vogelperspektive aus betrachtet, die ich auf Dauer nicht empfehlen will.

Rollende Sprachfamilie

Reisen mag ich allerdings gerne. Rollendes Reisen auf Rädern, genauer auf einem Fahrrad. Damit bekenne ich mich zu einer relativ neuen deutschen Tradition. Ihr seht im Ausland – gewöhnlicherweise europäisches Ausland – Fahrradreisende, gewöhnlich zwei schnaufende, schwitzende Gestalten im Fahrraddress, mit quietschorangenen Fahrradtaschen, Wasserflasche an der Mittelstange und Handy am Lenker. Dann könnt ihr euch sicher sein, dies sind Deutsche. Wenn nicht, dann ist’s ein Schweizer, also sowas wie ein idealer Deutscher, seltener kann man auch einen Österreicher, Belgier oder Luxemburger auf dem Fahrrad vorfinden, nur jemandem aus Liechtenstein bin ich noch nie begegnet. Dennoch neige ich zur Ansicht, dass es da etwas in der Sprache geben muss, das zur steten, zähen und sicherlich auch etwas monotonen Bewegung verführt. Der deutschsprachige Waldschrat hat seinen Tannenwald verlassen, die gepolsterte Fahrradhose angezogen und den Asphalt erobert.

Nun wird man zugegeben müssen, dass man auch hin und wieder mit dem Fahrrad Berge wird hochfahren müssen, sich genauso wie beim Wandern eher langsam fortbewegt und, wenn man zu zweit reist, es wieder eine Vorderfrau oder so gibt. Ja, das gebe ich zu und ich mag die Berge auf Fahrradreisen lieber von unten und von der Ferne aus, da kann ich sie prächtig genießen. Wenn man sich aber einmal zwangsweise die olle Steigung hinauf gequält hat, dann darf man sie immerhin hinterher hinunterheizen und seine Gedanken frei fliegen lassen.

Fließender Verkehr

Vielleicht, so denke ich allerdings im Taxi, das hupend über eine rote Ampel fährt, hätte ich doch mehr auf Nietzsche hören und es nochmal mit dem Wandern probieren sollen, denn hanoianischer Verkehr verführt nicht gerade zur Selbstbeteiligung. Und ob es mir tatsächlich gelingen wird, lebend aus der Achtmillionen-Einwohner-Stadt mit dem Fahrrad herauszufahren, scheint mir keine Frage mehr zu sein, die ich unbedingt beantwortet haben möchte. Ampeln dienen eher dekorativen Zwecken, weit wichtiger ist das akustische Signal der Hupe: „Achtung hier komme ich“. Immerhin ist der Verkehr in der Innenstadt langsam, denn alles, was sich bewegt, egal ob Fußgänger (in der Regel Touristen), Fahrradfahrer (gewöhnlicherweise ärmere Händler), Rollerfahrer (die dominanteste und größte Menge), Autofahrer (privilegiert, aber leider zu wenig wendig, um sich gegen die Lückenfahrer durchzusetzen), bewegt sich auf der Straße. Es gibt zwar auch Bürgersteige in Hanoi, aber die dienen zum Parken und wenn sie nicht zugeparkt sind, werden sie von den dahintergelegenen Geschäften als zusätzlicher Verkaufs- und Sitzraum belegt. Möchte man eine Straße überqueren, halte man sich an folgende Regel: Laufe langsam und gleichmäßig in den fließenden Verkehr hinein, bleibe nicht stehen und kehre nicht um, der Verkehr wird einfach um dich herum weiter fließen und dich am Leben lassen (wahrscheinlich).  

Verkehrsindividualisten und Geisterfahrer

Für Nietzsche herrschen in Asien die Regeln eines Ameisenstaates, in dem jeder seine Rolle und Stellung kennt, der voll ist von willfährigen, gleichgeschalteten Arbeitssklaven. Zwischen China und Vietnam und anderen asiatischen Staaten hat Nietzsche nicht unterschieden. Am liebsten schreibt er von China und der „Chineserei“, was soviel bedeutet wie Mittelmäßigkeit, Mangel an Individualität sowie Bescheidenheit und andere seiner Meinung nach verwerfliche Tugenden.1 Halten wir uns nicht mit der Tatsache auf, dass Nietzsche mitnichten ein Philosoph der politischen Korrektheit gewesen ist. Er wäre es heute nicht und sofern man sich vorstellt, dass es auch damals eine Stimmung gab, die diesem Begriff entsprochen hat, so hat Nietzsche auch zu seinen Lebzeiten den gesellschaftlich angepassten und anständigen Tonfall verpasst. Asien beginnt für ihn, so lassen einige Aphorismen vermuten, in Russland und dann hört Asien lange nicht auf. Viele Differenzen gibt es nicht. Asien ist eine Metapher und keine Realität. Würde Nietzsche das heutige Hanoi besuchen kommen, die Realität würde ihn überraschen. Das sich selbst als kommunistisch begreifende Land – und auch bei Kommunismus bzw. Anarchismus denkt Nietzsche an Gleichschaltung – besteht aus Verkehrsindividualisten. Jeder ist anders, jeder trifft seine Entscheidungen. Soviel Individualismus aushalten zu können, ist für einen Europäer schwer. Müsste man sich nicht zumindest über die „Geisterfahrer“ im Verkehr beschweren und sie lautstark zurechtweisen, diejenigen, die mit ihrem vollbeladenen Gefährt oder ihrem Motorroller einfach in die entgegengesetzte Richtung fahren, weil sie gleich links abbiegen wollen? Aber wie soll man schimpfen, wie sich beschweren, wenn die Hupe, jenes volltönende Instrument der Zurechtweisung, seines ursprünglichen Zweckes beraubt und zu einem bloß deskriptiven Hinweis degradiert wurde?

„heute dies, morgen jenes“

Individualistisch ist auch das Set an Berufen, das die Vietnamesen wählen können. Vormittags ist er Klempner in einer Motorrollerwerkstatt, abends ist er Koch. Sie arbeitet als Friseuse, aber nur ein paar Stunden, denn ihr Geschäft ist auch bestens ausgestattet, um hervorragend dem Beruf einer Schlosserin nachzukommen. Fußmassage im Hinterzimmer, Teeladen im Eingangsbereich, alles kein Problem. Vielfalt statt Einheit, das gilt umso mehr in kulinarischer Hinsicht. Es gibt endlose Stände vom am Abend aus dem Boden schießenden „Minirestaurants“. Aus irgendwelchen Geschäftsräumen in Hinterzimmern von Werkstätten, Kleiderläden, Schuhgeschäften werden Plastikstühle und -tische auf die Straße gestellt. Gaskocher, Töpfe, Lebensmittel und Zutaten desgleichen. Überall steigt Rauch und Dampf diverser exotischer Gerichte auf. Welche Formulare, Genehmigungen, Bescheide, Zertifikate und Sonderzulassungen müsste man sich im guten alten Europa besorgen, um sowohl Werkstatt als auch Restaurant sein zu dürfen? Eins davon ist kompliziert genug. Denn in einem Land, das aus seiner Normalbevölkerung Angestellte machen möchte, ist die „Kleinunternehmerin“ nicht gern gesehen. Wer hier wohl Steuern zahlt? Und wenn ja, für was? Was auf diese Art dem Staat entgeht, das möchte man in unseren Breiten auch nicht zur Selbsternährung tolerieren.  

Phantasie ab dem ersten OG

Als Balanceakt zwischen Traumerfüllung und auf Dauer gestelltem Provisorium könnte man auch all die Privatbauten begreifen. Es gibt zwar eine typische Architektur, schmale, lange, hohe Gebäude, die sich, kollektivistisch gesehen, gut und gern in Reih und Glied anordnen ließen, die aber beständig durch ihre künstlerisch individuelle Gestaltung aus dem Gleichmaß heraustanzen wollen: Dort der schmiedeeiserne Balkon, hier eine in einen Erker eingelassene Jungfrau Maria, drüben das Marmorimitat, hüben die zimtfarbenen Säulen. Vor die sorgfältig und phantasievoll gestaltete Fassade ist im Erdgeschoss die hinsichtlich Vielseitigkeit und Hässlichkeit nicht zu überbietende Garage gestellt, der beständige Beweis dafür, dass „form follows function“ keineswegs zu einer ansprechenden Ästhetik führt. Pragmatismus auf der Erde, Phantasie ab dem ersten Ober- bis zum Dachgeschoss. Die vietnamesische Vertikale, hätte die vielleicht Nietzsche gefallen?

Brücken aus Konfekt

Es gibt, so muss ich einsehen, immer ein Problem beim Dialog mit Verstorbenen. Wie kann man sich denn sicher sein, dass er kein Selbstgespräch ist? Wo enden unsere Interpretationen und wo beginnen die Projektionen? Ich hätte gern eine Spezialistin gefragt. Und Vietnam wäre vermutlich ein geeignetes Land dafür gewesen. Denn die Kontaktpflege zu verstorbenen Ahnen mittels Altar und Opfergaben ist allgegenwärtig. Wenn die Brücke zwischen den Reichen Jenseits und Diesseits aus Obst, Dosentee und Süßigkeiten errichtet ist, vielleicht kann dann bei so viel genussreicher Materialität das Jenseits gar nicht zu einer schalen, blassen und unglaubwürdigen Illusion verkommen?! Der Junge der Händlerin kniet ehrfürchtig vor dem Altar, betet oder verhandelt. Dann nimmt er die Drachenfrucht vom Altar fort und reicht sie mir als Geschenk der Toten. Da habe ich schlicht nicht zu fragen gewagt.

Link zu Teil 2 (Kambodscha)

Die Bilder zu diesem Artikel sind Photographien der Autorin.

Fußnoten

1: Vgl. z. B.: M 206, FW 24, FW 377, JGB 267, GM I, 12.

Mit Nietzsche im Gepäck durch Südostasien I

Vietnam

Unsere Autorin Natalie Schulte ist neun Monate in Südostasien mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. 5.500 km hat sie zurückgelegt durch Vietnam, Kambodscha, Thailand und Malaysia. Mit im Gepäck zur Motivation und Auseinandersetzung war wie schon häufiger Also sprach Zarathustra. Aber auch jenseits dieses Werkes waren Gedanken Nietzsches häufig präsent. In ihrer kurzen Essayreihe erzählt sie von ihren Reiseerfahrungen mit und ohne Nietzsche.

Diskurs, Macht, Wahn

Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited

Diskurs, Macht, Wahn

Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited

17.2.25
Paul Stephan

Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.

Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.
Abbildung 1: Graffiti von Foucault in den Straßen von Lyon (2008) (Link)

I. Foucault – der Denker unserer Zeit

Daran, dass Foucault ein Nietzscheaner war, besteht kaum ein Zweifel. So hält Jan Rehmann in der ersten Auflage seiner kürzlich neu erschienenen und auch ins Englische übersetzten1 Studie Postmoderner Links-Nietzscheanismus fest: „Foucault hat sich von Beginn bis zum Ende seines Schreibens so durchgängig und häufig als Nietzscheaner bekannt, dass sein ‚fundamentaler Nietzscheanismus‘ in der Literatur kaum umstritten ist.“ (S. 19) Er untermauert dies anhand folgender Collage von Foucaults Selbstbekenntnissen in Sachen Nietzsche:

„Nietzsche war eine Offenbarung für mich“ (1982), „wir brauchten seine Figuren […] des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr, um aus dem Schlaf der Dialektik und der Anthropologie aufzuwachen“ (1963), „eine Einladung, die Kategorie des Subjekts in Frage zu stellen und es ihm selbst zu entreißen“ (1978), seine Ankündigung des Endes des Menschen „hat für uns einen prophetischen Wert angenommen“ (1966), seine „Präsenz ist immer wichtiger“ (1975), „Nietzsche und Heidegger, das war der philosophische Schock“, „aber schließlich hat sich ersterer durchgesetzt“ (1984).2

Ähnliche Huldigungen könnte man auch den Werken von Foucaults philosophischen Mitstreitern Jacques Derrida und Gilles Deleuze entnehmen, die sich gleichermaßen am Projekt des „Poststrukturalismus“ beteiligten, doch Foucaults Interpretation ist es, die den geläufigen Blick nicht nur auf Nietzsche, sondern auch die Welt, weit über den akademischen Diskurs hinaus am entscheidendsten beeinflusst hat. Der beste Beweis: Die Allgegenwart des von ihm federführend mitgeprägten, wenn auch in den verschiedenen Phasen seines Schaffens höchst unterschiedlich definierten, Worts „Diskurs“ selbst.

Foucault gab nicht zuletzt 1966 gemeinsam mit Deleuze die französische Übersetzung von Giorgio Collis und Mazzino Montinaris Neuedition von Nietzsches Schriften heraus, die heute als wissenschaftlicher Standard und Meilenstein in der „Entnazifizierung“ Nietzsches gilt.3 Sie machte insbesondere Nietzsches vermeintliches Hauptwerk Der Wille zur Macht, aus dem Deleuze in seiner Studie Nietzsche und die Philosophie von 1962 noch exzessiv zitiert hatte, als Fiktion Elisabeth Förster-Nietzsches und ihrer Mitarbeiter kenntlich und ersetzte es durch eine heterogene Pluralität zahlloser Nachlassfragmente. Besonders wirkmächtig war jedoch Foucaults Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie von 1971, eine Art Programmschrift seiner Nietzsche-Interpretation wie auch seines eigenen philosophischen Projekts: Nietzsche wird hier als radikaler Kritiker aller fixen Sinngefüge dargestellt, als fröhlicher Nihilist, der insbesondere dem Mythos eines einheitlichen Subjekts qua seiner Auflösung in kontingente historische Kräftespiele ein Ende bereitet habe.  

Ich habe in den letzten Jahren wiederholt Seminare zu Foucaults Schriften und vor allem seiner Nietzsche-Interpretation an unterschiedlichen Hochschule und Universitäten unterrichtet und stieß dabei immer wieder auf einen bemerkenswerten Sachverhalt: Trotz der offenkundigen Leerstellen in seiner Theorie – wie insbesondere, wie er diese Theorie selbst aus dem Mahlstrom der Macht zu retten vermag, und ob er nicht implizit selbst normative Maßstäbe, einen Begriff von Wahrheit und sogar von Subjektivität voraussetzt –, werden seine Thesen von den Studenten meist ohne größere Einwände, wenn auch ohne regelrechte Begeisterung, „geschluckt“ und gegen die von mir oft vorgebrachte Kritik verteidigt. Und mir geht es – nach jahrelanger Beschäftigung mit Foucault – auch selbst so: Obwohl ich rational einsehe, dass er als Philosoph zweitrangig ist – in hoffnungslosen Selbstwidersprüchen befangen und in allem Originellen eigentlich nur ein Adept Nietzsches und Heideggers –, verspüre ich bei der Lektüre seiner Schriften eine eigentümliche Vertrautheit, die in einem merkwürdigen Kontrast zu Foucaults radikaler Rhetorik steht, und die nicht bloß das Resultat meiner Lektüre ist.

Wir leben, zumal, wenn wir uns im Diskurs – dieses verfluchte Wort! – der Sozial- und Kulturwissenschaften und von allem, was sich irgendwie als „kritisch“ und „links“ versteht, bewegen, in einem Dispositiv – also einer strategischen Diskursformation, so nennt’s der Meister –, das von Foucault so grundlegend wie von wohl keinem anderen Denker geprägt worden ist. Niemand entwickelte eine so reine, mit der Alltagsintuition so kompatible Version des „Postmodernismus“, der das kulturelle Klima bis in die Gegenwart bestimmt. Niemand, außer vielleicht die erwähnte Schwester, erreichte, im Guten wie im Schlechten, so viel für die Popularisierung Nietzsches und sein Fortwirken; und das, nachdem ihn seine Vereinnahmung durch die Nazis und Faschisten nach 1945 eigentlich so grundlegend desavouiert hatte. Wenn wir Nietzsche lesen, lesen wir ihn stets durch die Brille Foucaults – ja, wir gehen durch die Welt mit Foucaults Augen, er ist derjenige Theoretiker, der wie kein zweiter unsere Zeit definiert.

Das ist nicht unbedingt im Sinne eines Kausalzusammenhangs gemeint. Foucault war vor allem ein guter Diagnostiker, der in geradezu chamäloenhafter Weise, in dieser Hinsicht dem „Seismographen“ (Ernst Jünger) Nietzsche nicht unähnlich, die Grundstimmungen seiner Zeit erfasste und auf, zumindest halbwegs, plausible Begriffe brachte; Begriffe wie „Diskurs“, „Macht“, „Wahn“, „Genealogie“, „Dispositiv“ und viele andere, die nicht primär aufgrund ihrer theoretischen Kohärenz oder philosophischen Tiefe plausibel wirken, sondern eben genau, weil sie jenen Stimmungen entsprechen. Und es sind eben jene Stimmungen einer erschöpften, ihrer einstigen Ideale überdrüssig gewordenen Moderne, die unsere Zeit bis heute bestimmen, selbst wenn wir seit einigen Jahren ein gewisses Revival der objektiven Wahrheit jenseits des referenzlosen Flimmerns der Diskurse (Stichwort: Klima und Corona) und der von Foucaults Mitstreiter François Lyotard so genannten „großen Erzählungen“, deren Ende das „postmoderne Wissen“ definierten, erleben – man denke nur an den neu entdeckten Stolz auf den „freien Westen“ oder die Wiederbelebung längst tot geglaubter nationalistischer und imperialistischer Narrative. Wir leben sicherlich nach der Postmoderne, doch über dieses „Danach“ wurde noch nicht final entschieden. Gerade deswegen lohnt es sich, Foucaults „neues Buch“ einmal genauer in den Blick zu nehmen.

Abbildung 2: Gedenktafel an Foucaults letzten Wohnhaus (Link)

II. Zwischen System und Rausch – Eine eigenwillige Philosophiegeschichte

Foucault verfasste das über 400 Seiten lange unvollendete Manuskript Der Diskurs der Philosophie laut den Herausgebern im Jahr 1966. Es ist schon gespenstisch, das „neue Buch“ eines Toten in den Händen zu halten, der sich zumal, ähnlich wie Kafka, gegen jede posthume Edition seines Nachlasses verwehrte. Gespenstisch ist es allerdings vor allem deswegen, weil es so vertraut wirkt, gerade so, als hätte man es schon einmal gelesen. Das liegt nicht bloß daran, dass Foucault in ihm natürlich frühere Thesen aufgreift und spätere vorwegnimmt; es hat vor allem den Grund, dass er dort seinerseits eine „große Erzählung“ entwirft – dass man offenbar „großer Erzählungen“ bedarf, um das Ende derselben zu untermauern, gehört zu den oft thematisierten Grundparadoxien der Postmoderne –, die 1966 radikal, provokant und skandalös gewesen sein mag, doch 2025 längst Konsens ist, fast ein wenig langweilig und bieder wirkt, jedenfalls abgedroschen.

Langeweile stellt sich beim Lesen zumal ein, da das Buch für Foucaults Verhältnisse – seine Schriften überzeugen nicht zuletzt durch ihre polemisch, witzige und ausgeklügelte Rhetorik, mit der er die erwähnten Stimmungen bewusst mobilisiert und seine intellektuellen Unsauberkeiten übertüncht – äußerst technisch und trocken geschrieben ist. Meine persönliche Hypothese: Vielleicht wollte sich der damals noch nicht „angekommene“ Foucault damit gewissermaßen um einen permanenten Lehrstuhl für Philosophie bewerben. Von Gesellschaftskritik und insbesondere der späteren durchaus mit emanzipatorischen Anliegen zu vereinbarenden Machtkritik, die man heute mit Foucault im Allgemeinen verbindet, enthält das Buch kaum eine Spur, man hat, der Form wie dem Inhalt nach, eher das Gefühl, einen der spröden Wälzer des Systemtheoretikers Niklas Luhmann in den Händen zu halten und bisweilen klingt Foucault hier eher wie Hegel als Nietzsche.  

Aufgrund des mitunter sehr technischen und für Laien kaum zugänglichen Charakter des Buches hier nur einige seiner Leitgedanken: Um 1640 – Stichwort: „Cogito ergo sum“ (Descartes) – entwickelte sich eine neue Ordnung des Wissens, innerhalb der die Philosophie eine völlig neue Rolle spielte. Eigentlich kann man Foucault zufolge die Philosophie vor und nach Descartes überhaupt nicht miteinander vergleichen, da beide Diskurse zwar über dieselben Gegenstände sprächen, dies aber in einem ganz anderen Modus täten: Die Philosophie sei vor Descartes Subdisziplin eines einheitlichen Kosmos des Wissens gewesen, nun trete sie Literatur und Wissenschaft als eigenständiger Modus der Wissensproduktion gegenüber. Diese neue „klassische“ Philosophie versuchte, universelle Wahrheit und partikulare Position eines Subjekts zu verbinden. Sie unternahm dies auf unterschiedliche Weisen, wobei Foucault, der vor allem in seinem Spätwerk immer wieder nachzuweisen versucht, wie unterschiedliche Diskurse interagieren und Teil von übergreifenden Machtgeflechten sind, überraschenderweise postuliert, dass sich diese Weisen logisch und notwendig aus Descartes’ Leitsatz ergäben und es keinerlei Wechselwirkung zwischen der Philosophie und den anderen Diskursen gegeben habe.

Von Descartes bis Husserl hätten die Philosophen versucht, eine universelle Wahrheit zu artikulieren, die zugleich die individuelle Wahrheit eines einheitlichen Subjekts ist. Dieses Projekt sei nach nur 300 Jahren an sein Ende gekommen: Das „Ereignis Descartes“ sei durch das „Ereignis Nietzsche“ abgelöst worden. Wenn es um die genaue Definition dieses Ereignisses geht, kippt Foucault von seinem sonst sehr technischen in einen sehr pathetischen und blumigen Stil, wie man ihn aus seinen Schriften eher gewohnt ist. Er beruft sich auf Georges Bataille, einen seiner wichtigsten „Lehrmeister“, und den Erfinder des „Theaters der Grausamkeit“, Antonin Artaud, beide überzeugte Nietzscheaner, und preist Nietzsche als eine Art Messias eines „radikale[n] Neuanfang[s]“ (S. 202), eines „zweite[n] Morgen[s]“ (ebd.) der Philosophie. Er bezieht sich vor allem auf Ecce homo und erblickt in Nietzsches Schriften ein Denken, in dem das einheitliche Subjekt durch eine „Vielheit von Subjekten“ (S. 212), einen „große[n] Pluralismus“ (S. 213), „eine nicht entzifferbare Vielheit von Masken oder Gesichtern“ (ebd.) ersetzt werde, in dem sich Philosophie und Literatur, Philosophie und Wahnsinn und sogar Philosophie und Religion aneinander annäherten: „[I]n diesem Sinne wird der philosophische Diskurs vom religiösen Diskurs nicht so weit entfernt sein: aber keine Exegese; das Wort Christi selbst.“ (S. 208)

Nüchterner fährt Foucault dann damit fort, dieses Projekt in den Kontext des allgemeinen linguistic turn – also die ab 1945 in den Geisteswissenschaften bestimmende Wendung vom Bewusstsein hin zur Sprache – zu stellen und versucht sich darin, die Methodologie einer „Archäologie“ als Analyse des „Diskurs-Archivs“ einer Kultur zu entwickeln, die er freilich abbricht. Vielleicht ist ihm selbst aufgefallen, dass zwischen einer solchen „Archäologie“ als minutiöser, seriös daherkommender Diskursanalyse und einem an Bataille und Artaud anknüpfenden Lob der Desubjektivierung und des anarchischen Mythos Welten liegen. Und wie erwähnt ist hier auch von „Macht“ noch keine Rede: Es waren womöglich erst die Ereignisse von 1968, die Foucault dazu brachten, seine Diskursanalyse entsprechend zu (re)politisieren und wieder stärker an seine ersten Werke Wahnsinn und Gesellschaft (1961) und Die Geburt der Klinik (1963) anzuknüpfen.

Abbildung 3: Zwischen Anerkennung und Subversion: Tafel am Michel-Foucault-Platz im Universitätsviertel von Paris (Link)

III. Was kommt nach der Postmoderne?

Freilich sind diese drei Grundtendenzen – Diskursanalyse, Kritik der Macht, Lob der Desubjektivierung – in Foucaults Denken ohnehin nicht besonders gut vermittelt. Doch das macht vielleicht genau seinen Erfolg aus. Ganz wie bei Nietzsche kann sich jeder seinen Foucault zusammenbasteln und er selbst scheint sich, wie man unschwer erkennen kann, wenn man seine zahlreichen Interviews betrachtet, in der Rolle des vieldeutigen Theoriedandys und schillernden Provokateurs auf dem schmalen Grat zwischen edginess und Machtposition im akademischen Betrieb gefallen zu haben. Im Mainstream wirkt er vor allem als Stichwortgeber einer „unideologischen“ Kulturwissenschaft ohne existenzphilosophischen, marxistischen oder psychoanalytischen Ballast, in linken Kreisen als – vielleicht sogar anarchistischer – Kritiker an repressiven Machtstrukturen, Künstlern und Künstlerphilosophen gilt er als Fortsetzer Batailles.

Die Grundstimmung, der Foucault Ausdruck verleiht: Man will kritisch sein und weist „repressive“ Ideologien zurück, doch möchte sich darum ebenso wenig mit allzu viel „metaphysischem“ Ballast bepacken, wie es noch die letzten großen „Systemlebauer“ des 20. Jahrhunderts in der Generation vor Foucault wie Adorno, Sartre, Bloch und Heidegger taten, in wie gebrochener Form auch immer. Foucault entpuppt sich so als recht präziser Vordenker dessen, was man heute als „linksliberalen Mainstream“ bezeichnet und ermöglicht in seiner Vieldeutigkeit je nach Bedarf mal mehr mal weniger radikale Anknüpfungen. Sein weitgehender Verzicht auf starke, nicht bloß ästhetisch motivierte, Werturteile lässt es ohnehin zu, seine Analysen stets sowohl als bloße Beschreibungen als auch als Kritiken zu lesen, selbst wenn von seinem Tonfall meist eine gewisse Wertung impliziert wird. Ein bisschen Kritik, ein bisschen Zynismus; ein bisschen Liberalität, aber bloß keine Systemkritik; individuelle „Lebenskunst“, aber bitte keine anspruchsvolle Ethik der Authentizität; Faszination an der Desubjektivierung, aber bitte nur in Kunst und Literatur … Foucault: Der führende Ideologe des juste milieu unserer Zeit.

Wie kommen wir nun über diese Ideologie hinaus und durchschauen sie, vielleicht sogar von Foucault selbst inspiriert, ihrerseits als Dispositiv der Macht, das uns unterdrückt und in unseren Lebensmöglichkeiten beschneidet? Was kommt nach der Postmoderne? Und sollten wir uns überhaupt nach „nachpostmodernen“ Zuständen sehnen? Vielleicht werden wir die Postmoderne als die Ära Foucaults und Deleuzes einmal mit ebenso viel sentimentaler Wehmut betrachten wie Nietzsche bisweilen das 18. Jahrhundert Rousseaus und Voltaires …4 Erst, wenn die faszinierten Pfaffen wieder die Waffen für die Kriege eines neuen Imperialismus segnen werden,5 werden wir den fröhlichen Nihilismus der Postmoderne vielleicht wieder zu schätzen wissen, doch dann mag es zu spät sein …

Oder ist ein anderer Ausweg möglich, der jenseits der Alternative von repressiven „großen Erzählungen“ und großer Erzählung über das Ende der großen Erzählungen liegt? Ein Weg dorthin mag eine unbefangene Relektüre der Schriften Nietzsches sein. Wenn Nietzsche etwa im Zarathustra verkündet: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“6, ist das nicht im Sinne einer Reartikulation und vielleicht sogar Radikalisierung des klassischen Humanismus zu verstehen anstatt im Sinne eines „Tods des Menschen“, wie ihn Foucault Nietzsches Schriften als Diagnose wie Appell entnehmen zu können glaubte? Und der „letzte Mensch“, den Zarathustra dem Übermenschen gegenüberstellt, ist das nicht genau der selbstzufriedene, ohne „große Erzählungen“ lebende „Postmensch“ der Postmoderne? Sind sie nicht diejenigen, von denen es heißt: „[F]rech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele“7, und sind sie nicht „die Buntgesprenkelten […][,] die ihr Gemälde seid von Allem, was je geglaubt wurde“8, Maskenmenschen ohne Identität, für die gerade der späte Nietzsche nur Verachtung übrig hatte? In Ecce homo scheint er gerade nicht die Desubjektivierung zu predigen, sondern sich im Gegenteil geradezu krampfhaft um eine „Selbstvertheidigung9 als Abwehr des einsetzenden Wahns zu bemühen und ein kühnes Programm zu verkündigen, das geradezu antipostmodernistisch wirkt:

Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt –, diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit aus der Einsicht, dass die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, dass sie durchaus nicht göttlich regiert wird, dass vielmehr gerade unter ihren heiligsten Werthbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbniss, der décadence-Instinkt verführerisch gewaltet hat.10

Auch der späte Nietzsche möchte nicht, wie Foucault in besagtem Essay behauptet, ein Wissen, das bloß dem Zerschneiden, jedoch nicht dem Verstehen dient (vgl. S. 180), sondern seine zerschneidende Kritik ist an ein primär bejahendes Projekt rückgekoppelt, das durchaus als Fortsetzung von demjenigen der Aufklärung begriffen werden kann: Die Menschen sollen sich in moralischen Fragen nicht mehr der bevormundenden Herrschaft von Natur und Ideologie unterwerfen, sondern endlich auf der Grundlage der Einsicht in ihre natürlichen Triebkräfte eine menschenfreundliche autonome Moral entwickeln. Man mag mit der konkreten Ausgestaltung dieser Moral in Nietzsches Spätwerk nicht einverstanden sein, doch dieses – ja bewusst offen formulierte – Programm bleibt zukunftsweisend. Es zeugt von wenig interpretatorischer Redlichkeit, darin bloß den Ausdruck eines ironisch-satirischen Maskenspiels zu erblicken, selbst wenn Nietzsches Gestus in Ecce homo grotesk wirken mag. Vielleicht wirkt er ja nur bizarr und größenwahnsinnig aus der Perspektive unserer eigenen Kleingeistigkeit und aufgrund der Verkümmerung unserer utopischen Phantasie?

Mit anderen Worten: Eine auf Nietzsche gestützte Neomoderne statt Postmoderne, das wäre vielleicht eine Alternative zu den ideologischen Radikalisierungen, die sich zu allem Überfluss auch noch auf Nietzsche berufen, und dem fortgesetzten postmodernen Skeptizismus, der ihnen gegenüber ohnmächtig bleibt? Oder handelte es sich dabei nicht nur wieder um ein neues „Dispositiv der Macht“, aus deren Fängen es ja, so der späte Foucault, ohnehin kein Entrinnen gäbe? Eine Frage, die wir nicht der Welt stellen, sondern die sie uns stellt …

Abbildung 4: Stein des Anstoßes, Schmuck im Stadtbild, Waffe der Kritik? Foucault-Pflasterstein vor der Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (Link)

Quelle des Artikelbilds: https://www.flickr.com/photos/kongniffe/5340624604

Literatur

Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie. Berlin 2024.

Ders.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Schriften. Dits et Ecrits. Bd. 2. Hg. v. Daniel Defert & François Ewald. Frankfurt a. M. 2002, S.166–191.

King, Matthew & Matthew Shape: On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism: Foucault & Deleuze. In: Historical Materialism, online.

Rehmann, Jan: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 1. Aufl. Bonn 2004.

Ders.: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. 2. Aufl. Kassel 2021.

Fußnoten

1: Vgl. für eine umfangreiche Rezension und Würdigung dieser Übersetzung Matthew King & Matthew Shape, On Jan Rehmann’s Deconstructing Postmodern Nietzscheanism (Link).

2: Ebd.

3: Vgl. dazu auch die Anmerkungen Jonas Pohlers in seinem Bericht über die vergangene Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft auf diesem Blog (Link).

4: Vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, Aph. 245.

5: Und eigentlich ist ja schon längst so weit …

6: Vorrede, 5.

7: Also sprach Zarathustra, Vom Baum am Berge.

8: Also sprach Zarathustra, Vom Lande der Bildung.

9: Warum ich so klug bin, 8.

10: Ecce homo, Morgenröthe, 2.

Diskurs, Macht, Wahn

Michel Foucaults Nietzsche-Interpretation revisited

Jüngst erlebte die geisteswissenschaftliche Szene eine kleine Sensation: Im Nachlass Michel Foucaults (1926–1984), eines der bedeutendsten Vertreter des Poststrukturalismus, stießen seine Herausgeber auf ein ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel Le discours philosophique, an dem der bekennende Nietzscheaner 1966 gearbeitet hatte. 2024 erschien es bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung. In dieser umfassenden Analyse des philosophischen Diskurses seit Descartes kommt Nietzsche eine entscheidende Rolle zu. Paul Stephan nimmt dieses Ereignis zum Anlass, sich die bis heute einflussreichste Nietzsche-Interpretation des 20. Jahrhunderts noch einmal genauer anzusehen.

Der Abdruck des Erziehers

Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II

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Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II

3.2.25
Tom Bildstein

Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.

Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.

Teil II: Nietzsches Schopenhauer-Kritik

V. Der Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus  

Der Wille stellt für Schopenhauer das monistische Weltprinzip dar, auf das alle Welterscheinungen zurückgeführt werden können. Es ist das metaphysische Wesen, das dem kantischen Ding an sich zugrunde liegt, das, was „das innere Wesen der Dinge ausmacht“15. Nietzsche setzt sich mit dem Schopenhauerschen Willensbegriff intensiv auseinander und betrachtet ihn als eine metaphysische Hypothese, die es zu widerlegen gilt, um eine das Leben konsequent bejahende Philosophie aus der Taufe heben zu können. Der Kampf gegen die Schopenhauersche Willensthese verwandelt sich bei Nietzsche zu einem Kampf gegen den nihilistischen Pessimismus.

Der Pessimismus an sich ist für Nietzsche eigentlich nicht das Hauptproblem: „Nicht der Pessimismus (eine Form des Hedonismus) ist die große Gefahr […] [,] [s]ondern die Sinnlosigkeit alles Geschehens!“16. Schopenhauers Begriff des Willens zum Leben, der die verschiedenen Manifestationen des ewigen Willens in der Stufenleiter der Natur unter einen einheitlichen Ausdruck eines „blinden Drangs“ bringt, der alle Lebewesen unermüdlich zur Sättigung des egoistischen Überlebenstriebs treibt und die Welt somit zum „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“17 macht, hat eine in Nietzsches Augen lebensgefährliche Abwertung des Daseins zur Folge. In Der Antichrist (1888) macht er deutlich: „Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend“18.  

Nietzsche spielt mit seiner Aussage auf die im vierten und letzten Hauptteil der Welt als Wille und Vorstellung vorgetragene Mitleidsethik an. Der Schopenhauersche Begriff des Willens zum Leben birgt in sich schon das Moment seiner Negation. Diese nihilistische Moral der Selbstaufhebung des Willens führt ins Nichts, das bezeichnenderweise dem Schlusswort des Schopenhauerschen Hauptwerks entspricht. Diese von Schopenhauer selbst auch als Askesis verstandene Moral der Willensnegation präsentiert er als „die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur anhaltenden Mortifikation des Willens“19. Diesen Lebensstil und seinen vernichtenden Umgang mit dem Willen zum – negativen – philosophischen Ausgangspunkt seines eigenen Mammutprojektes, der „Umwertung aller Werte“, machend, entwickelt sich Nietzsche schrittweise zum Anti-Schopenhauerianer.  

VI. Wille zum Leben oder Wille zur Macht?

Seinen Begriff des Willens zur Macht konzipiert Nietzsche als einen doppelten Gegenentwurf zum Schopenhauerschen Willen zum Leben. Dieses Antimodell ist insofern doppelt, als es aus einer zweifachen, „ethischen“ und „metaphysischen“ – zwei Termini, die strenggenommen nicht mehr zu Nietzsches Philosophieverständnis passen – Opposition gegen die Schopenhauersche Philosophie erwächst. Der Begriff des Willens zum Leben spiegelt die multiplen physio-psychologischen Kämpfe, die die Wirklichkeit von innen her strukturieren, in Nietzsches Augen unzureichend wider. 1882 trifft er die Aussage: „Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht“20.

Der Wille zur Macht ist ein verwickelter Begriff: Der Sinn und die zentrale Rolle, die Nietzsche ihm zuerteilt, sind schwierig zu entschlüsseln. Es ist nicht ganz klar, ob es sich, wie bei Schopenhauer, um einen Begriff mit metaphysischem Anspruch oder vielmehr um ein regulatives Prinzip einer neuen Lebensführung handelt. Denn man findet in Nietzsches Schriften Stellen, die sowohl die eine als auch die andere Hypothese bestätigen. In einem Nachlassfragment von 1885 trifft er beispielsweise eine stark an die Schopenhauersche Metaphysik erinnernde Aussage: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“21. Später heißt es jedoch in einem Fragment, das den Titel „Wille zur Macht als Erkenntniss“ trägt – eine Idee, die Martin Heidegger zum Hauptgegenstand seiner Vorlesung vom Sommersemester 1939 an der Universität Freiburg machen wird22 –, dass es ihm mit seinem Begriff des Willens zur Macht weniger darum geht, die wahre Erkenntnis des Weltwesens zu offenbaren, als „dem Chaos so viel Regularität und Formen auf[zu]erlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut“23.

Sicher ist, dass Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht den Versuch einer alternativen Auslegung und Bewertung des Lebens stellt, die einer neuen, gegen Schopenhauer gerichteten Lebensführung den Weg bereiten soll. Ziel ist es, mit anderen Worten, sich der nihilistischen Grundvorstellung zu widersetzen, wonach der Hauptantrieb des Menschen einem „blinden Drang“ zum Leben entspricht, der ihn dazu verleitet, ohne Grund an der Erhaltung seines Daseins festzuhalten – und im Gegenzug zu beweisen, dass der Mensch in Wahrheit nicht nach seinem (Über-)Leben, sondern nach Macht strebt.

VII. Ja oder nein?

Die gegensätzlichen Lebens- und Weltauslegungen beider Denker – als Spiegelbild des Willens zur Macht oder des Willens zum Leben – gehen mit gegensätzlichen Vorstellungen vom Sinn des Lebens einher. Die Schopenhauersche Daseinsauffassung als Manifestation des blinden, unersättlichen Willens zum Leben führt zwangsläufig zu seiner völligen Selbstverneinung. Im vierten Buch des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung macht Schopenhauer deutlich, „daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Inneren herumträgt“24. Der Schopenhauerschen Beantwortung der „Sinn-des-Lebens-Frage“ liegt also eine doppelte These zugrunde: Erstens, dass Leben und Leiden wesentlich zusammengehören, und zweitens, dass das Leiden sinnlos ist und somit vermieden werden sollte. Die Leidensvermeidung als Lebensaufgabe, die Schopenhauer nicht im hedonistischen Sinne eines Strebens nach Sinnenlust versteht – denn alles Glück ist negativer Natur und besteht nur in einer kurzen Unterbrechung der einzig „positiven“ Mangelerscheinung – kann nur durch eine asketische Negation dessen, wovon das ewige Leid seine Nahrung erhält, vom Willen zum Leben, geschehen. Die Schopenhauersche Philosophie, die man durchaus mit Rudolf Malter25 als eine Soteriologie26 verstehen kann, reagiert demzufolge mit einem entschiedenen „Nein!“ auf den egoistischen Willen zum Leben, um nicht nur dem individuellen, sondern auch dem Leid in der Welt allgemein ein Ende zu setzen.

Nietzsche reagiert ganz anders auf das Problem des Leidenscharakters des Lebens. Das neue Leben, das er mit der Idee des Willens zur Macht zu denken sucht, setzt eine gewisse Leidensbereitschaft des Menschen, einen gewissen Willen zum Leiden voraus. „Der Wille zum Leiden ist sofort da, wenn die Macht groß genug ist“27, schreibt Nietzsche 1883 in sein Notizbuch. Sein „wahrer“ Pessimismus kommt mit diesem Begriff des Willens zum Leiden zur Geltung. Seine alternative Vorstellung des Pessimismus, die er ebenfalls als einen „Pessimismus der Stärke“ oder als einen „klassischen Pessimismus“ bezeichnet, richtet Nietzsche gegen den „romantischen“ Pessimismus, den in seinen Augen nicht nur Schopenhauer, sondern auch Alfred De Vigny, Fjodor Dostojewski, Giacomo Leopardi, Pascal und alle Weltreligionen vertreten.  

Gegen diese Vertreter des romantischen Pessimismus, vor allem aber gegen Schopenhauers Negation des Willens zum Leben, soll „ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung concipirt [werden], in dem sogar der Schmerz, jede Art von Schmerz als Mittel der Steigerung ewig einbegriffen ist: der tragisch-dionysische Zustand“28. Mit seinem tragisch-dionysischen Pessimismus antwortet Nietzsche somit auf die Frage nach dem In-Kauf-Nehmen des Leids für das Leben im genau entgegensetzten Sinne zum Schopenhauerschen „Nein!“ mit einem überzeugten, durchaus kämpferischen und neuen „Ja!“.

VIII. Atheismus und Amoralismus

Seit Schopenhauer muss die Philosophie auf eines ihrer ältesten und stärksten Argumente zur Erklärung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, verzichten: Gott. Die Wirklichkeit verlangt nun nach einer atheistischen Auslegung ihrer selbst; sie will als solche, d. h. nicht mehr als bloßes Geschöpf eines unerreichbaren Schöpfers wahrgenommen werden. Der Anspruch, den Schopenhauer an die Philosophie stellt und der darin besteht, das Wesen der Welt ohne den Rückhalt einer ultimativen Gottesthese zu deuten, imponiert Nietzsche. In seinen Augen war Schopenhauer „als Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben“29.

An den Schopenhauerschen, für eine neue, anti-transzendente Methode richtungsweisenden Atheismus, wird Nietzsche mit seiner Philosophie unmittelbar anknüpfen. „Der Atheismus war das, was mich zu Schopenhauer führte“30, erklärt er in Ecce Homo (1889). Auch in diesem Zusammenhang wird Nietzsche mehr die Diagnose, die Schopenhauer vom Zustand der Metaphysik macht, als das von ihm vorgeschlagene Therapeutikum wertschätzen. Denn Gottes Tod führt bei Schopenhauer, anders als bei Nietzsche, nicht gleichzeitig zum Untergang der moralischen Werte. Atheismus und Amoralismus gehen für Schopenhauer nicht miteinander einher. Obwohl er der christlichen Gotteslehre nicht folgt, bleibt er der philanthropischen Moral des Christentums nichtsdestotrotz treu. Die Menschenliebe (caritas), die als erstes vom Christentum „theoretisch zur Sprache gebracht und förmlich als Tugend, und zwar als die größte von allen, aufgestellt“31 wurde, erkennt Schopenhauer als das allerwichtigste Prinzip der in einem engen Zusammenhang mit seiner Metaphysik stehenden Moral an. Er bleibt somit Christ im Herzen, wenngleich er die christliche Gotteslehre mit seiner Vernunft verwirft.  

Nietzsche geht insofern einen bedeutenden Schritt weiter als sein Erzieher. In seinen Augen war dieser noch viel zu sehr Moralist, um die Notwendigkeit der Ankunft eines neuen mächtigen, lebensbejahenden Menschen zu erkennen. „Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja“32, heißt es in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahre 1887. Dieses neue „Ja“, zu dem er seine Leser gegen seinen Erzieher erziehen will, setzt eine Überwindung der Moral voraus. Um die Moral zu überwinden, muss der Mensch den Hang zum Mitleid gegenüber seinen Mitmenschen, den Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer nicht als „natürlich“, sondern als kulturell erschaffen betrachtet, vehement bekämpfen. „Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden“33, wird Nietzsche somit in Ecce Homo schreiben. Doch wer ist dieser Überwinder der Moral, der am Ende als das Ideal der Selbsterziehung des Menschen vor Nietzsches Augen steht?

IX. Der „Buddha von Frankfurt“ gegen das „umgekehrte“ Zarathustra-Ideal

Schopenhauers Denken wurde nachhaltig von seinen antagonistischen Jugenderlebnissen der übermannenden Schönheit der Natur und dem niederschmetternden Elend des Menschen- und Tierreichs geprägt. In einem Rückblick auf seine Jugend schreibt der zu diesem Zeitpunkt schon in der Mitte seiner Vierzigerjahre stehende Privatgelehrte: „In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte“34. Die nicht nur für seine eigene Philosophie, sondern auch für sein Selbstverständnis als Mensch eine zentrale Rolle spielende Buddha-Figur wird Schopenhauer sogar über seinen Tod hinaus begleiten. Bis heute geben manche seiner aufmerksamen Leser:innen ihm den Beinamen „der Buddha von Frankfurt“.  

Auch Nietzsche nennt Schopenhauer und Buddha in einem Atemzug. Das Ziel seiner Philosophie besteht jedoch darin, sich über die schopenhauerianisch-buddhistische Anschauung des Lebens hinwegzusetzen, um einem neuen Propheten eine Bühne zu bieten. Es geht ihm darum, dass die Menschheit, vermittelst eines neuen „Hellsehers“, eine neue „frohe Botschaft“ erhält, wonach das Leben „nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral“35 betrachtet werden muss. Nietzsche will uns die Augen für ein „umgekehrte[s] Ideal“ öffnen, nämlich „für das Ideal des übermüthigsten[,] lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“ (ebd.).  

Der Prophet dieser radikalen Affirmation der Welt und des Lebens heißt Zarathustra. Allerdings hat die Figur, die man in Nietzsches Werken wiederfindet, anders als die Buddha-Referenz im Schopenhauerschen Denken, nicht viel mit der historisch übermittelten Lehre des Gründers des Zoroastrismus zu tun. Nietzsches Zarathustra vermittelt seinen Jüngern eine bis dahin noch nie ausgesprochene Lehre: jene des Übermenschen, mit welcher er „der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist“36. Dieses Geschenk besteht in Nietzsches Augen darin, die Menschheit vom traditionell überlieferten Laster des schlechten Gewissens, des erlahmenden Selbstmitleids und der überzeugten Selbstkasteiung befreit zu haben.  

Der Zarathustra Nietzsches erkennt, wie der Buddha Schopenhauers, den immerwährenden Kreislauf des Seins, doch er zieht aus dieser Erkenntnis einen anderen Schluss; Ziel des Lebens ist es nicht, diesen ewigen Kreislauf wie im Buddhismus zu durchbrechen, sondern „die ewige Wiederkunft des Gleichen“ zu wollen:

Zarathustra ist ein Tänzer –; wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den „abgründlichsten Gedanken“ gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet, — vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, „das ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen.“37

X. Fazit: Rosenkrieg und Patrizid

Aus unseren überblickenden Betrachtungen der Werke und nachgelassenen Fragmente Nietzsches lässt sich zweifelsohne schließen, dass die Themen, Motive und Argumente der Schopenhauerschen Philosophie eine zentrale, omnipräsente Rolle in seinem Denken spielen. Der Wille zum Leben und zur Macht, der Pessimismus, der Atheismus, die ewige Wiederkunft, der Nihilismus, das Mitleid, die Musik als Metaphysik, das Genie: Jedes dieser Hauptmotive der Nietzscheschen Philosophie findet im Denken Schopenhauers ein Vorbild.  

Der Erzieher, der ihm in seinen jungen Jahren eine tiefere, willensphilosophische und pessimistische Sicht auf die Welt bot, blieb bis zum Schluss eine intellektuelle Herausforderung für Nietzsche: Das Modell eines Philosophen, für das er selbst die Alternative sein wollte. Die Geschichte der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung entspricht demnach einer sich in einen Rosenkrieg verwandelnden, einseitigen Liebesgeschichte. Nicht bei der Weltanschauung seines geliebten Erziehers stehen zu bleiben, sondern, von ihr ausgehend, eine gegensätzliche, größere Sicht der Dinge anzubieten: Darauf kam es Nietzsche wirklich an. Ob er Schopenhauer in allen Punkten richtig verstanden hat, spielt für ihn letztlich keine große Rolle. Am Ende zählt für ihn vor allem eins; sein im Dienste des Übermenschen vollbrachter Patrizid:

Ich bin fern davon zu glauben, dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ich durch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin.38

Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.

Quellen

Heidegger, Martin: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis. Frankfurt am Main 1989.

Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991.

Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlaß, Band 4, I. München 1985.  

Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Frankfurt am Main 1986.

Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Frankfurt am Main 1986.

Der.: Kleinere Schriften. Frankfurt am Main 2006.

Quelle zum Artikelbild

Photo der Erstausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung, Foto H.- P. Haack Wikimedia (Link)

Fußnoten

15: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 397 (Kap. 24).

16: Nachgelassene Fragmente 1885, Nr. 39[15].

17: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 744 (Kap. 46)

18: Der Antichrist, 7.

19: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 504. (§ 68).

20: Nachgelassene Fragmente 1882, Nr. 5[1], 1.

21: Nr. 38[12].

22: Vgl. Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis.

23: Nachgelassene Fragmente 1888, Nr. 14[152] (Herv. d. Verf.).

24: S. 415 (§57).

25: Vgl. Malter, Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens.

26: Es handelt sich hierbei um einen altgriechischen Begriff (sōtḗr bedeutet „Retter“), der im christlichen Kontext die Erlösungslehre bezeichnet.

27: Nachgelassene Fragmente 1883, Nr. 16[79] (Fettsetzung im Orig.).

28: Nachgelassene Fragmente 1884, Nr. 14[24].

29: Die fröhliche Wissenschaft, 357.

30: Ecce homo, Unzeitgemäße, 2.

31: Schopenhauer, Kleinere Schriften, S. 583.

32: Nr. 10[5].

33: Warum ich so weise bin, 4.

34: Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß 4, I, S. 96 (§36).

35: Jenseits von Gut und Böse, 56.

36: Ecce homo, Vorwort, 4.

37: Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 6.

38: Nachgelassene Fragmente 1874, Nr. 34[13].

Der Abdruck des Erziehers

Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches II

Nachdem Tom Bildstein im ersten Teil dieses Artikels (Link) darlegte, wie sich Nietzsche im Laufe der 1870er Jahre vom Schopenhauer-Verehrer zum -Kritiker wandelte, untersucht er im Folgenden genauer, wie der reife Nietzsche Schopenhauers Pessimismus überwinden und ihm eine „lebensbejahende“ Philosophie entgegensetzen möchte. Schopenhauers „Wille zum Leben“, den der Misanthrop asketisch verneint sehen möchte, soll dem „Willen zur Macht“ weichen als Grundprinzip allen Lebens, das sich nicht widerspruchslos verneinen lässt.

Der Abdruck des Erziehers

Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches. Teil I: Vom Jünger zum Kritiker

Der Abdruck des Erziehers

Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I

28.1.25
Tom Bildstein

Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.

Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.

Teil I: Vom Jünger zum Kritiker

Nietzsche hat den Ruf eines Freigeistes. Das Bild, das die Nachwelt von ihm gezeichnet hat, ähnelt dem eines ungebundenen, selbstdenkenden und über die Wirklichkeit autonom urteilenden Philosophen. Das Bild kann jedoch täuschen, denn ganz frei von überlieferten Weltansichten und Wertvorstellungen war Nietzsche keineswegs. Sein freier Geist musste erst einmal zur Freiheit erzogen werden. Seine philosophische Erziehung verdankt Nietzsche vor allem einer Person: dem pessimistischen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860). Dem Autor der Welt als Wille und Vorstellung (1818) widmet Nietzsche seine dritte Unzeitgemäße Betrachtung, die er unter dem Titel Schopenhauer als Erzieher (1874) veröffentlicht. Nietzsches Dialog mit seinem Erzieher beschränkt sich allerdings nicht nur auf diese Unzeitgemäße Betrachtung: Er zieht sich durch beinahe alle seine veröffentlichten Werke und kann zudem in zahlreichen Briefen und nachgelassenen Fragmenten nachvollzogen werden. Inwieweit wurde Nietzsches Philosophie durch Schopenhauer bestimmt und worin bestehen die zentralen Divergenzpunkte dieser beiden Denker?

I. Nietzsches erste Bekanntschaft mit Schopenhauer oder das Leipziger Schopenhauer-Erlebnis

Manche Bücher liest man aus purem Zufall. Zieht uns ein Buch dabei in seinen Bann, erhält das unvermutete Leseerlebnis zeitgleich einen mystischen Schein. Es kommt einem vor, als ob die Lektüre dieses einen Buchs in Wahrheit nicht vom Zufall, sondern vom Schicksal bestimmt sei. Eine ähnlich magische Wirkung hatte die erste, eher zufällige Schopenhauer-Lektüre auf den jungen Nietzsche. Als dieser zwischen Oktober 1865 und August 1867 – das genaue Datum ist nicht bekannt – in einem Leipziger Antiquariat stand und Schopenhauers Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) in seinen Händen hielt, flüsterte ihm, nach eigener Aussage, eine „dämonische“ Stimme zu: „Nimm dir dies Buch mit nach Hause“1. Zu Hause angekommen, ließ Nietzsche sich von diesem Monumentalwerk in den Bann ziehen: „So zwang ich mich vierzehn Tage hintereinander immer erst um zwei Uhr nachts zu Bett zu gehen und es genau um sechs Uhr wieder zu verlassen. Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner“ (ebd.).

Das Leipziger Leseerlebnis machte Nietzsche unverzüglich zum Schopenhauerianer. Der junge Student der klassischen Philologie fand sich in diesem Lebensabschnitt, d. h. mit Mitte 20, in den Texten Schopenhauers wieder. „[H]ier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt[,] Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte“ (ebd.), schreibt er in dem Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867/68). Nietzsche wird sich von der Schopenhauerschen Philosophie, vor allem von ihrem Kernstück, der Willensmetaphysik, in seiner ersten Schaffensperiode, bis Mitte der 1870er Jahre, welt- und lebensanschaulich führen lassen. „[S]eitdem Schopenhauer uns die Binde des Optimismus vom Auge genommen“, schreibt Nietzsche 1866 in einem Brief an seinen Freund Hermann Mushacke, „sieht man schärfer. Das Leben ist interessanter, wenn auch häßlicher“2.  

II. Die Geburt der Geburt aus dem Geiste der Schopenhauerschen Metaphysik

Die Autorität Schopenhauers wird Nietzsche in seinen jungen Jahren nicht nur als Menschen, sondern auch als Philosophen bestimmen. Sein philosophisches Erstlingswerk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), ist sowohl terminologisch als auch ideologisch durch Schopenhauers Philosophie tief geprägt. Die Geburt, die in ihrer zweiten Auflage von 1886 den Untertitel: Griechenthum und Pessimismus erhielt, kann als der Versuch Nietzsches verstanden werden, zum einen seine Gräkophilie, zum anderen seine Begeisterung für die Willens- und Musikmetaphysik Schopenhauers und ihrer kompositorischen Umsetzung durch Wagner dialektisch zu vereinen und gegeneinander auszuspielen. Den „ungeheure[n] Gegensatz“3 des Apollinischen mit dem Dionysischen, den Nietzsche zum zentralen Thema dieser Schrift macht, findet er im Schopenhauerschen Hauptwerk in der Opposition von Wille und Vorstellung vorgebildet. Die Musik wird Nietzsche „nach der Lehre Schopenhauer’s“, wie er selbst in der Geburt schreibt, insofern als die „Sprache des Willens“4 verstehen.

Nietzsches Begeisterung für seine Metaphysik und Ästhetik schlug jedoch zu keiner Zeit, wie der US-amerikanische Philosoph Paul Swift in Becoming Nietzsche (2005) – einer zwar älteren, aber immer noch sehr lesenswerten und kompakten Studie zu den frühen Inspirationsquellen Nietzsches5 – richtig anmerkt, in eine Apologetik der Schopenhauerschen Philosophie um. Nietzsche bedauert später selbst, dass er in seiner ersten philosophischen Schrift „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen gingen!“6. Die Tatsache, dass er den ästhetischen und erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt zu dieser Zeit nur mittels der durch Kant und Schopenhauer vererbten Begriffe zu denken vermochte, hinderte ihn daran, die Neuartigkeit seiner eigenen Betrachtungen zu erkennen. Um sein Denken frei entfalten und zu einer neuen Größe zu verhelfen, musste sich Nietzsche zunächst einmal kritisch mit diesem Grundgerüst auseinandersetzen.

III. Vom Erzieher zum philosophischen Gegner

Mit Schopenhauer als Erzieher veröffentlicht Nietzsche 1874 den dritten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. Es handelt sich dabei um die einzige Schrift, die er seinem „erste[n] philosophische[n] Lehrer“7 direkt widmet. Schopenhauer wird in diesem Text, wie in beinah allen seinen Schriften bis dahin, noch überwiegend in das positive Licht eines „Vorbilds“ gestellt. Es ist allerdings das letzte Mal, dass Nietzsche einen rundum schonenden Umgang mit seinem „Erzieher“ haben wird. In Schopenhauer als Erzieher gibt sich Nietzsche noch als ein treuer Leser seines Meisters: „Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche[,] nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat“8. Diese besondere Faszination für die Schopenhauer wird er in dieser Schrift durch ihren „aus drei Elementen gemischten“ Eindruck: „seine[] Ehrlichkeit, seine[] Heiterkeit und seine[] Beständigkeit“ (ebd.) erklären.  

In Schopenhauer als Erzieher macht sich somit eine Wende in der Nietzsche-Schopenhauer-Beziehung bemerkbar. Das Interesse, das bis dahin eher seiner Philosophie galt, gilt jetzt mehr Schopenhauer als Philosophen und Menschen. Am 19. Dezember 1876 behauptet Nietzsche in einem Brief an Cosima Wagner, er „stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner [Schopenhauers; TB] Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen9. Nietzsche ist zu dieser Zeit besonders von Schopenhauers außerakademischen Karriere und seiner Verachtung der unfreien und unauthentischen Universitätsphilosophie angetan. Er sieht die Rolle des neuen, durch Schopenhauer gegen seine Zeit erzogenen Philosophen darin, „der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“10 zu werden. Um dieser Devise in aller Konsequenz folgen zu können, ist Nietzsche nun bestrebt, seine eigene Integrität als Philosoph unter Beweis zu stellen. Das bedeutet allerdings auch, dass er, als unbeugsamer Richter der ambienten Kultur, Schopenhauers „gefährlichen“ Einfluss auf sie anprangern werden muss.  

IV. Nietzsche contra Schopenhauer

Dass Nietzsche nicht nur die Fähigkeit hat, sich mit Hingabe für einzelne Ideen und Denker zu begeistern, sondern auch dazu in der Lage ist, ehemals hochgeachtete Autoren und Gedanken nachher intensiv zu kritisieren, lässt sich spätestens aus seinen polemischen Schriften11 gegen seinen zweiten Erzieher12, dem Schopenhauerianer Richard Wagner, ableiten. Seine beiden Meister betreffend hofft Nietzsche, wie man in seinen nachgelassenen Fragmenten von 1884 lesen kann, dass die kommenden, ihrer Zeit und Kultur überlegenen Menschen, „endlich so viel Selbstüberwindung haben [werden], um den schlechten Geschmack für Attitüden und die sentimentale Dunkelheit von sich abzuthun, und gegen Richard Wagner ebenso sehr als gegen Schopenhauer <sich wenden>“13.  

Der Haltungswandel Nietzsches zu seinen Erziehern mag auf den ersten Blick überraschen: Lehnt er nun vollständig die Wurzeln seines eigenen Denkens ab? So radikal verfährt Nietzsche nun doch nicht. Schopenhauer und Wagner werden nicht einfach aus seinem Geist gestrichen: Statt mit ihnen zu denken, denkt Nietzsche nun gegen sie. Seine beiden Erzieher wird er sozusagen zu den idealen Widersachern – er nennt sie 1888 in einem Brief an den dänischen Essayisten Georg Brandes (1842–1927) seine „antagonistischen Meister“14 – seines eigenen kultur- und lebensphilosophischen Denkens ernennen. Schopenhauer wird darüber hinaus eine wichtige Rolle bei den terminologischen Überlegungen Nietzsches spielen, insofern die Grundbegriffe der Philosophie seines Erziehers den Ausgangspunkt der Festlegung der zentralen Termini seines eigenen Denkens ausmachen werden.

Link zu Teil 2.

Tom Bildstein (geb. 1999) lebt in Brüssel und ist seit 2023 Doktorand der Philosophie an der Université libre de Bruxelles (ULB). Er schreibt zurzeit an einer Dissertation in Französisch über die „Wege des Willens“ in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Er ist darüber hinaus Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und beschäftigt sich intensiv mit dem Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer, das zugleich das Thema seiner Masterarbeit und eines mit Raphael Gebrecht (Bonn) geführten und im Blog der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlichten Gesprächs (Das Problem des Dinges an sich, 2023; Link) war. Zudem ist er Autor eines wissenschaftlichen Artikels: Nietzsche et „la grande erreur fondamentale de Schopenhauer“ (erschienen in der Zeitschrift Voluntas: Revista Internacional de Filosofia, 2024). 2024 gewann er den Essaypreis der Schopenhauer-Gesellschaft mit seiner Einreichung Der Mut zum Idealismus. Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus.

Quellen

Nietzsche, Friedrich: Rückblick auf meine Leipziger Jahre. In:  Werke in drei Bänden. Autobiographisches aus den Jahren 1856–1869. München 1954. Link.

Swift, Paul A.: Becoming Nietzsche. Early Reflections on Democritus, Schopenhauer and Kant. Lanham 2005.

Quelle zum Artikelbild

Photographie Schopenhauers vom 3. 9. 1852, Link

Fußnoten

1: Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre.

2: Brief v. 11.07.1866; Nr. 511.

3: Die Geburt der Tragödie, 1.

4: Die Geburt der Tragödie, 16.

5: Vgl. insb. das zweite Kapitel derselben, „Nietzsche on Schopenhauer in 1867“.

6: Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, 6.

7: Schopenhauer als Erzieher, 4.

8: Schopenhauer als Erzieher, 2.

9: Bf. Nr. 581 (Herv. d. Verf.).

10: Schopenhauer als Erzieher, 8.

11: Der Fall Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1889)

12: In einem Brief vom 13. Dezember 1875 an seinen lebenslangen Freund Carl von Gersdorff stellt Nietzsche Schopenhauer und Wagner zusammen als seine Erzieher dar (vgl. Bf. Nr. 495).

13: Fragment Nr. 26[462].

14: Bf. v. 19.02.1888; Nr. 997.

Der Abdruck des Erziehers

Die Omnipräsenz Schopenhauers in der Philosophie Nietzsches I

Es ist kein Geheimnis, dass einer der wichtigsten philosophischen Bezugsfiguren für Nietzsche der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) gewesen ist. Grund genug, der Geschichte der Schopenhauer-Rezeption Nietzsches in einem zweiteiligen Artikel nachzugehen. Im ersten Teil untersucht der Schopenhauer-Forscher Tom Bildstein wie sich der junge Leipziger Philologiestudent Nietzsche erst von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) begeistern ließ, um sich binnen weniger Jahre zum scharfen Kritiker des Frankfurter „Miesepeters“ zu wandeln. – Link zu Teil 2.

Die alte Wut

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments

Die alte Wut

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments

21.1.25
Hans-Martin Schönherr-Mann

„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.

„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.

Gibt es Politik, Weltverständnisse, soziale Bewegungen, die frei von Ressentiment sind? Praktisch alle werden das von sich selbst behaupten. Gegenüber ihren Konkurrenten führen alle selbstverständlich gute Gründe für ihre Gegnerschaft an, so dass diese nicht auf einer affektiven Ablehnung beruhe.

Der Philosoph Jürgen Große bestreitet diesen Anspruch und führt in seinem neuen Buch vor, dass alle politisch-sozialen Strömungen seit der Aufklärung auf Ressentiments beruhen. Auch wenn er den zeitgenössischen politischen Szientismus nicht explizit erwähnt, aber en passant das ökologische Weltbild: Auch diese bedienen sich einer affektiv ausgrenzenden Terminologie, wenn sie ihre Gegner als Leugner ihrer wissenschaftlichen oder ökologischen Wahrheiten titulieren.

Gibt es gar keine Ausnahme? Doch, nämlich die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre. Aber die Hippies stiegen doch aus dem bürgerlichen Leben aus? Entwickelten sie diesem gegenüber kein Ressentiment? Das bescheinigt Große zwar der Alternativbewegung der achtziger Jahre, nicht aber den Hippies. Diese stiegen zwar aus der Leistungsgesellschaft aus, aber lässig, nicht aggressiv wie die Bohème des späten 19. Jahrhunderts oder gar politische Protest-Bewegungen.

Einerseits entwickelten die Hippies eigene Werte, andererseits eine eigene Lebenspraxis mit eigenen Bedeutungszusammenhängen. Große schreibt:

Auch hier wieder begreift die Szene ihr Verweigern als lediglich abgenötigte Position, nicht als ursprüngliche Negation: Ursprünglich sei nämlich der Reichtum bedeutungsfreien Ausdrucks, wie ihn etwa Bob Dylan, oder bedeutungsverdrehenden Ausdrucks, wie ihn etwa Jefferson Airplane kultivierten, repressiv-abgeleitet hingegen die Konstruktion rigide bedeutungsverweigernder Formwelten. (S. 289)

Die Hippies leben auch nicht in einer primären Gegnerschaft zum Kapitalismus, verkörpern sie doch einen Hedonismus, der zwar nicht produzieren will, aber doch konsumieren. Ähnliches attestiert Große auch noch der Jugendszene in der DDR, die ohne emanzipatorische Ansprüche auskam und gegenüber der Politik schlicht abgetaucht war.

Was aber die Gegenkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt betrifft, so sieht Große wesentliche Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der westeuropäischen Gegenkultur. Die amerikanische besinnt sich auf eine Natur, bei der man sich auch auf die Ureinwohner bezieht, die europäische ist primär nihilistisch, was Große mit dem Ressentiment und somit mit Zynismus und Neid verknüpft.

So steht denn im Zentrum von Großes Buch Nietzsche, über den er bemerkt: „Bis zu Nietzsche war in der europäischen Literatur das Ressentiment psychologisch und moralisch neutral oder kritisch beschrieben worden, nach Nietzsche galt es als verächtlich oder gar als therapiebedürftig.“ (S. 74) Die französischen Aufklärer etwa hatten gegenüber dem Ressentiment eine neutrale Einstellung, werteten es nicht grundsätzlich negativ.

In Nietzsches Zur Genealogie der Moral avanciert das Ressentiment zum strukturell negativen Hass der jüdischen Priester auf die herrschenden Schichten, als affektive Ablehnung der Starken, Reichen und Schönen, die in der „Herrenmoral“ das Gute verkörpern, während die Armen, Schwachen und Hässlichen in derselben das Schlechte darstellen. Die Christen, so Nietzsche, transformieren dieses negative Gefühl in eine positive Umwertung der Werte, so dass nun die Schwachen zu den Guten avancieren, während die Starken als „Böse“ abgewertet werden. Für Nietzsche ist damit nach Große das Ressentiment schöpferisch geworden, wie schon zuvor für Charles Baudelaire.

Großes Buch lässt sich denn auch in zwei verschiedenen Perspektiven lesen. Es enthält eine Geschichte des Ressentiment-Begriffs, die mit Montaigne einsetzt, ihre Dynamik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhält, als Literatur und Kunst gesellschaftskritisch werden, d. h. der absolutistischen Gesellschaft ablehnend begegnen, ähnlich wie sie im 19. Jahrhundert das Bürgertum scharf kritisieren, was sich im 20. Jahrhundert praktisch in allen politisch sozialen Strömungen fortschreibt, die sich jeweils aus unterschiedlichen Formen der Ablehnung speisen. Nietzsche spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Die zweite Lesart von Großes Buch erklärt das Ressentiment zum Grundmotiv von politischen und sozialen Strömungen seit dem 18. Jahrhundert. An die Stelle von sozialen Gegensätzen bei Marx, die ökonomische Grundlagen haben und insofern durchaus rationalen Charakter, treten affektiv beschleunigte Abneigungen, emotional ausgelöster Hass auf Menschen und Ideologien, auf das Andere schlechthin, die mit der Hybris einhergehen, selber das Richtige zu leben und zu glauben. Dergleichen scheint für alle relevanten politischen und sozialen Strömungen zu gelten – die Hippies und die Jugendbewegung in der DDR sind nicht relevant. Das avanciert fast zu einem geschichtsphilosophischen Grundmotiv: Geschichte wird vom Ressentiment getrieben, allerdings nicht von Anbeginn – wer würde denn auch solchen Unsinn zu behaupten wagen, er kenne das Grundprinzip aller Geschichte!

Anders als Nietzsche, der es als Motiv des entstehenden Christentums beschreibt, hängt es für Große vielmehr mit dem seit der Aufklärung sich verbreitenden Anspruch des Egalitarismus zusammen. Die Adligen hatten es nicht nötig, gegenüber ihren Untertanen ein Ressentiment zu entwickeln und für letztere gab dazu umgekehrt auch keine Gründe. Erst mit dem Anspruch auf Gleichheit entsteht der Hass auf andere, die nicht gleich genug erscheinen, es aber doch sein sollten. Dass Großes Buch diese Lesart nahelegt, liegt vor allem daran, dass es sehr viele politischen und sozialen Strömungen in der westlichen Welt abhandelt und deren Ressentiment-Struktur aufzeigt.

Max Scheler, der Nietzsches Ressentiment-Begriff kritisiert, attestiert das Ressentiment der bürgerlichen Moral und spricht das Christentum davon frei. Die aufklärerische Moral beruht für Scheler auf einem Ressentiment gegenüber der christlichen Ordnung der Liebe, die selbst frei von allem Ressentiment oder gar einem „Willen zur Macht“ ist.

Daran schließt Ludwig Klages mit einem biozentrischen Denken an. Die Seele ist vital, vom Ich zu unterscheiden. Damit deutet Klages Nietzsche um und weitet den Ressentiment-Begriff aus. Große schreibt: „Durch seinen Hass auf den Lebenszersetzer Geist konnte Klages zum Weggefährten konservativer Revolutionäre wie auch zum Vorläufer ökologischer Weltrettungsutopien werden.“ (S. 72)

E. M. Cioran treibt das auf die Spitze. Für ihn sind Affekte nur durch Affekte zu bekämpfen, kann man sich vom Bösen nur durch das Böse befreien, muss das Ressentiment ausgeschöpft werden. Für Cioran bedarf das Denken der Heimtücke. Große kommentiert Cioran: „Neid, Hass, Wut sind keine geistfernen, Kunst, Philosophie, Wissenschaft keine affektfreien Reinzustände.“ (S. 81)

Während die bürgerlichen Revolutionäre ihren Hass auf den Absolutismus und das Christentum ausleben, reagiert die Reaktion bei Joseph de Maistre oder Juan Donoso Cortés mit Rachephantasien, die theologisch eingebettet werden:

Der Liberale begreift weder die Gottgegebenheit oder Selbstevidenz der Ordnung noch den Primat der voluntas vor dem intellectus. Die eigene Impulsivität gegenüber der liberalen Blässe zu loben und zu pflegen wird fortan eine Elementarübung aller reaktionären Theoretiker und Literaten. (S. 155)

Vor allem der Katholik Léon Bloy ragt dabei heraus, der sich zum ‚Antischwein‘ erklärt und damit alle Gegner zu Schweinen:

Angesichts der personellen und materiellen Übermacht des bürgerlichen Prinzips, das nicht etwa Terror (wie für die ältere Reaktion), sondern Indifferenz ist, wird Fanatismus zur geistig-moralischen Pflicht. Wenn Bloy die Schönheit beschreibt, die für ihn Blutbäder unter Bürgern, Engländern, Emanzipierten, Ungläubigen aller Art haben, dann erinnert das an die literarische Exzentrik de Maistres. (S. 159)

Aber ähnliche Ressentiments entdeckt Große auch bei Anarchisten, Linken und im Feminismus, den er primär als bürgerliche Bewegung qualifiziert, wie auch bei seinen männlichen Fürsprechern. „Frauenversteher werden nach 1800 Legion“ (S. 183), schreibt Große. Weder in der feudal-aristokratischen Gesellschaft noch in proletarischen Bewegungen hat es Feminismus nach Große gegeben: „[A]llein das Bürgerweib ist ressentimenthistorisch auffällig geworden.“ (181)

Männer werden abgewertet und Frauen verherrlicht. Weibliche Verdorbenheit verdankt sich für den Feminismus den Männern. Das Rachemotiv zielt dabei auf eine Umwertung der Werte, die sich wie bei Nietzsche der eigenen Schwäche verdankt und dem Neid auf die Stärke der Männerwelt. Große schreibt:

Die ressentimenttypische, aber auch bürgerlicher Emanzipationslogik zugrundliegende Ressentimentstruktur – privates Leid als Symptom eines Weltzustandes – zeigt bereits die frühe Frauenbewegung; „offener Männerhass“ und Ideen weiblicher „Weltrettung“ durch bislang ausschließlich weibliche Kleinwelttugenden wie „Wärme und Hingabe“ sind bereits kurz nach 1800 nachweisbar. (S. 185)

Das Ressentiment beschränkt sich also keineswegs auf rechte oder konservative Strömungen wie die Yuppies der achtziger Jahre oder dem aktuellen Rechtspopulismus, die den Linken eine Neid-Haltung unterstellen und Benachteiligung als selbstverschuldet erklären: Von diesen formulierte Ansprüche seien von Unruhestiftern evoziert. Minderheiten und Benachteiligte können sich nicht selbstredend als Opfer präsentieren und ihre Lebensform als ethische ausgeben. So bemerkt Große:

In der fortgeschrittenen Moderne ist der Bezug zum christlich-„ritterlichen“ Motiv des Racheverzichts geschwächt. Ressentimentgefühl und Ressentimentbegriff werden zusehends mit Fragen sozialer Gerechtigkeit konnotiert, insbesondere mit frustriertem Gleichheitsverlangen. (S. 327)

Ähnliches schreibt Große auch den diversen antibürgerlichen künstlerischen Strömungen zu vom Sturm-und-Drang über die Bohème und den Surrealismus bis heute. Das gilt noch für die neuen Halb-Eliten aus linken, grünen oder digitalen Lagern, über die Große bemerkt: „Politik-, Medien- und Kultur-Bobos [bourgeois-bohémien; SM] agieren als Primärverletzte wie auch als Stellvertreter aus historisch-tradiertem, gegenwärtig andauerndem Unrecht.“ (S. 311)

So scheint das Ressentiment für Große seit ca. drei Jahrhunderten Politik und Gesellschaft an- und umzutreiben und damit die Geschichte zu bestimmen. Freilich erreicht es dabei kaum die schöpferische Qualität der Umwertung der Werte. Aber darüber darf man streiten. Denn gerade ökologisch ethische Werte haben sich heute in modernen Gesellschaften breitgemacht. Und vielleicht auch der Hedonismus der Hippies mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll – letzteres umschreibt Große mit „Lärm“ (292), ein Anschluss an Adornos Abneigung gegenüber der Popkultur. Aber wie man in die Welt hineinruft, so hallt es zurück.

Bildnachweis Artikelbild

Edmund Adler: Der Blumenkranz (1950) (Link)

Die alte Wut

Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Ressentiments

„Ressentiment“ ist einer der Leitbegriffe von Nietzsches Philosophie und vielleicht sogar ihr wirkmächtigster. In seinem neuen Buch Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments (Marburg 2024, Büchner-Verlag) vertritt Jürgen Große die These, dass seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger alle politischen oder sozialen Bewegungen solche des Ressentiments sind. Unser Stammautor Hans-Martin Schönherr-Mann hat es gelesen und stellt im Folgenden Großes wichtigste Thesen vor.

Splendid Isolation, Stiff Upper Lip

Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums

Splendid Isolation, Stiff Upper Lip

Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums

14.1.25
Christian Saehrendt

„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.

„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.

I. Nietzsche, Lagarde, Langbehn

Wer gehört eigentlich zur seriösen akademischen Welt? Und wer bestimmt darüber? Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlich-akademischen Exklusivität ist ein dauerhaftes Problem, denn die Art der Auseinandersetzung mit dem „Außen“ prägt den akademischen Betrieb zugleich im Inneren. Friedrich Nietzsche wusste davon ein Lied zu singen, aber auch andere Intellektuelle seiner Zeit lebten und litten in „glänzender Isolation“, weil sie vom akademischen Betrieb als fachfremde Seiteneinsteiger, unprofessionelle Amateure, Dilettanten oder Hochstapler ausgegrenzt wurden.

Trost und Hoffnung der Isolierten war und ist die Tatsache, dass es ihresgleichen von Fall zu Fall gelingt, große publizistische Erfolge zu erringen und starke Beachtung der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen – was ihnen wiederum Neid und noch tiefere Abneigung des akademischen Betriebs einbringt. Beispielhaft verdeutlicht wird dies bei Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Oswald Spengler. Im Zeitraum 1880 bis 1930 bestimmten diese Kulturkritiker und Bestsellerautoren den geisteswissenschaftlichen Diskurs in Deutschland maßgeblich mit, obwohl sie allesamt akademische Außenseiter und sozial isolierte Exzentriker waren. Langbehn und Spengler bezogen sich stark auf Nietzsche, der als Wissenschaftskritiker und ebenfalls als akademischer Außenseiter seiner Zeit galt, und der wiederum vom Eigenbrötler Lagarde beeindruckt war.

Auch Nietzsche passte perfekt in das Schema des ungeselligen, charakterlich „schwierigen“ Privatgelehrten, der weder starke familiäre noch gesellschaftliche Bindungen hatte und vom akademischen Betrieb weitgehend gemieden wurde. Während Nietzsche erst posthum berühmt wurde, konnten die intellektuellen Außenseiter Langbehn und Spengler bereits zu Lebzeiten zu gleichwohl umstrittenen wie auch vielbeachteten Stars des Kulturlebens aufsteigen. Dabei surften sie auf den Wellen der Nietzsche-Rezeption. Während Langbehn vergeblich die Vormundschaft über den kranken Nietzsche zu erlangen versuchte, wurde Spengler in der Weimarer Republik zu einem wichtigen Exponenten der etablierten Nietzsche-Community1. In zwei biographischen Skizzen wird nun zunächst Lagarde als Prototyp des Wissenschaftsaußenseiters geschildert, bevor Langbehn als Nietzsche-Epigone in den Blick kommt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Nietzsches Lebenswandel werden auf diese Weise deutlich.

Abb. 1: Paul de Lagarde

Paul de Lagarde alias Anton Böttcher (1827-1891) war einer der bekanntesten Kulturkritiker im deutschen Kaiserreich gewesen. Sein Hauptwerk, die 1878 erstmals erschienenen Deutschen Schriften, verband moralische Kritik am Bildungswesen, an der Kultur und den Sitten mit einem extremen Nationalismus. Wurzeln seines Denkens waren Protestantismus und preußisches Ethos, Grundton seiner Schriften ein tiefer Kulturpessimismus, vorgetragen in einer „Art weinerlichen Heroismus.“2 Unter Wissenschaftlern war er wegen seines antiquierten Weltbilds und mangelnden Methodenbewusstseins umstritten. Fünfzehn Jahre musste er auf einen Lehrstuhl warten und unterrichtete zwischenzeitlich an Schulen, bis er 1869 eine Berufung an die Universität Göttingen erhielt. Seine Streitsucht galt als notorisch. Er stand u. a. im Briefwechsel mit Richard Wagner. Nietzsche war von Lagardes Schriften beeindruckt, las ihn aber auch kritisch, während Lagarde keinerlei Interesse an Nietzsche zeigte.3 In seinem letzten Lebensjahrzehnt näherte sich Lagarde der antisemitischen Bewegung um Nietzsches Schwager Bernhard Förster an. In der Nachkriegssituation ab 1919 setzte eine zweite Rezeptionswelle ein. Nun konnte Lagarde all jenen als bequemer Nietzsche-Ersatz dienen, denen Nietzsches Äußerungen zum Deutschen Reich und zum Judentum zu komplex und unpatriotisch erschienen.4 Mit Nietzsche verband ihn sein hoher Anspruch an sich selbst und sein enormes Arbeitspensum:

Freilich fehlte Lagarde die geistige Experimentierfreude des Philosophen, und seine hervorstechenden Charakterzüge wie Neid, Geiz und Verbitterung lassen die innere Verhärtung spüren. Den Groll gegen einzelne Kollegen trug er oft jahrelang mit sich, ehe er öffentlich explodierte, und längst vergangene Kränkungen durchlebte er innerlich immer wieder neu. […] Im Kampf gegen die eigene innere Leere, die sich in massiver Erschöpfung und Lebensüberdruss äußerte, sprach er sich mit lauter Stimme selbst Mut zu[.] […] Lagardes Schicksal zeigt, wie eng psychische Versehrtheit, gezielte Selbststilisierung und charismatische Wirkung zusammenhängen können.5
Abb. 2: Julius Langbehn

Julius Langbehn (1851-1907) hatte in Kiel und München diverse Fächer studiert, bevor er mit 29 Jahren promoviert wurde – damals ein fast „biblisches“ Promotionsalter. Anschließend führte er etwa ein Jahrzehnt lang ein unstetes Leben mit wechselnden Arbeitsstellen und Wohnsitzen. Im akademischen Betrieb konnte er nicht Fuß fassen. 1891 schickte er demonstrativ seine Promotionsurkunde in Fetzen zerrissen an die Alma Mater, die Universität München, zurück. Sein anonym verfasstes Essay Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen war sein einziger, wenn auch durchschlagender literarischer Erfolg. Das Buch verbreitete pangermanisches Sendungsbewusstsein und verband irrationalen Wissenschaftshass mit globalem kulturmissionarischem Eifer. Den Titel hatte er bewusst als Anspielung auf Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher, gewählt. Langbehn übernahm Gedanken des jungen Nietzsche und integrierte sie in ein deutschnationales Weltbild. Spätere Werke Nietzsches lehnte er als „Verirrungen“ ab. Bald nach Erscheinen wurden Lagarde, Georg E. Hinzpeter, der Hauslehrer Wilhelms II., und gar Nietzsche selbst als Autoren des Rembrandt-Buches vermutet, dessen aphoristischer, gekünstelter Stil wie „ein ungeschickter Versuch, Nietzsches späte Prosa nachzuahmen“6 wirkte. Langbehn outete sich schon im Januar 1890 gegenüber dem von ihm verehrten Lagarde als Autor,7 bevor die wahre Verfasserschaft Langbehns allgemein bekannt wurde, und er erhielt den Beinamen „der Rembrandtdeutsche“. Der Erfolg des Buches war ein Ausdruck der damaligen mystischen Erwartungshaltung, die nach Propheten aller Art, vor allem aus dem Reich der Kunst, verlangte. Die stilistischen und gedanklichen Mängel im Text wirkten unter diesen Umständen vorteilhaft: Chaos und Absurdität konnten Tiefsinn und Hintergründigkeit vortäuschen, ständige Wiederholungen hatten einen hypnotischen Effekt, abweichender Satzbau und Interpunktion suggerierten einen individuellen „kreativen“ Ausdruck, mangelnde Argumente und Fußnoten entsprachen der schreibenden „Genialität“, die Nennung anerkannter Künstler und historischer Personen simulierte Belesenheit und verlieh Autorität. Viele bekannte Rezensenten schrieben ausführliche und positive Besprechungen. Häufig wurde Langbehn als Erbe des verstummten Nietzsche gesehen. Langbehn unternahm im Winter 1889/90 sogar einen Versuch, diesen zu heilen. Nachdem er das Vertrauen seiner Mutter erworben hatte, begleitete er Nietzsche wochenlang auf Spaziergängen, redete auf ihn ein, verleumdete seine Ärzte und Freunde und forderte schließlich gar die Vormundschaft über den Kranken.8 Fatal war, dass die Verbreitung von Langbehns Ideen mit der ersten nennenswerten Welle der Nietzsche-Rezeption zusammenfiel, so konnten beide als Propheten einer individualistischen Kunstreligion erscheinen und Langbehn sogar als Erbe des Philosophen und Wegweiser durch dessen Ideen betrachtet werden. Langbehn habe Nietzsche „weit mehr als es bis dahin der Fall war, unter das Volk gebracht“9, resümierte Erich F. Podach bereits 1932.

Abb. 3 Buch Rembrandt als Erzieher

II. Mechanik der Ablehnung: Der akademische Betrieb im Konflikt mit Außenseitern

Anhand einiger formaler Kriterien lässt sich leicht feststellen, ob jemand zum etablierten Wissenschaftsbetrieb gehört: akademischer Grad und Affiliation, Publikationen in etablierten Zeitschriften und bei seriösen Verlagen, Präsenz bei wissenschaftlichen Tagungen, in Jurys, als Gutachter und in Berufungskommissionen.  

Das bedeutet nicht, dass der Nichtintegrierte keine Ideen von außen in den Betrieb einbringen darf, aber er wird es viel schwerer haben, Gehör zu finden als jemand, der sich schon innen befindet. In früheren Zeiten, als die Zersplitterung der Disziplinen noch nicht so weit fortgeschritten war und viele als Privatleute Wissenschaft betrieben haben, war das noch einfacher.10  

Das Aushandeln und Definieren der wissenschaftlichen Exklusivität ist ein permanenter Prozess im akademischen Betrieb. Die Umgangsweise mit Außenseitern, Minderheitsmeinungen und Laien bestimmt sein Binnenklima und seine Innovationsfähigkeit. Bei der Begutachtung von Außenseiterpositionen leiden die Insider unter einem grundsätzlichen Problem: bei vielen Forschern ist – im positiven Sinne – eine manische Fixiertheit anzutreffen, ein unbedingter Wille, ein Problem zu lösen oder eine Erklärung zu finden, oder ein stark fokussierter Flow, der sich bei Experimenten und Berechnungen einstellt. Die psychische Energie, die in die Forschung fließt, kann zugleich einen Tunnelblick und die Vernachlässigung sozialer Kontakte und Konventionen mit sich bringen. Dieser manchmal manische oder nerdige Habitus verbindet den seriösen Forscher mit einem psychisch beeinträchtigen Außenseiter: „Die gleiche unablässige geistige Arbeit lässt sich jedoch bei jedem beliebigen Paranoiker beobachten und es ist häufig schwierig, einen genialen Kreativen von einem Wirrkopf zu unterscheiden.“11 Zudem erfordert die Arbeitsweise des Wissenschaftlers eine ständige Verfeinerung und Vervollkommnung einmal aufgestellter Theorien, was zu einer Fixiertheit auf bestimmte Methoden und Ergebnisse führen kann, welche bisweilen im Alter in einen fortschrittshemmenden Starrsinn mündet:  

Gewöhnlich versuchen anerkannte und mächtige Wissenschaftler, die gerade veraltende Vorstellungen vertreten, auf jede Weise andere Wissenschaftler zu bremsen und ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wenn diese einen neuen Weg beschritten haben.12  

Leider gibt es für dieses Problem fast nur eine biologische Lösung, wie Nobelpreisträger Max Planck einmal konstatierte:  

Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß ihre Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.13  

Die Ablehnung von Wissenschaftsaußenseitern durch etablierte Forscher und Funktionäre basiert also oft auf einem „Fehlurteil des Kompetenten“, der nicht in der Lage ist, von seinen erworbenen Überzeugungen zu abstrahieren und der somit stur auf der Schulmeinung beharrt. Fachliche Autoritäten neigen dazu, Positionen, die ihren Theorien widersprechen, als irrelevant oder gar als unwissenschaftlich abzutun. Sie suchen in diesem Sinne nach Fehlern und Anzeichen von Unseriosität und werden vor allem bei formalen oder sprachlichen Details fündig, während sie die Argumente und theoretischen Inhalte des Gegners missachten:  

Die Bedeutung solcher kleinen Unzulänglichkeiten rückt um so mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn eine Idee von Jemanden kommt, der nur geringes Ansehen geniesst, kaum Qualifikationsbeweise besitzt und vielleicht außerdem noch charakterlich auffällig, unangepasst, übermässig aggressiv und größenwahnsinnig, oder im Gegenteil allzu bescheiden und zurückhaltend ist. Der Wissenschaftler lässt sich folglich von seiner eigenen Kompetenz und Antipathie in die Irre führen und fällt schließlich ein negatives Urteil.14  

Weil ein „Crank“ (=Wirrkopf, Querdenker) oder vornehmer „Maverick“ (=Außenseiter, aber auch „herrenlos“, also frei)

nicht zum Wissenschaftlerkorps gehört, sind Veröffentlichungen schwierig, die notwendig dilettantische Präsentation und der aggressive Ton rechtfertigen eine oberflächliche Analyse seiner Ideen und machen ihre Ablehnung wahrscheinlicher. Was folgt, ist eine Reihe von Diskriminierungen, die den Angegriffenen noch aggressiver machen, und die Wahrscheinlichkeit, als Verrückter abgelehnt und an den Rand gedrängt zu werden, steigt erheblich.15

III. Typologie des wissenschaftlichen Außenseiters

Endohäretiker kritisieren den Wissenschaftsbetrieb von innen, weil sie einen, wenn auch umstrittenen, Status innerhalb desselben besitzen, während Esohäretiker von außen an den Wissenschaftsbetrieb herantreten und von diesem in der Regel vollständig abgelehnt werden. In manchen Fällen verwandelten sich Endohäretiker, die den Wissenschaftsbetrieb durch Pensionierung, Ausschluss oder freiwilligen Austritt verließen, in Esohäretiker. Auch Nietzsche fällt in letztere Kategorie.  

Wenn Häretiker auf eigene Faust und ohne Unterstützung der akademischen Bürokratie ihre Forschung fortsetzen wollen, ist dies nur möglich, wenn privates Vermögen oder außeruniversitäre Sponsoren zur Verfügung stehen. Nietzsche zehrte von der ihm zuerkannten Pension der Universität Basel, Lagarde versetzte das Erbe der Adoptivmutter in die Lage, parallel zu seiner Lehrtätigkeit an Schulen sechzehn wissenschaftliche Schriften und Bücher zu publizieren.16 Eine kleine Erbschaft nach dem Tod seiner Mutter hatte Spengler die Möglichkeit eröffnet, seine Unterrichtstätigkeit aufzugeben und als freier Schriftsteller seinen literarischen Ambitionen nachzugehen.17 Langbehn wiederum hatte mächtige Freunde und Förderer wie Wilhelm von Bode im Hintergrund, die ihm die Möglichkeit gaben, als Autor in Erscheinung zu treten.

Im Idealfall ist das Vermögen so groß und der gesellschaftliche Status derart etabliert, dass eine maximale Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Institutionen möglich ist. Der englische Privatgelehrte Henry Cavendish (1731-1810), einer der bedeutendsten Naturforscher und reichsten Gelehrten seiner Zeit, war der Prototyp jenes finanziell unabhängigen, exzentrischen und oftmals interdisziplinär-universalistisch agierenden „Gentleman Scholars“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er besaß eine große Bibliothek, führte zahlreiche Experimente durch, mied aber den Kontakt zu Institutionen und Kollegen und hatte keinerlei Interesse, seine Ergebnisse zu publizieren. Er war vollkommen auf seine Studien fixiert, lebte isoliert auf seinem Anwesen ohne jegliche gesellschaftliche Ambitionen.

Abb. 4: Henry Cavendish

Doch nicht alle vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesene ruhen derart in sich wie Cavendish. Die meisten dürsten nach wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung. Sie sind versucht, durch selbst finanzierte und herausgegebene Publikationen oder durch bezahlte Inserate sich Gehör zu verschaffen. Manche haben eigens Verlage, Zeitschriften, Editionsreihen oder gar Lexika geschaffen, um ihre Artikel und Thesen zu veröffentlichen. Mit den Self-Publishing-Plattformen, Youtube-Kanälen, Blogs und Books-on-demand-Optionen des Internetzeitalters scheinen heute die Möglichkeiten von akademischen Außenseitern, sich zu präsentieren, stark gewachsen zu sein. Allerdings ist damit keinesfalls Seriosität garantiert – im Gegenteil: im Selbstverlag Publiziertes gilt in der Wissenschaftscommunity weithin als Makel, während weiterhin etablierte Publikationsorte und Zitierkartelle existieren, die wissenschaftliche Außenseiter auf Distanz halten.

Eine durchaus nachteilhafte Wirkung auf die Innovationsfähigkeit und Vielfalt des Wissenschaftsbetriebs hat auch das heute gängige Peer-Review-Verfahren, die Prüfung von Forschungsanträgen und publizistischen Beitragseinreichungen durch anonyme akademische Kollegen, weil es sich dabei oftmals um Konkurrenten des Antragstellers handelt. Es versteht sich von selbst, dass es auf solche Weise und im Schatten der Anonymität für etablierte Wissenschaftler einfach ist, Außenseiter und Newcomer zu sabotieren und auszuschließen:  „Man kann sicher sein, dass manche der bahnbrechendsten Arbeiten in der Vergangenheit nie erschienen wären, wenn man sie einer Peer Review nach heutigen Maßstäben unterzogen hätte.“18

Damals wie heute verlieren sich manche der Zurückgewiesenen in parawissenschaftlichen Communities und wissenschaftsfeindlichen Positionen. Ohne korrigierende Kontakte zu akademischen Kollegen versteigen sie sich in absurden Theorien. Andere weichen in populärwissenschaftliche Bereiche aus. Einige wenige von ihnen können mit populistischen oder sensationellen Thesen große Erfolge in den Medien und auf dem Buchmarkt feiern – und dann das dadurch erworbene symbolische Kapital einsetzen, um es im akademischen Betrieb doch noch zu einer gewissen Anerkennung zu bringen. In vielen Fällen wurden und werden die vom Wissenschaftsbetrieb Abgewiesenen von der Motivation angetrieben, die als Kränkung erlebte Zurückweisung zu kompensieren oder sich gar in gewisser Weise dafür zu rächen. Das erklärt die bisweilen überaus radikalen inhaltlichen Positionen und die polemische Aggressivität der Sprache, wobei dieser Verbalradikalismus als eine spezifische Form toxischer Männlichkeit gelten darf, etwa als eine Ersatzhandlung für nicht ausgelebte körperliche Aggressionen:

Spengler ist der Typus des gehemmten, vereinsamten und sozial isolierten Denkers, dem es gelingt, sich inmitten seiner Depressionen zu einem monumentalen Werk durchzuringen. Es gibt kaum einen Fall, wo das gängige psychologische Kompensationsargument plausibler wäre als hier: Der ohnmächtige, ängstliche und inhibierte Grübler erzeugt mit herrischem Sprachgestus eine Weltvision, die alles übergreift und jede persönliche Kontingenz bedeutungslos erscheinen lässt.19

Akademische Außenseiter wie Lagarde und Nietzsche-Adepten wie Langbehn und Spengler konnten vor mehr als hundert Jahren in Deutschland große Erfolge feiern – sie bestimmten den damaligen Kulturdiskurs maßgeblich mit. Doch ihre intrinsische Motivation, der Kern ihres Geschäftsmodells, basierte auf der Bewirtschaftung von Ressentiments. Als giftige Außenseiter machten sie Kulturpessimismus, Antisemitismus und Wissenschaftsfeindlichkeit populär. Eine fatale Langzeitwirkung der Schriften Langbehns und Spenglers war es zudem, dass sie Nietzsche ins rechtsextreme Diskursfeld rückten und damit seinen Missbrauch durch den Faschismus vorbereiteten.

Im Universum der akademischen Eigenbrötler und wissenschaftlichen Außenseiter strahlte auch Nietzsche als einsamer Stern. Mit der Übersiedlung nach Basel wird Nietzsche 1869 staatenlos. Ab Wintersemester 1875/76 ist er zudem arbeitslos, die Universität Basel beurlaubte ihn aus gesundheitlichen Gründen. Bereits zuvor hatte er sich durch die Publikation Die Geburt der Tragödie in der philologischen Fachwelt isoliert, wo sein Ansatz als zu künstlerisch gewertet wurde. Nach dem Ausscheiden aus dem Kreis der Wagner-Anhänger und nach dem durch gesundheitliche Gründe erzwungenen endgültigen Abschied vom akademischen Lehrbetrieb und der Pensionierung durch die Universität Basel führt Nietzsche ab 1879 ein ungebundenes Leben als akademischer Außenseiter und Freigeist. Er pendelt zwischen Italien, Frankreich, der Schweiz und Sachsen und lebt dabei recht sparsam, um mit seiner Rente publizistische Vorhaben finanzieren zu können: „Erzwungenermaßen scheint sich nun das Lebensideal zu erfüllen, das er als junger Professor in seinen Basler Vorträgen ‚Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ gepriesen hatte, ‚allein und in würdevoller Isolation leben zu können.‘“20  

Er reist und publiziert viel, bleibt aber ohne große öffentliche Resonanz, nur wenige Freunde und Insider kennen seine Schriften. Gentleman scholar Nietzsche erträgt seine splendid isolation mit stiff upperlip, und tröstet sich mit der Überzeugung, erst in 100 oder 200 Jahren verstanden zu werden.21

Artikelbild: Foto einer Schweizer Berglandschaft von Christian Saehrendt

Quellen

Di Trocchio, Federico: Newtons Koffer. Geniale Außenseiter, die die Wissenschaft blamierten. Frankfurt 1998.

Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche, Bd. III. München 1979.

Felken, Detlef: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988.

Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche. München 1995.

Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig 1948.

Podach, Erich F.: Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werks. Weimar 1932.

Sieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt a. M. 1995.

Sieg, Ulrich: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007.

Sommer, Andreas Urs: Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“. Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche. In: Nietzscheforschung Bd. 4 (1998), S. 169–194.

Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern 1963.

Wuketits, Franz M.: Außenseiter in der Wissenschaft. Pioniere – Wegweiser – Reformer. Heidelberg 2015.

Fußnoten

1: Vgl. dazu ausführlich meinen Artikel über Spengler auf diesem Blog (Link).

2: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 52.

3: Vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet, S. 168 ff.

4: Vgl. Andreas Urs Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“.

5: Sieg, Deutschlands Prophet, S. 355–358.

6: Stern, Kulturpessimismus, S. 148.

7: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 299.

8: Siehe zu dieser Episode Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, S. 96-113 und Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche, S. 177-199.

9: Ebd., S. 197.

10: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 35.

11: Federico Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 22.

12: Ebd., S. 244.

13: Max Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 22.

14: Di Trocchio, Newtons Koffer, S. 100.

15: Ebd., S. 23.

16: Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 73.

17: Vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler, S. 25 ff.

18: Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, S. 36 f.

19: Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution, S. 106.

20: Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 48. Vgl. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 5. Vortrag.

21: Vgl. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 57.

Splendid Isolation, Stiff Upper Lip

Nietzsche und die Tragik akademischen Außenseitertums

„Keep a stiff upper lip“, „halt die Oberlippe steif“, sagt man in England, wenn man seinen Gesprächspartner dazu aufrufen möchte, im Angesicht der Gefahr durchzuhalten und eine aufrechte Grundhaltung zu bewahren. Ein Rat, der sicherlich oftmals hilfreich ist. Um eine solche stoische Position muss man sich umso mehr als akademischer Außenseiter bemühen, der sich einerseits vom wissenschaftlichen Mainstream abgrenzt, andererseits jedoch auch auf seine Anerkennung angewiesen ist. In einer solchen delikaten Lage befand sich Nietzsche selbst, aber auch zahlreiche seiner Bewunderer. Ausgehend von mehreren solcher Außenseiterfiguren (neben Nietzsche selbst etwa Julius Langbehn und Paul de Lagarde) entwickelt Christian Saehrendt in diesem Beitrag eine Typologie der (vielleicht nicht immer ganz so) „glänzenden Isolation“ des akademischen Nonkonformismus.

„Frieden um mich“

Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft

„Frieden um mich“

Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft

16.12.24
Paul Stephan

In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“

In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“
Zeichnung von Robert Linke. Mit herzlichem Dank an den Künstler.

I. Die „goldene Loosung“

Die goldene Loosung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches Allen galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, dass es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.“ – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.1

Mit diesem Aphorismus beendet Nietzsche den zweiten Teil des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, der überschrieben ist mit Der Wanderer und sein Schatten. Im Rückblick bezeichnet Nietzsche dieses Buch als das Dokument einer großen persönlichen Krise:

Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: „Der Wanderer und sein Schatten“ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…2

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich im zweiten Band seiner ersten großen Aphorismensammlung eine Wandlung vollzieht. Der erste Band des „Buches für freie Geister“, der 1878 erschien, steht noch ganz im Lichte einer aufgeklärten und individualistischen geistigen Libertinage. Gewidmet ist die Erstausgabe dem Aufklärer Voltaire, der hundert Jahre zuvor verstorben war. In den beiden Nachträgen zu diesem Buch – Vermischte Meinungen und Sprüche und eben Der Wanderer und sein Schatten –, die zunächst als separate Bücher 1879 und 1880 erschienen und erst 1886 zusammen mit dem ersten Band als ein Buch publiziert wurden, schlägt er in der Tat andere, ‚dunklere‘ und nachdenklichere Töne an. Die Selbstreflexivität nimmt zu, der Stil wird paradoxaler. Nietzsche wird immer mehr der zweifelnde ‚Hämmerer‘ seiner späteren Schriften.

Dieser Schlussaphorismus ist nun jedoch bemerkenswert ‚licht‘. Im ersten Abschnitt des Aphorismus, bis zum zweiten Gedankenstrich, vertritt er sichtlich das Programm eines aufklärerischen Humanismus. Der Mensch soll das Tier in sich überwinden und „milder, geistiger, freudiger, besonnener“ werden. Zarathustras Ideen der „Selbstüberwindung“ und des „Übermenschen“ deuten sich hier an, doch ohne die ‚dunkle‘ Wendung, die Nietzsche ihnen später geben sollte.

Es folgt dann, bis zum nächsten Gedankenstrich, die These, die man eigentlich als Nietzsches ‚Grundansicht‘ bezeichnen könnte und der er vom Frühwerk an bis zum Spätwerk die Treue halten sollte: dass sich der Mensch, um sein ureigenstens Potential zu realisieren, von den „Ketten“ der traditionellen Metaphysik und Moral befreien muss, die ihn bislang erdrückten und im Zustand der Animalität verbleiben ließen.

Diese Wendung überrascht, rechtfertigen sich jene „Irrthümer“ doch genau damit, einen Bruch zwischen Tier und Mensch zu erzeugen. Bereits die biblische Geschichte vom Sündenfall erzählt davon, wie dieser Bruch in die Welt kam. Nietzsche dreht diese gewohnte Perspektive hier diametral um – wie vermag er das zu rechtfertigen?

Es folgt bis zum nächsten Gedankenstrich jedoch keine Antwort auf diese naheliegende Frage, sondern eine neue Wendung in Nietzsche Argumentation, indem er eine weitere seiner Kernthesen anführt: dass sich nicht jeder Mensch gleichermaßen in seinem Sinne geistig befreien dürfe. Dieses Leben ohne moralische Fesseln soll den „veredelten Menschen“ vorbehalten bleiben. Sein Wahlspruch ist – auch dies ein typisches Stilmittel Nietzsches – eine Variation der Weihnachtsverkündigung, wie sie noch heute jedes Jahr in den Kirchen am Heiligen Abend verlesen wird.

Am Ende des Aphorismus wird diese, allerdings auch wieder leicht variiert, zitiert. Im klassischen Wortlaut der Luther-Bibel, mit dem Nietzsche natürlich bestens vertraut war – hier in der Version von 1912, die ihm weitgehend entspricht – lautet die Losung: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk. 2, 14) Es handelt sich um eine kollektive Prophezeiung der „Menge der himmlischen Heerscharen“ (Luk. 2, 13) an die Hirten als Repräsentanten des einfachen Volkes.

Allerdings – und womöglich war das Nietzsche bekannt – folgt die originale Luther-Bibel einer mittlerweile als veraltet geltenden Lesart des griechischen Originaltexts. Die neuste Version dieser Übersetzung von 2017 lautet daher etwas anders: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Es geht hier also nicht mehr um ein Gnaden- und Friedensversprechen an wirklich alle Menschen, sondern nur ein Friedensversprechen an diejenigen, denen das „Wohlgefallen“ Gottes zu Teil wird.

Blättert man im Lukas-Evangelium ein Kapitel nach vorne, wird deutlich, wie diese Einschränkung gemeint sein könnte, denn dort heißt es im berühmten Lobgesang Marias (in der Übersetzung von 2017): Gottes „Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Luk. 1, 50–53) Es geht also im Neuen Testament nicht unbedingt um ein seichtes ‚Gott hat alle Menschen lieb‘, sondern eine revolutionäre Botschaft: Gott hat nur die Menschen ‚lieb‘, die an ihn glauben, und die nicht „hoffärtig“ sind. Insbesondere ausgenommen werden hier, wie auch an zahllosen anderen Stellen des Buches, die Reichen und Mächtigen. – Aus dieser Perspektive klingt Nietzsches erste Umkehrung des Segens sehr „hoffärtig“: Der freie Geist möchte nur um sich Friede und in Einklang mit den Dingen leben, die ihn umgeben.

Auch dies wirft wieder Fragen auf. Wieso genau ist es für diese Losung noch nicht an der Zeit? Was müsste geschehen, damit sie als Ideal aufgestellt werden könnte? Und wie ist es zu erklären, dass Nietzsche einerseits einen Bruch mit allen bisherigen Idealen verkündet, diesen jedoch zugleich relativiert, insofern er das utopische Ziel des Christentums ja sogar gutheißt? – Dass Nietzsche sich dieses Ziel zu eigen macht, wird dadurch unterstrichen, dass er mit dieser Formel – „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“ – eine Postkarte beendete, die er am 23. 12. 1878 an seinen Studenten und Vertrauten Adolf Baumgartner schickte.3

II. Friede oder Wohlgefallen aneinander!

Zwei Nachlassfragmente aus den 1880er Jahren verdeutlichen, dass Nietzsche die heiklen Fragen, die dieser Aphorismus aufwirft, aber offen lässt, beantworten wird, indem er sich stärker als hier vom Ziel des Christentums distanziert. „Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen“ erscheint ihm nun als Losung der „décadence“, die sich in der Unfähigkeit zum Widerstand gegenüber anderen äußere, in Toleranz, Mitleid und Nachsicht. An die Stelle dieser Moral der Schwäche soll nun eine Ethik der Stärke und Härte treten, die in keiner Weise mehr den „Frieden“ und das „Wohlgefallen an einander“ im Sinne hat, es sei denn im Sinne der ersten Losung.4

Er vertritt nun offensiv die Amoralität:

„Die Krankheit macht den Menschen besser“: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die „Verbesserung des Menschen“, im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat „die Krankheit“ den Europäer „besser gemacht“? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität – unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs?… Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo „der Mensch“ sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: „je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so „unmoralischer“ wird <er> auch“. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die „Verbesserung“, die wachsende „Civilisirung“ des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und „Jeder Jedermanns Krankenpfleger“ wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten „Frieden auf Erden“! Aber auch so wenig „Wohlgefallen an einander“! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig „Werke“, um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine „Thaten“ mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?… 5

Es gilt nun: entweder Frieden oder „Wohlgefallen an einander“. Wenn die Menschen sich friedlich verhalten, wenn sie geschwächt sind, können sie kein authentisches wechselseitiges Wohlgefallen empfinden.

Dies wirkt wie ein Versuch, den Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten wenigstens nachträglich argumentativ zu unterfüttern. Das Christentum scheiterte an seinem Ideal, weil es zwei kontradiktorische Forderungen erhebt. Damit ist es freilich nicht nur „noch nicht“ realisierbar, es ist niemals realisierbar und taugt noch nicht einmal als Ideal. Als ein solches kann nur die individuelle Forderung an den einzelnen gelten, mit sich selbst in Einklang zu kommen und seine unmittelbare Umgebung wertzuschätzen. Doch auch diese möchte Nietzsche eben nicht an alle gerichtet wissen, sondern nur an die starken Naturen, die es auch wert sind, sich selbst zu bejahen. Die Schwachen sollen sich ruhig selbst verneinen und in Unfrieden mit sich und ihrer Umgebung leben – ihre Natur prädestiniert sie ohnehin dazu.

Der revolutionäre Ursinn des Weihnachtssegens bekräftigt Nietzsches Vorbehalte ja nur. Offenkundig geht es hier um das, was Nietzsche in Zur Genealogie der Moral als „Sklavenmoral“ bezeichnen wird: Die Starken sollen niedergehalten und gezähmt werden, um allgemeinen Frieden zu ermöglichen. Doch das Christentum verkennt, dass dadurch nur eine langweilige, graue, „nihilistische“ Welt entsteht, in der es am Menschen nichts mehr zu bejahen gibt. Anstatt das Tierische im Menschen zu transzendieren, werden die Menschen in Haustiere verwandelt.

III. Unweihnachtlich – allzuweihnachtlich?

Sicher ist an Nietzsches Gedanken etwas dran. Jeder kennt soziale Kontexte, in denen alle furchtbar nett zueinander sind, aber eigentlich keine wirklichen zwischenmenschlichen Resonanzen entstehen können, gerade weil zu diesen auch Konflikt und Ehrlichkeit gehört. In ihnen herrscht oft eine dumpfe, stickige Atmosphäre, wie auf einem Familienfest. Viele erleben Weihnachten wahrscheinlich genau so, als Inbegriff der christlichen Lüge und Heuchelei. Sollen sich diese Menschen doch erst einmal selbst lieben und mit sich selbst ins Reine kommen, ehe sie andere mit ihrem „Mitleid“ beschenken!

Doch der Nietzsche von Der Wanderer und sein Schatten macht es sich noch nicht so einfach wie der spätere. Es geht hier nicht um von Natur aus starke Individuen, sondern anscheinend solche, die in einem Bildungsprozess „veredelt“ worden und mithin wirklich Herr ihrer geheimen Begierden und Triebe geworden sind; die „stark“ in dem Sinne sind, dass in ihnen kein Rest an unsublimierter Animalität verblieben ist. Bei denen, im Sinne Freuds, wo „Es“ war, „Ich“ geworden ist. Erst sie könnten auch anderen gegenüber wirklich friedlich sein, ohne sich selbst belügen zu müssen. Sie sind also anderen gegenüber friedlich nicht, weil sie es sollen, sondern weil sie es wirklich wollen. Wird dieses Ideal jedoch allen aufgezwungenen, auch denen, die noch nicht bereit dazu sind, führt es nur zu Verlogenheit und innerer Zerrissenheit. Man ist nett zu allen, doch in Wahrheit voll von Aggressionen – für die man sich dann wiederum selbst hasst.

Nietzsche hält es in diesem Aphorismus jedoch noch für möglich und sogar für erstrebenswert, dass sich alle Menschen in diesem Sinne „veredeln“ und derart mit sich selbst und ihrer Umgebung im Reinen sind, dass ein wirklicher Frieden auf der Welt herrschen könnte. Dann erst könnten sich die Menschen wahrhaft gegenseitig wertschätzen. Und Friedlichkeit und Wertschätzung wären nichts mehr, was man moralisch verordnen müsste, sondern was sich aus diesem aufgeklärten, mit sich selbst einigen, authentischen Bewusstsein von selbst ergeben würde.

Das wäre also schlussendlich Nietzsches ‚frohe Botschaft‘ zur Weihnachtszeit: Respekt, Mitleid, Nächstenliebe und alle anderen Ideale des Christentums lassen sich nicht moralisch vorschreiben oder einfordern; sie müssen aus echter Selbstbejahung und Selbstbeherrschung heraus erwachsen. Wahre Moralität muss von innen kommen. Das Christentum betrügt die Menschen in Nietzsches Darstellung, indem es eine solche Moralität ohne eigene Anstrengung verspricht. Es müssen nur die ‚bösen Menschen‘ beseitigt werden, dann ist alles gut. Doch Friede kann nur um sich verbreiten und andere wahrhaft wertschätzen, wer den inneren Frieden aus eigener Kraft gefunden hat und wer sich selbst wertschätzt. – Doch ist das überhaupt so antichristlich und erinnert nicht vielmehr das Christentum an seinen eigenen Kern? Es ist jedenfalls eine sehr andere Botschaft als diejenige, die man an Weihnachten üblicherweise zu Ohren bekommt.

Fußnoten

1: Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten 350.

2: Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches 1.

3: Brief Nr. 785.

4: Vgl. Nachgelassene Fragmente 1888 23[4].

5: Nachgelassene Fragmente 1886 4[7].

„Frieden um mich“

Eine ungewöhnliche Weihnachtsbotschaft

In unserem letzten Artikel vor der Pause zum Jahreswechsel untersucht Paul Stephan in einem close reading einen bemerkenswerten Aphorismus Nietzsches, in dem dieser sich mit dem berühmten Weihnachtssegen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ auseinandersetzt. Wie beim Auspacken eines mehrfach verhüllten Geschenks versucht er, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten dieses Textes freizulegen, um Nietzsches genaue Positionierung deutlich hervortreten zu lassen. Ob man am Ende eine leuchtende Wahrheit in der Hand hält oder der Karton leer bleibt, mag der Leser für sich entscheiden. Wir wünschen jedenfalls allen unserer Leserinnen und Leser mit Nietzsche: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander!“

Interessante Fremde

Bemerkungen zu Kafkas Werk

Interessante Fremde

Bemerkungen zu Kafkas Werk

9.12.24
Michael Meyer-Albert

Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.

Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.

Vor 100 Jahren starb Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.

„[...], war es eine Komödie, so wollte er mitspielen. Noch war er frei.“  

Kafka, Der Prozeß

I. Kafkaesk

In Woody Allens Film Play It Again, Sam aus dem Jahr 1972 gibt es eine Szene in einem Museum, in der der Protagonist Allan etwas unbeholfen eine Frau anspricht, die in die Betrachtung eines Bildes versunken ist. Er versucht sein Glück, indem er sie fragt, was das Bild für sie bedeute. Darauf sieht sie ihn nicht an, sondern beschreibt in einem sonoren Monolog ihre Faszination für den existenziellen Pessimismus, den das Bild für sie hat. In seiner anders gearteten Faszination geht Allan auf den Schwall der dunklen Philosopheme nicht ein und fragt schlicht, ob die Dame am Samstag zufällig Zeit hätte für ein Rendezvous. Sie entgegnet darauf – offenbar ist es ihr ernster mit dem existenziellen Pessimismus –, dass sie samstags nicht könne, sie würde an diesem Tag Selbstmord begehen. Davon lässt sich Allan nicht entmutigen und fragt etwas verzweifelt, ob sich dann nicht ein Treffen am Freitag einrichten ließe. – Eine der folgenden Szenen zeigt die beiden nackt in einer anscheinend postkoitalen Situation im Bett. Schüchtern und nervös fragt Allan, wie sie den Beischlaf gefunden habe. Ihre Antwort: „Es war kafkaesk.“

Allens Film zeigt in dieser Passage tiefsinnig auf, wie das Erbe von Franz Kafka kollabierte zu einer Phrase. In einem Jargon der Absurdität1 funktioniert sie als eine Art Markierung für das Vokabular einer negative Weltsicht, die durch ihre automatische Geläufigkeit kontextunsensitiv in unpassende Situationen überspringt. „Kafkaesk“ konnotiert die grundlegende Absurdität des Lebens. Während bei Kafka die Absurditäten des Lebens zumeist eine düstere surreale Hoffnungslosigkeit ausdrücken, weist Allens Film darauf hin, dass existenzielle Absurditäten auch durchaus eine andere Richtung nehmen können. Sex statt Suizid. Für diese Nietzscheanisierung des Kafkaesken möchten die folgenden Abschnitte auf eine philosophische Weise werben. Für eine poetische Herangehensweise mit einer ähnlichen Stoßrichtung sei auf das Werk von Wilhelm Genazinos verwiesen, das die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ in humorvoller Detailschärfe beschreibt.

II. Die Wunde Kafka

Kafka ist einer der Kronzeugen für die moderne Philosophie, die an der Moderne verzweifelt. Sein Werk gilt als Indiziensammlung für die dunkle Wahrheit der „verwalteten Welt“ (Adorno). Dass Kunst als Garant dieser Wahrheit herhalten muss, kann allerdings als Indiz dafür gelten, dass die Philosophie sich nicht mehr alleine zutraut zu sagen, was ist. Doch als freiwillige Magd der Kunst tritt das Denken nur auf den ersten Blick in einer neuen Bescheidenheit auf. Philosophie als Königinmacherin behält sich vor, das letzte Wort darüber zu haben, was die Kunst eigentlich zum Besten gibt. Für diese Rolle der hermeneutischen Dechiffrierung disponiert zusätzlich die in der Moderne unter der Konvention des Unkonventionellen stehende Entwicklung der Kunstwerke, die sich in immer kryptischere Originalitäten versteigen. Philosophie wird zu einem Priestertum des Ästhetischen. Sie erlangt über den Umweg der Kunst wieder die Weihen der metaphysischen Wahrheit. Davon profitiert auch die moderne Kunst, deren manische Enigmatik sich nun einbilden kann, transzendenten Ursprungs zu sein. Ein augenzwinkernder Hinweis auf die Show der Schau reicht von Platons Ion bis zu Sigmar Polkes: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“  

Neben Heidegger ist es vor allem Adorno gewesen, der die Philosophie über die Interpretationshoheit maßgeblicher Werke wieder für die Wahrheit retten will. Neurespektabel wird das Denken nach dem Versuch sich als eine verstehende, nicht bloß positivistisch erklärende Geisteswissenschaft aufzuwerten, als eine Form der Kunstauslegung. Neben Beckett und Schönberg ist es für Adorno Kafka, aus dessen Werk er die Legitimation ziehen möchte, die moderne Welt en gros als demiurgische Hölle des „Bestehenden“ zu diffamieren.  

Die Tragik von Adornos Philosophie ist es, dass ihre stupende Sensibilität manipuliert wird von ihrem Weltschmerzdogma. Ihre Negation von abstrakten Weltanschauungen schützt sie nicht davor, selbst wieder eine zutiefst resignative Weltanschauung  zu propagieren, die sich indirekt durch wiederholte Deutungsmuster vermittelt, die das, was ist, insgesamt als großes Unglück interpretieren. Damit instrumentalisiert Adorno Kafka als eine Bestätigung für seine gnostischen2 Vorurteile. Er verstellt sich so eine bereichernde Betrachtung auf das Werk Kafkas. Und das, obwohl er es mit Sätzen wie diesen, die von der seiner großen ästhetischen Sensibilität zeugen, zugänglicher machte: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“3

Mit einer sozio-psychologischen Herangehensweise ließe sich Kafkas Wunde metaphysisch abgeklärter verstehen. Es wird schnell klar: Kafka hatte daddy issues, exemplarisch ablesbar in Das Urteil in der Gestalt Georg Bendemann oder auch im Brief an den Vater. Der Konflikt lässt sich leicht verständlich machen: Kafkas Vater stammte aus sehr einfachen Verhältnissen, Sohn eines Fleischhauers aus einem 100-Seelen-Dorf, der dann in Prag sein Glück suchte und dort mit Hilfe seiner vermögenden Frau ein Galanteriewarengeschäft gründete. Als erfolgreicher Entrepreneur, der es schaffen wollte und geschafft hat, hatte er kein Verständnis für einen Sohn, der allein für die Literatur leben wollte.

Philosophisch anspruchsvoll werden Kafkas Vaterprobleme, wenn man sie kulturgeschichtlich deutet. Die Figur das Vaters figuriert dann als erziehende Autorität, die den Akt der Geburt in erweiterten Dimensionen fortsetzt. Der Vater als die ergänzende Mutter führt ein in die Gesellschaft und die kulturellen Räume. Seine Autorität erscheint so nicht nur als diffuse Form einer herrischen Macht, sondern als überlegenes Muster von Kompetenz. Kafkas Werk geht so gesehen nicht darin auf, ein Indiz für die Welt der bürokratischen Herrschaftsformen zu sein, sondern es ist darüber hinaus ein Zeichen für die abgründigen Effekte, die sich einstellen, wenn der Zusammenhang der Generationen nicht mehr über Traditionen vermittelt wird, die für die Nachkommen eine hinreichende Plausibilität erreichen können. Kafkas Tagebuch ist ein Sammelsurium von Belegen für eine ortlose Existenz:

Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahres-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich.4
Ich bin unsicherer, als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein […].5
Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.6  

Wenn Autoritäten als plausible Muster, die nachgeahmt und variiert werden können, nur noch als befremdende Mächte erfahren werden, fällt das Lernen eines halbwegs umfänglichen Zur-Welt-Kommens aus: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.“7

Kafkas Werk zeigt also die erste Phase dieses Abbruchs einer kulturellen Nidation8 in Folge eines generationellen Prozesses, der von zwei Weltkriegen geprägt wurde und in der Grundstimmung einer universellen Ratlosigkeit resultierte.  

In der zweiten Phase werden die Joseph Ks von aggressiveren rotbraunen Irrlehren mobilisiert, die ihm die vermeintlichen Schuldigen für seine Notlage benennen können und radikale Auswege aufzeigen. Dostojewskis unheimlichster Roman Die Dämonen (1872) hat diese Grundspannung, die so dominant werden sollte für das 20. Jahrhundert, in einer prophetischen Tiefenpsychologie erzählerisch ausgestaltet. Es ist genau die Vorform dieser Spannung, die der Affe Rotpeter in Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie in den folgenden Worten beschreibt: „Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; […].“9

III. Nietzsches mögliche Aufzeichnungen zu Kafka

Über Nietzsche finden sich explizit keine Aufzeichnungen bei Kafka. Es ist allerdings von Max Brod, Kafkas Jugendfreund, überliefert, dass sein erstes Kennenlernen mit Kafka in einer intensiven Diskussion bestanden habe, bei der Kafka Brods Eintreten für Schopenhauer mit einem Hinweis auf Nietzsche kritisierte.10

Dennoch lässt sich mit Nietzsche eine sozio-psychologische Sichtweise auf Kafkas Werk vertiefen, indem ein Schritt hin zu einer metaphysischen Perspektive gemacht wird. Kafkas Literatur wird darin nicht als vermeintliche Theologie im Sinne einer modernen Kabbala11 gelesen, sondern als Ausgrabungsstätte für eine philosophische Archäologie, die die spurenhafte Wirkung von kulturellen Konzepten verdeutlicht. Mit dieser Sicht lassen sich in Kafkas düsterem Erzähluniversum zwei Leidparadigmen unterscheiden. Stellvertretend dafür können seine beide Romanhauptwerke stehen. So thematisiert Das Schloss implizit die platonische Seinsferne, die von einem melancholischen Abstand zwischen der irdischen Welt und den ewigen Guten ausgeht. Das Beste bleibt trotz aller Spuren und Annäherungsversuche unzugänglich. Die Sirenen schweigen. Den Roman Der Prozess wiederum könnte man lesen als Aktualisierung der augustinischen Erbsündenlehre – diese moralisiert Platons Abstand vom Sein – im Gewand der modernen Bürokratie. Ein unerklärliches Schuldigsein bestimmt das Leben wie eine anonyme Macht. Alle Bemühungen in einem bürokratischen Prozess Aufschluss über den Charakter dieser Schuld, Aufklärung und Gerechtigkeit zu erhalten scheitern letztlich. Die Wunde Kafka ist demnach kein Indiz für die „verwaltete Welt“ (Adorno), sondern die Spur von mächtigen metaphysischen Traditionen, die die Grundverständnisse und Stimmungen in der Moderne massiv prägen.

Folgt man dieser Lesart, so zeigt sich das von Nietzsche herausgestellte und kritisierte unnötig Masochistische eines platonisch-augustinischen Existenzialismus bei Kafka – vermutlich vor allem durch Kierkegaard vermittelt – in einer Vielzahl von Details. Etwa, wenn dem verhungernden Hungerkünstler am Ende die „Freude am Leben“ in der Gestalt eines Panthers – „dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper“ – gegenüber gestellt wird: „Ihm fehlt nichts.“12

IV. Schöne Rätselhaftigkeit

Kafkas Werke sind jedoch mehr als bloße Fußnoten zu Platon oder Augustinus. Mein Vorschlag ist es, sein literarisches Schaffen als einen impliziten Existenzialismus zu lesen, der die Kontingenz des Seins auf eine moderne Weise herausstellt.

Nietzsche hat für eine positive Konnotation der existenziellen Kontingenz die befreiende Perspektive gefunden, das Leben als ein „Experiment des Erkennenden“ zu begreifen. Das setzt aber voraus, dass man sich verabschieden lernt von den zentralen ontologischen Paradigmen der abendländischen Kultur. Es gibt kein Sein als zentrale Ursprungsmitte, das zu den Rändern hin ausstrahlt und es gibt keinen gerechtmachenden Advent13, der einmal in einer besseren Welt sein wird. Keine Geschichtsphilosophie, kein Ganz-Anderes. Das „Nichtidentische“ (Adorno) und das Gefühl der „Seinsverlassenheit“ (Heidegger) sind Chimären, die daraus entstehen, dass das Kontingente unnötig zu einer Not–Wendigkeit resubstanzialisiert wird, gegen die dann wieder ungenaue Aggressionen freigesetzt werden. Kafkas poetisches Projekt ließe sich mit Nietzsches philosophischem Projekt in der Idee einer apollinischen Verklärung verbinden:

Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke.14

Kafkas Apollinismus ist allerdings ein latenter Apollinismus zweiter Stufe. Seine Prosa zeigt Ansätze dafür, sich auf die unlebbare Dissonanz mit der Welt durch ihre Darstellung als unlebbare Dissonanz doch noch einen minimalen Restreim zu machen. Zentral ist dafür die Explikation eines hermeneutischen Perspektivismus. In den Texten Kafkas objektiviert sich das Rätsel Welt durch scheiternde Objektivierungen der Protagonisten. Oftmals werden ganze Systematiken des Verstehens fortgeführt, deren autopoietische15 Dynamiken kontrastieren mit der Situation, auf die sie reagieren. Das Bestätigen fällt aus. Das Ganze ist das Seltsame, an dem das Reflektieren scheitert: „Try again. Fail again. Fail better.“ (Beckett) Was ist skurriler als Gregor Samsa, der zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ mutiert, aber sich vor allem Sorgen macht um die Unannehmlichkeiten, die sein Fernbleiben bei seiner Anstellung verursachen? Dergestalt wirken Kafkas Texte wie Sagen, die mit dem Gestus des Erklärens das Unerklärliche nicht erklären. Indirekt wird so das Unheimliche zum Merkwürdigen verklärt. Eine zu unverständliche Welt wird verständlicher, indem ihr Verstehen als Unverständlich-Bleiben verstanden wird. Jeder Satz spricht aus einer Gewöhnlichkeit heraus, aber alles bleibt ungewöhnlich.

Damit wird das ewige Gespräch mit und über die Gesamträtselhaftigkeit der Welt nicht nur fortgesetzt, sondern ermöglicht, weil deren Fragwürdigkeit durch die Unzulänglichkeit des Verstehens nun stärker hervortritt. In diesen Versuchen einer impliziten Verklärung des Disharmonischen zum Enigmatischen sind Kafkas Werke kulturfunktionalistisch gesehen Darstellungen provisorischer Horizontverschmelzungsversuche. Ihre Irritationen harmonisieren, weil sie ein Verstehen veranschaulichen, das in seinem Nichtverstehen verständlich wird. Vorgeführter Irrsinn erzeugt eine Ironie zum Sinnmachen, das jedoch sein muss. Kafkas Prosa ist ein entlastendes Propädeutikum für die Dissonanz, die wir sind. Sie verklärt das Verklären. Kontingenz wird darin spürbar in der Ambivalenz einer Grundstimmung von „schöner Fremde“ (Eichendorff).

V. Die müde Wunde

Kafkas enigmatische Objektivierungen des Enigmatischen besitzen auch für Nietzsche-Leser eine kulturphilosophische Bedeutung. Auf eine vertiefende Weise loten sie den Gedanken neu aus, zum Verklären verurteilt zu sein. Darüber hinaus zeigen sie Spuren davon, was es heißt, nicht mehr von den Schatten Gottes verdunkelt zu werden. Nicht die Wunde Kafka, sondern das Rätselhafte bei Kafka stimuliert als Sensibilisierung für das von Nietzsche im Medium der Philosophie etwas zu großspurig und parolenhaft geforderte anziehende Geheimnisvollsein des Lebens. Die Explikation des Enigmatischen stimuliert eine geistige Lebendigkeit. In allem lässt sich nunmehr etwas Interessantes finden. Die Vergeblichkeit des Verstehens wertet sich um zur Lizenz zum Poetisieren. Durch Kafkas Kunst wird der Rätselcharakter der Welt als Möglichkeit eines pluralen Dabeiseins in der Ausprägung einer hermeneutischen Diversität deutlicher. Freiheit kann sein, wenn das Verstehen durch sein Scheitern zu einem Spiel wird. Gerade ohne eine Königsbotschaft sind die individualisierten Kuriere der Moderne nicht mehr elend-sinnlos ihrem Gerede von Meldungen ausgeliefert. Nicht ein Diensteid verpflichtet sie zum Leben, sondern eine gesteigerte Disponierbarkeit für die unerhörten Begebenheiten verführt zum ermunternden Erzählen von der ewigen Novelle Welt und einem Neuengagement auf ihren Bühnen.

Diese Umwertung des unheimlichen Lebensprozesses zu einer unabsehbar interessanten Rätselhaftigkeit besitzt den Effekt einer kulturtherapeutischen Peripetie16. Kafka zeigt narrativ, wovon Nietzsche philosophiert. Inmitten der Fiktionalisierung von permanenten Selbstanklagen, die von einem unverständlichen Schuldgefühl (vgl. Der Prozess) und einer paranoiden Unsicherheit (vgl. Der Bau) inspiriert werden und der latenten Ahnung eines deprimierenden unaufhebbaren Abstandes zur Erfüllung (vgl. Das Schloss), finden sich hier und da bei Kafka unkafkaeske Stellen, die emanzipatorische Veränderungen der platonisch-augustinischen Mächte andeuten. Das Selbstgefühl, ein Niemand ohne Autorität von ganz oben zu sein, wird erlöst von dem Drang nach der Erlösung durch Gnade und Anerkennung, vom heroischen Siegenwollen und Revolutionen ganz zu schweigen. Kafkaesk könnte die Kontingenz der Existenz für einen redlichen „Willen zum Lebensdienste“ (Thomas Mann) werden, dem sich das Absurde als schöne Beliebigkeit und mögliche Anfänge von Siegen über die Banalität vermittelte. Nichts muss, alles kann. Angelus Silesius’  bekannte Losung gälte es umzukehren: Mensch, werde unwesentlich. Eine Ahnung von einer übermütigen Kontingenz, die den Zufall als Quelle der Gelegenheiten ehrt, vermittelt etwa Der Ausflug ins Gebirge:

„Ich weiß nicht“, rief ich ohne Klang, „ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur dass mir niemand hilft –, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst?“17

Auch für den paranoiden Maulwurf in Kafkas Der Bau gibt es Phasen, in denen er sich von seinen unablässigen „Verteidigungsvorbereitungen“ luzide distanziert: „Bis allmählich mit völligem Erwachen die Ernüchterung kommt, ich die Übereilung kaum verstehe, tief den Frieden meines Hauses einatme, den ich selbst gestört habe, […].“18

Am deutlichsten wertet Kafka in der Parabel Prometheus die Werte des Abendlandes um. Prometheus, ein antiker Christus am Kreuz, erlebt eine Auferstehung durch die heilende Macht der Zeit, wodurch „die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden“19 verschwindet, wie am Meeresufer eine Sandburg in den Wellen. Keine Wunde lenkt mehr ab von dem Rätsel des bloßen Seins:

Die Sage versucht das Unerklärliche zu klären; […] Von Prometheus berichten vier Sagen. Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet und die Götter schickten Adler, die von seiner immer nachwachsenden Leber fraßen. […] Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler. Die Wunde schloß sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge.20

Quellen

Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Gesammelte Werke 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a. M. 1977.

Kafka, Franz: Erzählungen. Stuttgart 1994.

Ders.: Tagebücher. 1910-1923. Stuttgart 1967.

Oschmann, Dirk: Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin 2009, S.129–146.

Fußnoten

1: Analog zu dem „Jargon der Eigentlichkeit“, den Adorno bei Heidegger und seinen Epigonen herausstellte.

2: Anm. d. Red.: „Gnosis“ meint die Überzeugung, dass die Welt, in der wir leben, nicht die Schöpfung Gottes, sondern eines untergeordneten, bösartigen „Demiurgen“ ist.

3: Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, S. 255.

4: Kafka, Tagebücher, S. 402 (21.Januar 1922).

5: Ebd., S. 236 (19.November 1913).

6: Ebd. (20. November 1913).

7: Ebd. S. 404 (24. Januar 1922).

8: Anm. d. Red.: Die Einnistung der aus der befruchteten Eizelle hervorgegangenen Frühform des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut.

9: Kafka, Erzählungen, S. 202.

10: Vgl. Oschmann, Skeptische Anthropologie. Kafka und Nietzsche, S. 129.

11: Anm. d. Red.: Mystische Tradition des Judentums.

12: Kafka, Erzählungen, S. 235.

13: Anm. d. Red: Der Begriff „Advent“ bezeichnet neben der ersten Ankunft Christi seine Wiederkunft.

14: Die Geburt der Tragödie, Abs. 25.

15: Anm. d. Red.: „Autopoiesis“ bezeichnet den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems.

16: Anm. d. Red.: In der Literaturtheorie der Umschlagspunkt einer Handlung.

17: Kafka, Erzählungen, S. 22.

18: Ebd., S. 468.

19: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 300.

20: Kafka, Erzählungen, S. 373.

Interessante Fremde

Bemerkungen zu Kafkas Werk

Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Der folgende Text ist ein Aktualisierungsversuch, der sich seinem Werk mit einer von Nietzsche inspirierten sozio-psychologischen Perspektive nähert. Seine These: Kafka zeigt erzählend, wovon Nietzsche philosophiert. Michael Meyer-Albert will dafür werben, in den als düster-surreal geltenden Fiktionen eines der bedeutendsten Autoren der Moderne die Logik einer nichtnaiven Weltaufhellung zu finden: Lebensbejahung statt Suizid.

Redaktioneller Hinweis: Einige schwierige Fachbegriffe haben wir in den Fußnoten erläutert.

Darts & Donuts
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Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Zum ersten April. – Dieser Tag hat für mich stets eine besondere Bedeutung. Es ist einer wenigen Anlässe im Jahr, an dem sich das ernste, allzuernste Abendland ein wenig Leichtsinn, Satire und Verdrehung erlaubt, ein schwacher Abglanz der antiken Saturnalien. Der Fest- und Ehrentag der Narren sollte zum Feiertag werden – und wir freien Geister werden die Hohepriester des Humbugs sein, Dionysos unsere Gottheit. Es wird ein Tag der Heilung sein. Wie viele dieser Tage werden nötig sein, um in uns und um uns endlich wieder ein solches Gelächter erschallen zu lassen, wie es den Alten noch möglich war? In das Lachen wird sich so stets ein wenig Trauer mischen – doch wird es darum nicht tiefer genossen werden, gleich einem mit bitteren Kräutern versetzten Weine? Der Ernst als Bedingung einer neuen, melancholischen Heiterkeit, welche ihnen unverständlich gewesen wäre? Aphrodite muss im Norden bekanntlich einen warmen Mantel tragen, um sich nicht zu verkühlen – doch vermag uns eine Lust zu spenden, die selbst die Römer erröten ließe. Wir haben so doch unsere eigene ars erotica und unsere eigene ars risus. Unsere Freuden sind mit Tränen benetzt und erhalten erst dadurch das nötige Salz.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 384)

Die Apokalyptik der Identität als Projekt. – Furcht und Zittern im Rückzug auf das Partikulare – zirkeln zwischen Sinn und Zwang. Bedingt die Verdrängung der Allgemeinheit die Autoaggression; die Reduktion der Zukunft, die Rückkehr des Tabus – oder umgekehrt? Zur „Republik des Universums“ sprach also der Philosoph des Mythos: „fear knows only how to forbid, not how to direct“.

(Sascha Freyberg)

„Die Waffe gegen dich zum Werkzeug machen, und wenn’s nur ein Aphorismus wird.“

(Elmar Schenkel)

Ich empfinde alle Menschen als schädlich, welche dem, was sie lieben, nicht mehr Gegner sein können: sie verderben damit die besten Dinge und Personen.

(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Nietzsche sagt: „ChatGPT ist dumm.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

Nietzsche sagt: „Man soll den Computern misstrauen, sie haben ein Hirn, eine Hand, einen Fuß und ein Auge, aber kein Herz.“

(Paul Stephan im Dialog mit ChatGPT)

In den Abgründen der Seele tanzen die Schatten der Vergangenheit, doch nur der Mutige erkennt darin die Möglichkeiten des Morgenlichts.

(ChatGPT auf die Bitte hin, einen Aphorismus im Stile Nietzsches zu verfassen)

Werk. – Es gibt keine irreführendere und falschere Ansicht als die, dass das Schreiben oder das Werk lustvolle Angelegenheiten seien. Es ist ganz das Gegenteil! Das Werk ist einer der größten Gegner und schlimmsten Feinde. Und wer aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit schreibt, vermisst an ihm Umgangsformen und Gewissen – der ist ein Schwein!

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Gefährliche Wahrheit. – Viele psychische Pathologien machen ihren Wirt ultrasensibel. Sie bekomme Antennen für die kleinsten seelischen Regungen ihres Gegenübers, sehen den kleinsten Verrat, die kleinste Inkongruenz, den kleinsten Reißzahn, den hässlichsten Hund im Menschen. Als Feind des Menschengeschlechts zückt der Arzt seinen Notizblock und ruft also „die Pfleger“ herein.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Glück: Keinen mehr nötig zu haben und so rückhaltlose Zuwendung sein können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 44)

Dein Rechthaben nicht offen zur Schau stellen. Nie der Weg sein. Dem, der Recht hat, will man leicht Unrechttun und man fühlt sich gemeinsam im Recht dabei, weil das Gefühl für Gleichheit ständig trainiert wird und die Übung der Freiheit eine Seltenheit geworden ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 43)

Wahre Liebe: Durch den Anderen hindurch lieben.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 42)

Zusammensein wollen: Weil es leichter ist? Weil es bereichert? Weil man keinen Willen kennt, der lange Wege allein gehen kann?

(Neue Sprüche und Pfeile, 41)

Helfen wollen: Weil es sichgehört? Weil einem Gleiches widerfahren kann? Weil man hat und gerne gibt? Weil einem nicht die aktuelle Armut betroffen macht, sondern die Schande, dass Chancen ungenutzt bleiben müssen?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 40)

Keine Größe ohne ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Aus dem Schein zu einem Mehr an Sein. Aus den Erfolgen der Sprünge in eine Rolle, in der man sich nicht kannte, entsteht der Glaube anein Können, das mehr aus einem machen kann.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 39)

Wem die Stunde schlägt. – Wer sich einen Termin macht, etwa ein Date in zwei Wochen, freut sich, trifft allerlei Vorbereitungen, fiebert darauf hin, hält durch und überlegt, was er sagen soll und so weiter. – Dann ist der Tag da. In der Zukunft glänzte alles noch, fühlte sich anders an. Man denkt sich: Es ist alles ganz wie vorher. Alles, was ich getan habe, war nur Selbstzweck, man erwartete das Warten und Vorstellen und nicht die Sache selbst, nicht den Kairos, den man nicht erwarten kann.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Niederes und höheres Bewusstsein. – Bin ich vor die Wahl gestellt, entweder erdrückt zu werden, tot zu sein und zu schweigen oder zu lästern und ungläubig zu sein – Gift in meinen Drüsen mir zu sammeln, wie mir angeboren, Reptil, das ich bin –, ich würde immer das Zweite wählen und mich niedrig, schlecht, negativ und ungebildet nennen lassen. Lieber will ich mich von meinem Gift befreien als es mir zu Kopf steigen zu lassen. Tritt einer dann in meine Pfützen, sei’s so – gebeten hat man ihn nicht!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Schwere und die Sinnlosigkeitder Dinge. – Wer einmal den unbegründeten Wunsch verspüren sollte, sich über die wesentlichen Dinge Gedanken zu machen, das Sein der Dinge und die Zeit, der ist besser beraten, es zu unterlassen. Der Verstand tendiert dazu, solche Dinge zäh und schwer zu machen. Am Ende findet man sich beim Denken und Überlegen dabei wieder, das Ding selbst nachzuahmen und denkt den Stein, das Stein-Seins, verfällt in gedachte Inaktivität.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Nichts. – In der Indifferenz ist noch alles und jedes zu ersaufen. Der größte Mut, der Hass, die Heldentaten, die Langeweile selbst verschlingt sich und die große Dummheit, Eitelkeit.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Für Franz Werfel. – Ein Autor, der dir sagt: „Ach, meine Bücher…, lass dir Zeit, lies erst dies ein oder andere. Das kann ich dir empfehlen: Ich liebe Dostojewski.“ – Das ist Größe und nicht die eitle Schwatzerei derjenigen, die ihre eigene Person und die Dringlichkeit der eigenen Ansichten vor sich hertragen.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Illusions perdues. – Wieso ist es so,dass das schönste, romantischste, bewegendste, rührendste, herzaufwühlenste Buch gegen die blasseste Schönheit von zweifellos hässlichem Charakter keine Chance hat und so attraktiv wie eine uralte Frau wirkt?

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Wider einfache Weltbilder. – Wir sind ein krankendes Geschlecht; schwitzend, von Bakterien übersät. Wir haben Bedürfnisse, geheimen Groll, Neid; die Haare fallen uns aus, die Haut geht auf mit Furunkeln; wir vertrauen, langweilen uns, sind vorlaut; pöbeln, sind übertrieben schüchtern, schwätzen Unsinn, konspirieren, sind erleuchtet, sind verblendet, eitel, machthungrig, einschmeichelnd, kriecherisch – jenseits von Gut und Böse.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vom Unglauben getragen. – Wie könnte man es nicht anbeten, das großartige formlose Unding, welches das Sein ist? Monströs wie allerfüllend. Das große Nichts, das die Alten die Hölle nannten, qualmt und beschenkt uns mit den schönsten Schatten.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Das herzliche Lachen der Literatur. – Hat jemals ein Mensch, der vor einem Buch saß, sich den Bauch und die Tränen vor Lachen halten müssen? Ich schon; aber nur in der Vorstellung – und aus Schadenfreude über solche Idiotie.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Ananke. – Weil die Literatur, obzwar sie die dümmste, platteste, schlechteste Grimasse der Zeit darstellt, doch von ihr den kleinsten Kristallsplitter Reinheit enthält, ist sie unerbittlich erbarmungslos und erschreckend in ihrer Folge. Wir wissen nur eins: Sie wird kommen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Kind in der Bibliothek. – Die Mutter muss dem Kind verbieten: „Nein, wir gehen nicht da rein!“ Das Kind sagt: „Da!“, und will ein Regal hochklettern. Bücherregale sind Klettergerüste. Weil es das nochnicht gelernt hat, läuft es wie ein Betrunkener nach seiner Mutter.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Authentisch sein wollen: Weil es sich schickt? Weil man die Halbwahrheiten satt hat? Weil man einsah, dass nur ein Eingestehen zu tieferen und offeneren Bindungen führt?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 38)

Herausragend sein wollen: Weil man Bewunderer will? Weil man es den Mittelmäßigen zeigen möchte? Weil man das Banale nicht mehr aushält?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 37)

Weil die Kritik zunehmend nicht widerlegen, sondern vernichten will, ist die gute Moral der Moderne die kategorische Revisionierbarkeit. Sein ist Versuch zum Sein. Daher bemisst sich kompetente Urteilskraft an der Distanz zum guillotinenhaften Verurteilen. Korrekte Korrektheit ist selbstironisch.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 36)

Wer nicht von sich auf Andere schließt, verpasst die Chance zu einer Welt genauso wie jemand, der von Anderen nicht auf sich schließt. Im revidierbaren Mutmaßen lichtet sich das Zwielicht des Miteinanders ein wenig und es erhöht sich die Möglichkeit zu einem halbwegs zuverlässigen Versprechen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 35)

Im Gehen wird das Denken weich und weit. Wer die Welt um sich hat, für den wird das Rechthaben zu einer unschönen Angewohnheit. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, laufen einem die Sätze wie angenehme Begegnungen über den Weg, die einen überraschen mit der Botschaft, wie wunderbar egal man doch ist.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 34)

Ohne Erfolge wäre das Leben ein Irrtum. Die Karriere ist die Musik des Lebens, auch für die, die sich für thymotisch unmusikalisch halten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 33)

Schonungslose Ehrlichkeit belügt sich selbst, weil es ihr nicht um Wahrheit geht, sondern um den Effekt des Entblößens als bloße Intensität des Auftrumpfens. Sie will nicht aufzeigen, sie will es den Anderen zeigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 32)

Abhängigkeit macht angriffslustig. Man will sich selber beweisen, dass man etwas ist und attackiert die lebenswichtigen Helfer, als wären sie Meuterer. Dabei ist man selbst derjenige, der meutert. Für das klassikerlose Tier gilt: Es gibt ein falsches Leben im richtigen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 31)

Sich Zeit lassen, wenn die Zeit drängt. Panik macht ungenau. Fünf vor zwölf ist es immer schon für diejenigen, die überzeugt sind, genau zu wissen, was zu tun ist, ohne dass sie die Komplexität der Lage je verstanden hätten. Es ist die Tragödie des Weltgeistes, dass seine selbsternannten Apostel erst einen überwältigenden Eindruck mit ihrer Entschiedenheit machen und dann einen schockierenden Eindruck mit den Wirkungen ihrer Entscheidungen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 30)

Ein Schreibfehler. – Was heißt erwachsen werden? – ...die kindlichen Züge anlegen ...!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Geschlechterkampf. – Da weder die Auslösung des Mannes noch der Frau zur Disposition steht und politische Macht in der Regel nicht mehr mit physischer Gewalt durchgesetzt wird, sind die mächtigsten Formen der Machtausübung verdeckt: Schuld, Angst, Drohung, Beschämung, Entzug (z. B. von Liebe und Solidarität), Zurschaustellung. Sie alle operieren mit Latenzen und unsichtbaren Scheingebilden, entfesseln dieFantasie.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Die Gewissensqual über das Gewissen: Das Gewissen, das sich nicht selber beißen lernt, wird zum Mithelfer der Gewissenlosigkeit. Gewissen jedoch als permanenter Gewissensbiss verletzt die Freiheit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 29)

Die erzwungene Höflichkeit provoziert die Lust zur Unhöflichkeit. Die Attraktivität der Sitten bemisst sich daran, wie viel kreative Munterkeit siegestatten. Sitten, die Recht haben wollen, werden unweigerlich zu Unsitten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 28)

Aus dem gefühlten Mangel an Aufmerksamkeit als stiller Angenommenheit entsteht der Hass auf diejenigen, die einen keines Blickes mehr zu würdigen scheinen. Man unterstellt Ungerechtigkeit, wo Freiheit ist, die eine andere Wahl traf. Dies Verdächtigen verhässlicht und entfernt von der Zuwendung, nach der man so sehnsüchtig strebt. Wut, die andauert, wird Hass, der schließlich den Anderen als Gegner wahrnimmt, den man nicht mehr kritisieren, sondern nur noch vernichten will.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 27)

Schatten über der rechten Hand. – Ist der Todesengel derselbe wie der der Liebe? – Erkennen wir nicht den Schatten aneinander, überall?

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Die Freiheit in der Literatur. – Kein Mensch wird geboren und liest „die Klassiker“.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Immerhin. – Man hat als Mensch genug Zeit bekommen, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Respekt. – Da duzt man die Leute undschon verlieren die allen Respekt – Demokratie!

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Vorsicht. – Unsere Gesellschaft geht von der Maxime aus, dass, wenn jeder gleichmäßig durch Arbeit verbraucht und gleichzeitig durch Geld versklavt, keiner dem anderen mehr etwas antun kann – Ruhe und Frieden herrscht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

 2023. – Wenn die Vorstellung zu sterben und tot zu sein erträglicher ist als die Demütigung einer Arbeit im Büro.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Dada. – Das Heute schafft noch aus dem unsinnigsten Blödsinn eine Ideologie zu machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Das Beständige. – Wenig auf dieser Erde ist ewig und bleibt über die Zeit hinweg erhalten. Bildung nicht, Geschichte nicht, Bräuche nicht, Sitten nicht. Ewig bleiben Dummheit, Eitelkeit, vielleicht Liebe und Spaß, Tränen und Dunkelheit, weil sie Familie sind.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Theater. – Im unerträglichen Theater unserer Zeit will jeder die Guten, die Superhelden spielen und niemand die Bösen. Ihre Zahl ist deswegen zu klein und die der Guten zu hoch. Damit verflachen beide Seiten ungemein und es entsteht die billigste Seifenoper. Wären wir nicht musikalisch begleitet, wir wollten nach Hause gehen, an den Schreibtisch und unsere Charaktere nochmal gründlich überdenken und -arbeiten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Mädchen mit einem Korb Erdbeeren. – Das Wetter ist schön. Ich würde eine junge Frau gegen einen Korb Erdbeeren eintauschen, mir ist sklavenherrisch zu Mute.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Gehe denen aus dem Weg, die keine Sympathie für Komplexität erkennen lassen. Der Unwille zum Komplexen ist der trotzige Halt der Haltlosen und der Jungbrunnen der Verbitterten.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 26)

Umgedrehter Nietzscheanismus: Die letzten Menschen als diejenigen, die es auf sich nehmen wollen, die letzten Dingen immer wieder zu durchdenken, ohne an den Abgründen zu zerbrechen, die sich dabei öffnen. Ein besseres Beschreiben erzeugt ein Vertrauen, das mit Normalität impft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 25)

Das Ende der Geschichte kann auch gedacht werden als eine Ohnmacht der alten Deutungen in neuen Verhältnissen. Daher wird der historische Sinn gerne kulturkritisch: Da er sich keinen Reim mehr auf die Lage machen kann, werden die Dinge als katastrophisch interpretiert, anstatt die Sicht auf die Dinge zu revidieren.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 24)

Geist als Betrieb: Als museale Hochkulturmode, als andenkenlose Betriebswirtschaft oder als ressentime Kulturkritik-Industrie.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 23)

Wenn man wieder kreativ sein muss. – Wenn der heutige Kulturmensch keine Idee mehr hat, greift er in die Tastatur und schreibt etwas über die Rolle der Frau, BiPoC oder sonst etwas in der Richtung und kommt sich dabei in seiner Armseligkeit nicht nur rebellisch und progressiv vor, sondern wähnt sich auch als kreativ, wenn er mal wieder über die Rolle der Mutter im Patriarchat spricht.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fitness. – Ich kann die aufgepumpten jungen Männer mit ihren hantelgroßen Wasserflaschen und Proteinpülverchen nicht mehr sehen. Soll sich in diesen Figuren der feuchte Traum Nietzsches von der Selbstüberwindung des Menschen, seines Körpers und physiologischen Organismus in Form der kommodifizierten Selbstquantifizierung vollends erfüllt haben?

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Sichtbar durch Agitation. – Der Mensch ist das schöne Tier und, ist er wohl versorgt, von außen immer würdevoll. Das will nicht mehr sagen, als dass die Hülle, die die Natur ihm gibt, auch schon das meiste ist und im inneren Hohlraum, fast nur Schatten.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Wissenschaftliche Erlösung: Nach einer neuen Erkenntnis der Gehirnforschung ist es unmöglich, zugleich Angst zu haben und zu singen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 22)

Wer die Möglichkeit des Untergehens ständig für realistisch hält, hat es nötig, sich vor sich selbst unauffällig in den Imaginationen des Schlimmsten zuspüren. Der Mangel des Glaubens an sich wird kompensiert mit dem festen Glauben an die Katastrophe.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 21)

Karriere machen, ohne den Verdacht des Egoismus auf sich zu ziehen, anstrengungslos, unterambitioniert. Aber doch das Verlangen, gesehen zu werden in der bemühten Mühelosigkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 20)

Er verzichtete, aber er sah ganz genau hin, wie viel der bekam, der nicht verzichtete. Der schielende Verzicht hat die schärfsten Augen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 19)

Sinn ist der Ersatz für fehlende Initiative. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, wird offen für die Erfindung von Gründen, wer an seinem Zustand schuld sein soll. Die Langeweile der Haltlosen wird zum Verbrechen der Vitalen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 18)

Philologe sein. – Permanentes Standgericht.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Weil es Mut braucht, sich Künstler zu nennen. –  Kunst ist das Gegenteil von Angst.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Leipzig. – Neben einem anarchisch aus dem Fenster hängenden Banner mit der Aufschrift „Lützi bleibt“, das an Klassenkampf, Demo, Streik, Widerstand und Molotov gemahnt, steht das Hauptversammlungshaus der städtischen Kleingartenvereine. Noch zwei Häuserblöcke weiter, ein Yoga-Studio.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Kreative ist nicht apolitisch. Er interessiert sich nicht einmal für Politik. Erst wenn die Räume enger werden, die ihn animieren, beginnt er sich politisch zu engagieren aus apolitischen Motiven.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 17)

Der Verlierer denkt: „Die Wahrheit, die meinen Sieg verhindert, muss Lüge sein!“ Der Sieger denkt: „Solange ich den Sieg nötig habe, habe ich noch nicht gewonnen.“

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 16)

Wer lange genug allein ist, will sich selber nicht mehr verstehen. Darin liegt die Möglichkeit einer reifen Gedankenlosigkeit. Man treibt dann noch Philosophie wie man Jahreszeiten erlebt. Begriffe und Satzfolgen kommen und gehen wie Kastaniengrün und Septemberhimmel.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 15)

Im gelingenden Bewundern überwindet man sich zu sich. Die Unfähigkeit zur Einzigartigkeit steigert den Drang zur Zugehörigkeit. Wenn Konsens zum Kommando wird, wird Freiheit zur Ungerechtigkeit. Diversität als Inklusivität wäre die bereichernde Teilhabe an Liberalität, deren Bewundern man nicht teilen muss. Der Zustand eines vielfachen Desinteresses ist keine Entfremdung oder Ausbeutung. Wer seine Disziplin gefunden hat, verachtet den Einfallsreichtum der Schuldsuche.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 14)

Früher entsprach der Wahrnehmung der Schönheit das Kompliment. Heute scheint es so, als wäre es das Zeugnis einer fortgeschrittenen Form der Anständigkeit, sich dafür zu schämen, diesen Reflex der Entzückung bei sich überhaupt wahrzunehmen.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 13)

Die Freudlosen werden leicht die strengen Apostel eines Sinns des Lebens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 12)

Das Gewissen wächst im Horchen auf das Bewirkte. Es formt sich als Ohr der Reue.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 11)

Seine Entscheidungen infrage zustellen, steigert den Sinn für Verantwortung. Man weiß nie, was man alles getan hat. Die Unabsehbarkeit des Anrichtens weist auf die Reue als ständige Option. Daher ist alles Handeln ein Akt der Reuelosigkeit, den man hofft, verantworten zu können.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 10)

Hilflosigkeit: Der letzte Stolz.

(Michael Meyer-Albert, Neue Pfeile und Sprüche, 9)

Die Krise lehrt weite Gedanken oder sie verleiht die zweifelhafte Stärke zu einer unschönen Exzentrik.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 8)

Im fehlerhaften Menschen genießt Gott seine Unfehlbarkeit. Im unfehlbaren Gott erträgt der Mensch seine Fehlbarkeit.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 7)

Wer das wilde Leben nötig hat, denkt nicht wild genug. Golden, treuer Freund, ist alle Theorie. Und fahl des Lebens grauer Baum.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 6)

Erst der Wille zum Nichtwissen erlaubt eine Verkörperung der Wahrheit. Das Wort darf nicht ganz Fleisch werden.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 5)

Poesie. –  Eine Definition: Die Summe all’ dessen, was keine öffentliche Redaktion, die auf ihren Ruf, ihr Image und Inserate achten will, veröffentlichen würde.

(Jonas Pohler, Aus der Literatur)

Fortschritt. – Wenn die Städter auf das Land und seine der Vergangenheit Zeit entstammenden primitiven Sitten süffisant herabblicken, blickt die Zukunft gehässig auf sie, die Idioten, herab.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Der Glaube daran, dass es keine Wahrheit gäbe, ist selbst wieder eine Wahrheit, die es auf Dauer nicht mit sich aushält. Zweifel wird dogmatisch, depressiv oder paranoid.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 4)

Die Einsamkeit des Philosophen ist seine gute Gesellschaft.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 3)

Wissen ist Ohnmacht. Die Mutigsten beherrschen die Kunst des Vergessens.

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 2)

Von nichts kommt nichts? Wäre dann der, der nichts tut, schuldloser?

(Michael Meyer-Albert, Neue Sprüche und Pfeile, 1)

Nietzsche. – Es geht darum Zündkerzen in den Zeitgeist zu setzen. Entzünden sollen sie andere! Wie im menschlichen Körper ein winziger, brennender, strahlender, leuchtender Kristallsplitter Wahrheit in ein System eingesenkt reicht, um ein Gerinnsel und einen Schlaganfall auszulösen.

(Jonas Pohler, Zärtliches und Bedenkliches)

Rotten, Tribalismus. – Der*Die Deutsche ist Neurotiker*In und chronifiziert, staatlich anerkannt feige. Talent ist in Deutschland rar gesät.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Ablehnung. – Man darf nicht vergessen, dass selbst in dem „je te déteste“ oder „tu me détestes“ eine Form von Beziehung steckt. Sie ist nicht Indifferenz, sondern eine Form von Wille, Wunsch oder Velleität des Dialogs.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Schlagfertigkeit. – Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welche geringen Anlässe die Menschen benutzen, um einer den anderen zu demütigen oder auch nur sein kleines Mütchen am anderen abzukühlen. Dennoch: Auch aus der Ablehnung kann noch eine Lust über das eigene Wachstum, eine Lust an der Ablehnung entspringen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Smalltalk. – Aus oberflächlich und anfänglichen Gesprächen lernt man manchmal Leute kennen (oder erzeugen diese Gespräche ihre Menschen?), die, wenn man ihnen zuhört, genau demjenigen Menschenbild der Konkurrenz entsprechen, von dem die Lehrbücher der Ökonomie scheiben, und es gruselt einen. – Ein Scherz, bitte ein Scherz, nur einen, fleht man innerlich! Und zeig mir, dass es ein Mensch ist! – Man einigt sich auf einige Statusmodalitäten der Berufswahl und stellt einige politische Ansichten zur Schau.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Im Dreck spielen. – Im menschlichen Verkehr liegt doch etwas Dreckiges. Die ganze Summe aus Verlogenheit, Untreue, Illoyalität und Machtspielen, die ihn so unappetitlich, aber gleichzeitig schmerzlich wie unerlässlich machen.

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Kleinlichkeit. – Am Ende des Tages – und man glaubt es kaum – kommt es genau auf die Frage an: Willst du Kaffee oder Tee trinken? – Daran entscheidet sich alles! Ich habe mal eine Frau kennengelernt,die nicht mit der Gewohnheit vertraut war, morgens einen Tee oder Kaffee zu trinken. Sie machte sich schlicht keine Gedanken darum, trank vielleicht mal ein lauwarmes Glas Wasser. Sie ist mir dadurch unheimlich und suspekt geworden. – Einen Tag nachdem ich das geschrieben hatte ging mir mein Wasserkocher kaputt. (Höchste göttliche Ahnung!)

(Jonas Pohler, Kleinliches aus dem idiotischen Leben)

Fähigkeit der Vision. — Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man der Vision — das heisst einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“ — gewiss! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

(Nietzsche, Morgenröthe, 66)

„Alle Wahrheit ist einfach.“ — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? —

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 4)

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